Kapitel 68

Für manche Dinge im Leben braucht es vor allem eins: Zeit.

Als Donner sich über die reglose Anne beugte, wusste er, dass ihr nicht mehr viel davon übrig blieb. Sie verblutete. Ihre Atmung wurde schwächer und schwächer.

Umgeben von Mord, Gewalt und Jammer fühlte Donner ihren Puls kaum noch. Mit dem linken Arm stützte er vorsichtig ihren Nacken, mit der freien Hand wischte er ihr Blut und Haare aus dem Gesicht.

Sie schläft bloß …

»Tu mir das nicht an!«, flehte er und eine Träne lief seine Nase hinab. Auf den Lippen schmeckte sie salzig und bitter. Er weinte wirklich um sie. »Wenn du mich verlässt, werde ich nie wieder aufstehen! Hörst du?« Er schüttelte sie zaghaft.

Vor Wut und Angst biss er die Zähne aufeinander. Er sah Lichtenberg nach, der wild entschlossen vorwärtsschlich. Donner wollte ihm helfen, aber Anne war ihm wichtiger. Ohne sie wollte er nicht weiterleben. Sie hatte ihn aufgebaut, ihm neue Hoffnung gegeben. Für sie hätte er alles getan.

Wütend bildete er eine Faust. Am liebsten hätte er auf ihren Brustkorb getrommelt. Wie bei einer batteriebetriebenen Puppe, deren Motor stockte.

Gerade als er den Arm hob, japste sie schwach.

»Anne!«

Ihre Augenlider flatterten. Sie stöhnte vor Schmerzen. Die Wunde war nah an ihrem Herzen. So viel Blut. Er hatte sich nicht getraut, es wegzuwischen, um sie nicht noch mehr zu verletzen.

»Er…«, versuchte sie seinen Namen auszusprechen.

Donner nickte und gab ihr zu verstehen, dass sie nicht sprechen musste. »Es wird alles gut.« Doch er glaubte selbst nicht daran. »Der Arzt ist unterwegs.«

Hoffentlich stimmte das. In der Zwischenzeit sollte sich das Blutbad herumgesprochen haben. Jeden Augenblick würden die Sanitäter in das Gebäude stürmen.

Nein, verdammt, tun sie nicht!

Nicht, solange der Amokschütze lebte. Keiner der Rettungskräfte durfte sich in Lebensgefahr bringen. Demnach würde medizinische Versorgung erst eintreffen, wenn die Polizei Entwarnung gab.

Voller Verzweiflung über die Bedrohung, die über allem schwebte, sah er ihre schreckgeweiteten Augen. Ihre Lippen bewegten sich. Kein Ton verließ ihre Kehle.

»Gott, ich liebe dich!«, wisperte er. Ihm mangelte es an Worten.

Dann bemerkte er, wie sie nach ihrer Pistole tastete, die einen halben Meter entfernt lag. Donner sah sofort, dass das Magazin fehlte. Folglich verstand er nicht, was sie mit der Waffe wollte.

Selbst im Sterben bist du eine resolute Frau.

»Eine …«, drang es krächzend aus ihrer Kehle hervor.

Er wusste nicht gleich, was sie ihm sagen wollte, doch dann fiel es ihm ein, dass sie die letzte verbliebene Patrone im Lauf meinte. Der Kontrollstift stand nach draußen. Verdammt, es befand sich noch ein einziger Schuss in der Waffe! Wollte sie sich damit umbringen?

»Töte …«, stammelte sie.

»Hör auf zu reden!«, ermahnte er sie. »Spar deine Kräfte!«

»… ihn!«

Meissner töten! Ja, das wollte er gern. Aber mit einem Schuss? Er griff nach der P7.

Du überschätzt meine Fähigkeiten gewaltig.

Und schon gar nicht wollte er sie allein zurücklassen.

»Geh …« Sie hauchte das Wort bloß.

»Nein!«

Doch es lag nicht in seiner Macht, das zu entscheiden. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Lichtenberg in das Zimmer des Dezernatsleiters am Ende des Ganges stürmte. Noch im selben Atemzug brach der Hüne zusammen. Direkt im Türbereich. Donner wusste, dass Meissner schneller gewesen war. Und das bedeutete, dass der Killer mit seinem bestialischen Werk fortfahren würde. Unaufhaltsam.

Donner musste ihn stoppen.

Ein letztes Mal zwinkerte Anne ihm zu und er gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Sie schmeckten nach Blut. Als hätte er ihr mit der innigen Berührung den Lebenshauch geraubt, sackte sie zusammen.

Der Schmerz im eigenen Herzen drohte Donner von innen zu sprengen. Die Wucht des Verlustes wollte ihn zu Boden schmettern. Doch er stemmte sich aus der Erstarrung und der seelischen Verwundung.

Ein Schuss!

Er lief los. Einen schweren Schritt nach dem anderen. Es fühlte sich an, als ginge er zu seiner eigenen Beerdigung. Er wankte. Der Flur glich einem endlos langen Tunnel. Am Ende wartete eine Tür. Entweder zum Verderben oder zur Erlösung. Eine Zwischenwelt gab es nicht. Auch kein Wunderland, wie es Meissner sich in seinem kranken Gehirn vielleicht ausgemalt hatte. Es gab nur noch Donner und Meissner.

Tatsächlich bemerkte Donner einen Schatten im Türrahmen. Der Schatten wuchs. Meissner näherte sich der Tür. Dort, wo Lichtenberg sich vor Schmerzen krümmte. Der Polizeiobermeister kroch zurück in den Flur. Sein Gesicht und seine Hände sahen furchtbar blutverschmiert aus.

Donner befand sich keine zehn Meter entfernt. Den Griff von Annes Pistole hielt er mit beiden Händen umklammert. Beim kleinsten Luftzug würde er den Abzug betätigen. Ein Schuss! Ein einzelner Schuss musste reichen. Lichtenbergs Axt hatte er zurückgelassen. Dort hinten, wo Anne lag. Er würde sie nicht mehr brauchen. Er würde Meissner einfach abknallen.

Noch während er das dachte, ging plötzlich alles ganz schnell.

Meissner zeigte sich. Nur eine Körperhälfte, aber die reichte. Sie musste reichen! Donner war sich sicher, dass er nur eine Chance bekommen würde.

Sein Zeigefinger krümmte sich. Unbeirrt hielt er Kimme und Korn auf den Mann, den er abgrundtief hasste. Es war zu spät für Korrekturen. Der Schlagbolzen löste die Treibladung der Patrone bereits aus. Mit ungeheuerlicher Geschwindigkeit trat das Projektil aus der Pistolenmündung. Den Knall nahm Donner nur als dumpfes Echo wahr.

Asche und alter Zorn
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