Kapitel 51
Jabberwocky.
Kolka saß über die Akten gebeugt und betrachtete die Zeichnung mit dem Ungeheuer. Es war eine Art Drache mit Hasenzähnen. Angeblich hatte Bahrens das Bildnis vor drei Tagen in seinem Briefkasten gefunden und danach sofort in den Müllereimer geworfen.
Er hatte sich keinen Reim darauf machen können. Umso mehr konnte es Kolka. Weller hatte offenkundig auch Bahrens einen Hinweis hinterlassen. Auf die altmodische Art per Brief. Vielleicht, weil Bahrens keinen Computer und auch keine E-Mail-Adresse besaß. Aber warum Jabberwocky? Wenn nicht Erik, sondern Bahrens für diese Figur stand, welche Figur verkörperte dann Erik? Was hatte Kolka übersehen? Oder war Erik nur eine Art Schiedsrichter und sein Leben war gar nicht bedroht? Bisher liefen bei ihm die Fäden zusammen. Ihm hatte Weller die meisten Botschaften zukommen lassen.
»Hier stimmt doch irgendwas nicht«, murmelte sie in die Stille des Büroraums hinein. Zum wiederholten Mal las sie sich das Gedicht aus Alice hinter den Spiegeln durch. Sowohl den englischen Originaltext als auch die deutsche Übersetzung von Robert Scott, in der Jabberwocky Jammerwoch hieß.
Feueraugen!
In beiden Texten kam das Wort Feuer vor. Dadurch kam Kolka zu dem Schluss, dass Weller in Bahrens tatsächlich Jabberwocky sah. Bahrens war der Feuermacher, genau wie das Ungeheuer im Gedicht. Jabberwocky besaß Feueraugen.
Sie nahm den Telefonhörer zur Hand.
Mal sehen, ob ich mir ein paar Kollegen von der Operativen Fahndungsgruppe borgen kann. Eine Observation von Bahrens kann nicht schaden.
Das Telefonat mit dem Leiter vom K43 verlief allerdings ernüchternd. Sämtliche Kräfte waren bis zum Jahresende und weit in den Januar verplant. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass sie eine Frau war und man sie deshalb überging.
Enttäuscht und mit ordentlich Wut im Bauch entschloss sie sich, die Sache an Totner weiterzugeben. Sollte doch ihr Vorgesetzter die Angelegenheit mit dem Leiter vom Dezernat 4 klären. In einer Männerwelt musste man als Frau manchmal die Mitleidstour fahren und die Männer gegeneinander ausspielen.
Als sie aus dem Büro stürmte, rannte sie beinahe Felix Meissner über den Haufen. Im letzten Moment ergriff der Kommissar sie und rettete sich so vor dem Sturz.
»Heute so stürmisch«, sagte er mit einem geschmeidigen Lächeln, das sich zunehmend hinter dem von Tag zu Tag dichter werden Bart verbarg.
Überrascht von seinem Auftauchen bedankte sich Kolka. Fahrig hob sie das Bild auf, welches ihr aus der Hand gerutscht war.
»Jabberwocky«, sagte Meissner.
»Was?«, fragte Kolka.
»Ist das nicht aus Alice? Das Drachenfeuer.« Meissner machte mit beiden Händen eine seltsame Bewegung. Die Geste sollte wohl einen Feuerzauber darstellen. Dann fuhr er sich über den kahlen Schädel, was ihr aufgrund der Narben irgendwie unangenehm war. »Ich habe ein wenig in dem Buch gelesen – angesichts des Irren, mit dem wir es zu tun haben.«
»Ach ja? Anscheinend lässt dich die Arbeit hier nicht los.« Dabei rätselte sie, was er bei der KPI wollte. »Hat man dich etwa auch ins K11 zurückgeholt?«
Diesmal verzog er überrascht die Mundwinkel. »Wie darf ich das verstehen?«
»Es geht um Erik. Man hat ihn ins K11 abgeordnet.«
»Oha, deshalb scheuchen die Mütter gerade ihre Kinder von der Straße.« Er deutete nach draußen. »Und selbst streunende Hunde ziehen bereits die Schwänze ein.«
Kolka machte das klägliche Lachen nicht mit. Berührungslos rauschte der Galgenhumor an ihr vorbei.
Meissners Gelächter kam ins Stocken. »Monster ist also zurück.« Das Grinsen verschwand nun vollends. Er nahm Haltung an und legte beide Daumen auf seine Gürtelschnalle. »Tja, anders als ich landet er doch immer wieder auf den Beinen. Wie eine Katze. Zwar soll auch ich mich beim KPI-Leiter melden, aber den Helden darf ich dort nicht spielen. Da eure Abteilung völlig überlastet ist, sucht man Leute, die den Bereitschaftsdienst für die Nachtschicht abdecken. Sie sollen Erfahrungen mit Leichen haben. Schätze, ich bin qualifiziert genug.«
»Also übernimmst du die Rufbereitschaft der nächsten Tage?«
»Natürlich wäre es mir lieber, ich könnte Weller mit euch jagen, doch ich will mich nicht beschweren. Wenn ich schön mitspiele, bekomme ich später möglicherweise auch eine zweite Chance im K11.«
Darauf wollte Kolka keinesfalls wetten, aber in diesem Männerhaufen war mittlerweile alles möglich. Am Ende würde Moll noch auf Knien rutschen und Meissner um Vergebung anflehen. »Vielleicht bleibst du auch einfach dort, wo du bist, Felix.«
»Wie war das?«
»Vergiss es, das ist mir nur so rausgerutscht.«
»Weshalb so aggressiv?«
Ja, warum eigentlich? Weil ich von Männern umgeben bin, die Scheiße am laufenden Band produzieren und denen man trotzdem immer wieder den Hintern tätschelt. Natürlich von anderen Männern. Und wir Frauen, die wir uns den Arsch aufreißen, hält man für die Quotentussis im Job.
»Du hast uns die Scheiße mit Weller eingebrockt!«, brach es aus ihr heraus. »Hättest du nicht auf eigene Faust gehandelt, würden unsere Kollegen noch leben. Ich verachte dich!«
»Und du solltest mehr lächeln. Die Falten auf deiner Stirn machen dich hässlich.«
»Fein, damit hätten wir wenigstens eine Gemeinsamkeit.«
Shit, das wollte ich nicht sagen!
Direkt nachdem es ihr rausgerutscht war, bereute sie ihre Entgleisung.
Jetzt näherte sich Meissner mit seinem Gesicht dem von Kolka. Seine Halsmuskeln waren zum Zerreißen gespannt. Mit dem Zeigefinger zeigte er auf sich. »Ich habe euch Weller auf dem Silbertablett serviert. Schieb mir nicht die Verantwortung für das Versagen anderer zu. Bin ich etwa schuld, dass er aus der Zelle abgehauen ist? Willst du mir das ernsthaft vorwerfen?«
Sie begriff, dass sie Meissner als Blitzableiter für den Stress auf der Arbeit benutzt hatte. Doch für eine echte Entschuldigung war es wohl zu spät.
»Da fällt mir ein, hast du dich schon beim K41 gemeldet?«, flüchtete sie sich in eine Sache, die ihr rechtzeitig einfiel. »Die Kriminaltechniker brauchen deine Vergleichs-DNA.«
»Meine DNA?«
»Wegen der Axt, mit der Weller dich in der alten Gießerei bedroht hat. Bei deiner ersten Befragung hast du angegeben, er wäre mit der Schneide über dein Gesicht gefahren.«
»Ach ja, daran habe ich gar nicht gedacht.« Er straffte seinen Designeranzug und ließ sie stehen. »Ich werde mich umgehend bei denen melden – nachdem mir der KPI-Leiter den Arsch geküsst hat.«