Kapitel 22
Donner breitete die Tageszeitung auf dem Wohnzimmertisch aus. Beim Überfliegen der Seiten überlegte er, ob er wegen seiner anhaltenden Kopfschmerzen zum Arzt gehen sollte. Nach ein paar Minuten kam er zu dem Entschluss, dass die Schmerzen unmittelbar mit der Kriminalpolizeilichen Erstkontaktstelle zusammenhingen. Jeden Tag rannten ihm frustrierte Bürger die Bude ein. Ein solches Begängnis musste sich zwangsläufig auf die Psyche eines vernünftigen Menschen auswirken.
Er sprang auf, öffnete im Bad den Spiegelschrank und schluckte zwei Aspirin ohne Wasser. Während der bittere Geschmack auf seiner Zunge zerging, fand er, dass der heutige Tag sogar noch schlimmer verlaufen war als der gestrige. Begonnen hatte es pünktlich um 08:10 Uhr, als ein zappeliger Bürger sich bei ihm beschwert hatte, dass Satanisten ihn mit sogenannten E-Waffen und Skalarwellen Stimmen in den Kopf pflanzten. Eine medizinische Ursache hatte der Beschwerdeführer konsequent ausgeschlossen.
Weil kein gutes Zureden half, hatte Donner ihm versprochen, beim Technikdezernat nachzufragen, ob bei denen auf dem Dachboden noch so ein Strahlenmess-Dingsbums herumlag. Das hatte den Hektiker einigermaßen beruhigt. Nach sieben weiteren Querulanten hatte Donner das Büro geschlossen und war nach Hause gefahren.
Nach der Tabletteneinnahme schlich er zurück ins Wohnzimmer, nahm einen Aktenordner aus einem Schrank und ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach: das Sammeln von Zeitungsausschnitten, die von polizeilichen Ereignissen berichteten. Neben dem aktuellen Fall um den Drehbuchautor Carl Weller interessierte er sich seit gestern besonders für die früheren Taten des Brandstifters Peter Bahrens. Der Mann, der Malte fünf Euro für ein skurriles Foto gegeben hatte.
Leider fand Donner im Ordner für das laufende Kalenderjahr nur einen Artikel von gerade einmal sieben Zeilen. Die Randnotiz berichtete von Bahrens’ Entlassung aus der JVA. Ein Skandal, wenn man bedachte, dass der Kerl über einen Zeitraum von zig Jahren mehr als zwanzig Objekte im Stadtgebiet angezündet hatte. Der Bahnhof-Mitte war ihm schließlich zum Verhängnis geworden.
Auch beim weiteren Durchblättern des Privatarchivs fand Donner wenig zum einstigen Brandstifter. Möglicherweise wusste das Internet mehr. Versuchshalber startete er den Computer, aber dann kam ihm eine bessere Idee. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer seines Vaters, brach jedoch sogleich ab, als es an der Tür läutete.
Donner sah auf die Uhr. Schon nach neunzehn Uhr. Bestimmt war es Anne.
Er roch an seinem Shirt, säuberte mit der Zunge die Vorderzähne und lief durch den Flur. Als er die Wohnungstür öffnete, stand allerdings Malte vor ihm.
»Was machst du hier?«, fragte Donner und sah an dem Jungen vorbei, ob er allein kam.
»Bei meiner Mutter wird es wieder mal später. Aber du hast gesagt, ich könne jederzeit bei dir vorbeikommen.« Er verzog das Gesicht zu einer unschuldigen Grimasse, wie es nur Teenager konnten. »Tja, wie es aussieht, werden wir wohl noch eine Weile miteinander auskommen müssen.«
»Auskommen …«
»Na ja, ich habe entschieden, dass du gar nicht so uncool bist.«
Das erheiterte Donner nicht im Geringsten. Er fühlte sich überrumpelt …
… und ein wenig verarscht.
Als er Malte das Angebot gemacht hatte, hatte er niemals damit gerechnet, dass dieser ihn tatsächlich besuchen würde. Verunsichert spähte er hinter sich und gab dadurch den Blick auf einen Flur frei, in dem ein verstreutes Sockenpaar, ein Ladekabel, ein kaputter Regenschirm und jede Menge Disney-DVDs und Comics herumlagen. Die Filme von seiner verstorbenen Tochter und die Hefte aus seiner Jugend wollte er schon seit Wochen in den Müll verfrachten.
»Wow, hier wohnt also Wolverine«, sagte Malte.
»Wolverine?«
»Kennst du nicht?« Malte bildete mit den Fingern Krallen und fauchte wie ein Raubtier. »Wolverine! Der Superheld mit den Klingenhänden. X-Men und so …«
»Wer Wolverine ist, weiß ich.« Donner ließ Malte eintreten. »Aber wieso bezeichnest du mich so?«
»Ach, keine große Sache. Meine Mutter hat dich mal so genannt. Ich glaube, da war sie beschwipst.«
Er hielt Malte am Arm fest, beugte sich leicht zu ihm runter und betrachtete sein Gesicht genauer. »Was ist mit deiner Lippe passiert?«
Ohne große Kraftanstrengung riss sich Malte los und hielt die Hand vor die aufgeplatzte Unterlippe. »Hab deinen Tipp befolgt und mich gegen die Gang aus meiner Klasse gewehrt.«
Donner verstand. Malte war als zweiter Sieger aus der Auseinandersetzung rausgegangen. »Erste Wolverine-Lektion: Am Anfang bekommst du immer aufs Maul.« Donner konnte sich ein Feixen nicht verkneifen. »Verrate deiner Mutter nicht, dass diese Weisheit von mir stammt. Vom Boxen und derlei Dingen hält sie nämlich gar nichts.«
Malte seufzte. »Ich weiß.«
Beide standen eine Weile mit den Händen in den Hosentaschen da. Scheinbar wusste Malte genauso wenig wie Donner, wie er sich verhalten sollte.
»Möchtest du was essen?«, fragte Donner und lief in die Küche. Er kehrte mit einer Chipstüte zurück. »Ich wollte mir gerade ein paar von den Dingern genehmigen.«
»Nee, lass mal! Wusstest du, dass Wolverine Vielfraß heißt?«
Nein, das wusste Donner nicht. Er hatte die Tüte bereits aufgerissen, entschied sich jedoch im selben Moment, nicht hineinzugreifen. Vielmehr sah er Malte nach, wie der die Zimmer inspizierte.
»Ist der Rechner aus der Steinzeit?«
»Das siehst du mit einem Blick?«
»Hey, ich bin das Kind von Zockerqueen3000.«
»Ist das der Name, den deine Mutter bei ihren nächtlichen Onlinespielen verwendet?«
»Ja, neben Poisonessel, Drachenlady und Mindbunny.«
Mindbunny?
Donner wollte gar nicht wissen, auf was für Seiten sich Anne damit herumtrieb. Sie war eine erwachsene Frau. Bisher hatte er stets ihre Vernunft bewundert.
»Hörst du auch Kraftklub?«, fragte Malte, als er Donners CD-Sammlung durchstöberte.
Donner schüttelte den Kopf. Hastig räumte er die Hefter mit den Zeitungsausschnitten weg und schaltete den Fernseher ein. »Sieh dich ruhig um, ich muss mal telefonieren.« Er nahm sein Handy und den Miniartikel über Bahrens Entlassung auf und wollte den Raum verlassen. Doch sein angeborenes Misstrauen gegenüber anderen meldete sich sogleich. »Du klaust doch nichts, oder?«
Polternd schlug eine CD-Hülle auf dem Boden auf. Malte stierte ihn mit großen Augen an.
»Schon gut«, lenkte Donner ein. »Ich muss mich erst an die Anwesenheit eines Teenagers gewöhnen.«
Damit ließ er ihn stehen und rief seinen eigenen Vater an. Der nahm auch nach mehreren Rufzeichen ab.
»Was ist denn?«, fragte Franz Donner. »Ich bin in Eile.«
Nach dieser Begrüßung brauchte Donner einen Moment, um sich zu sammeln. Doch zum Nachdenken ließ ihm sein Vater keine Zeit.
»Na, was willst du?«, legte er nach.
»Warum bist du in Eile?«, fragte Donner daraufhin. »Mutter ist zur Kur und du bist Frühpensionär. Also was um alles in der Welt sollte um diese Uhrzeit wichtiger sein als dein Sohn?«
»Hör zu, Freundchen, ich mische mich nicht in deine Angelegenheiten ein und du dich nicht in meine. Klar so weit?«
Donner griff sich an den Kopf, wo die Schmerzen pochten. Ein Teenager und ein Senior waren zu viel für zwei Aspirintabletten. Er besann sich und hob den Zeitungsausschnitt vor sein Gesicht. Schließlich hatte er deshalb angerufen. »Was sagt dir der Name Peter Bahrens?«
»Der Brandstifter? War damals eine große Sache. Seine Brandserie hat mein Dezernat einige Jahre beschäftigt.«
»Genau deswegen rufe ich an. Wusstest du, dass er aus dem Knast raus ist?«
»Kann sein, dass ich davon gehört habe. Und soll ich dir was sagen? Das interessiert mich nicht die Bohne.«
Donner glaubte ihm kein Wort. Immerhin bestanden sie zur Hälfte aus dem gleichen genetischen Material. Polizeiarbeit lag ihnen im Blut.
»Ich denke, er plant etwas Neues.«
Einen Augenblick war Ruhe im Hörer. Dann atmete sein Vater schwer. »Das ist kein ausreichender Grund, um mich zu belästigen. Ehrlich, Erik, du kannst dich nicht um sämtliche Straftäter der Welt kümmern.«
»Es heißt, er hätte sogar eine Kirche angezündet. Dabei soll ein Gottesmann ums Leben gekommen sein.«
»Falsch! Genau diese eine Tat konnte man ihm nie nachweisen. Alle anderen Brände hat er eingeräumt, aber nicht diesen. Selbst der Brandursachenermittler konnte nicht sagen, dass es wirklich Brandstiftung war. Das Feuer hatte ganze Arbeit geleistet, begünstigt durch den massiven Ausbau mit Holz im Inneren der Kirche. Wenn es Beweise gab, sind sie verbrannt. Deshalb hat Bahrens nur acht Jahre bekommen, von denen er sechs absitzen musste.«
»Aha! Du hast die Sache also doch in der Zeitung oder zumindest in den Nachrichten verfolgt.«
Franz Donner schwieg. Die Stille reichte als Antwort.
»Und hat er den Pfarrer umgebracht?«, hakte Donner nach.
»Die Beweise sagen das Gegenteil. Zwar gab es die Aussage von einem Jungen, der ihn während der Bestattung gesehen haben wollte, aber das war eine Luftnummer. Das Kind behauptete zwar Stein und Bein, dass Bahrens der Brandstifter war, aber dafür gibt es keine Indizien. Wenn ich mich recht erinnere, war das Kind ein notorischer Lügner. Der Junge galt als schwer erziehbar und konnte außerdem keinen plausiblen Grund für die Anschuldigung nennen und, was weitaus wichtiger war, mehrere Klinikangestellte haben bezeugt, dass sich Bahrens zum Zeitpunkt des Brandes im Krankenhaus befand. Seine Mutter lag in der Klinik im Sterben. Tja, und in meiner Welt kann niemand gleichzeitig an zwei Orten sein. Was interessieren dich die alten Fälle? Hat er etwas ausgefressen?«
»Noch nicht. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er wieder zuschlagen wird.«
»Du und dein Instinkt. Lass mich mit deinen Hirngespinsten in Ruhe! Ich habe …«
Ein Knall unterbrach das Gespräch. Donner brauchte weniger als eine Sekunde, um zu lokalisieren, dass das Geräusch von der Straße kam. Offenbar Vandalismus. Jemand hatte eine Glasscheibe zerstört.
Er rannte ins Wohnzimmer und schaute zusammen mit Malte aus dem Fenster. Vor dem Haus brannte der Innenraum seines Mitsubishi.