Kapitel 41
Während Kroll vom Dach kletterte, belebten Gitarrenklänge die Umgebung. Als das Schlagzeug einsetzte, kam es ihm vor, als würde der Himmel explodieren. Er musste weg von der Bühne, wenn er keinem Gehörsturz erliegen wollte. Jedes Donnergrollen war gegen diesen Lärm die reinste Verpuffung.
Erschrocken vom Trommelgewitter der Lautsprecherboxen nahm Kroll die letzten Stufen mit einem Satz. Seine Gelenke knackten, aber die kleinen Schmerzen gehörten zum Job. Keinesfalls wollte er zum alten Eisen zählen. Wenn es stimmte, dass sich Weller irgendwo im Umkreis aufhielt, würden sie ihn diesmal schnappen.
Krolls Jagdfieber stieg noch ein paar Grad an. Das Feuer brannte in seinen Adern. Von wegen Todesliste!
Aufmerksam lauschte er den Funkdurchsagen. Keine neuen Erkenntnisse. Dafür brachte die Musik den Asphalt zum Beben. Der Frontmann schmetterte seine Texte wie ein Wildgewordener und die Massen feierten ihn und seine Bandkameraden frenetisch. Die Menschen standen auf Gehweg und Straße verteilt und schauten auf das Flachdach, wo die Beats herkamen.
Unterdessen kämpfte sich Kroll durch das Gewühl der Feiernden. Bei jedem Schritt war er bedacht darauf, ob sich jemand von hinten oder von der Seite anschlich.
Auf einmal ließ sich das ungute Gefühl nicht länger verdrängen. Reflexartig griff Kroll an die Hüfte, ob sich seine Waffe noch an ihrem Platz befand. Gleichzeitig wusste er, dass er bei all den Leuten niemals einen Schuss abgeben durfte. Das wäre Wahnsinn! Aber was, wenn Weller zuerst das Feuer eröffnete und wild um sich ballerte? Schließlich hatte der die P7 von Polizeiobermeister Brand mitgenommen. Dazu sechzehn Patronen, falls er sich nicht über einen dunklen Kanal weitere Munition besorgt hatte …
Pass auf dich auf!, hatte Krolls Frau zu ihm am Morgen bei der Verabschiedung gesagt. Dabei war ihre Hand zur linken Brust gezuckt, weil sie angeblich ein sonderbares Stechen gespürt hatte. Kroll hatte es auf Altersbeschwerden geschoben und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben. Danach war er in seinen Wagen gestiegen und Richtung Polizeidirektion gefahren.
Pass auf dich auf! Der Satz war ihm während der gesamten Fahrstrecke nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Seine Frau machte ihn noch verrückt mit ihrem Theater. Seit der Sache mit den Aufklebern machte sie sich Sorgen. Es wurde Zeit, den Verantwortlichen hinter Gitter zu bringen, damit Kroll und seine Frau endlich wieder ruhig schlafen konnten.
»Dino, da bist du ja endlich«, empfing Lichtenberg ihn, als Kroll den Einsatzwagen erreichte. »Ich habe sämtliche Schutzleute auf die kritischen Punkte verteilt. Exakt nach deinen Vorgaben. Falls er wirklich hier sein sollte, schlüpft er uns diesmal nicht durchs Netz.«
Kroll ersparte sich jegliches Lob. Er wusste auch so, was er an seinem Partner hatte. »Wo ist Monster?«
Lichtenberg deutete in eine Richtung. »Erik und die restlichen Kripoleute haben sich unter die Leute gemischt. Wir kriegen Weller!«
Wenn es ging, vermied Kroll jede Art von Euphorie. Vierzig Dienstjahre hatten ihn gelehrt, wie wankelmütig Glück war. Außerdem hatten sie noch gar nichts erreicht. Er konnte sich schwer vorstellen, dass Weller mit einer Axt durch die Reihen spazieren würde. Vielmehr rechnete Kroll jeden Augenblick damit, dass irgendwoher ein Schuss fiel.
Im Stillen begann er zu beten. Sein letzter Kirchenbesuch lag zwar schon eine Ewigkeit zurück, aber er schwor, es mit dem Glauben wieder ernster zu nehmen, sofern der Tag gut ausging.
»Siehst du was?«, fragte er seinen etwas größeren Partner.
Lichtenberg stellte sich auf Zehenspitzen und schüttelte den Kopf.
»Lass uns mal …«, begann Kroll, doch er wurde mitten im Satz unterbrochen.
»Kollege Kroll, schnell!«
»Meissner?«, fragte Kroll verblüfft.
Der Kommissar mit den Verbrennungen schnaufte, als wäre er erneut durchs Feuer gegangen. »Meine Kollegin … sie ist …«
Kroll wurde ungeduldig. »Hol Luft und rede endlich!«
»Sie war plötzlich verschwunden. Und dann …« Noch immer rang Meissner mit ganzen Sätzen. Erst als Lichtenberg ihn bei der Schulter packte, nahm er Haltung an. »Ich habe Weller entdeckt. Er ist zur Tiefgarage ins Gebäude gegenüber gelaufen. Als ich ihn verfolgte, habe ich meine Kollegin aus den Augen verloren. Und allein wollte ich einem Bewaffneten nicht hinterher.«
»Du hast gekniffen?«, sprach Lichtenberg es pragmatisch aus, während Kroll nur an die Ergreifung des Psychopathen dachte.
»Zeig uns die Stelle!«, befahl Kroll und gab Meissner einen Schubs in die Richtung.
»Wollen wir nicht erst auf Verstärkung warten?«
Mit dem Daumen befreite Kroll seinen Mundwinkel von der überflüssigen Spucke. Anschließend knurrte er, woraufhin Meissner zu verstehen schien.
Zu dritt überquerten sie die Brückenstraße und hielten im Eiltempo auf das Gebäude zu, in dem sich auch Donners Büro befand. In ihrem Rücken setzte der zweite Song ein. Die Massen jubelten, als der Frontmann aus vollem Hals losschrie. Während des Laufens gab Lichtenberg stellvertretend für Kroll eine Warnung an die Einsatzkräfte über Funk raus.
»Warum hast du uns nicht gleich per Funk verständigt?«, fragte Kroll den anderen Kollegen. Im Kopf summierte er die Sekunden, die sie dadurch vergeudet hatten.
Meissner hielt sein Handsprechfunkgerät hoch und schüttelte es. »Das Ding ist kaputt! Es gibt nur Pfeiftöne und ein Dauerrauschen von sich.«
Als Lichtenberg seine Durchsage beendet hatte, fragte ein Funkkenner nach der Beschreibung von Weller.
»Er trägt einen grünen Parka«, berichtete Meissner sofort. »Und eine schwarze Umhängetasche.«
»Eine Tasche?«, wunderte sich Kroll.
»Und ein Basecap.«
Sie erreichten den Eingang zur Tiefgarage. Es war eine Eisentür, an der die graue Farbe abblätterte.
»Siehst du deine Kollegin irgendwo?«, fragte Kroll.
Meissner sah sich um. Er verneinte und verfluchte sich lautstark für seine Nachlässigkeit. »Vielleicht ist sie ja nur im Menschengetümmel abgetaucht.«
»Okay, behalten wir einen kühlen Kopf«, beruhigte Kroll ihn. »Du bleibst hier am Eingang und führst die Kräfte nach. Zwei Leute sollen die Einfahrt sichern, der Rest bewacht die übrigen Ein- und Ausgänge, bis ich neue Anweisungen gebe. Klar so weit?«
»Sollte ich nicht mitgehen?«, fragte Meissner. »Zu dritt haben wir …«
»Warten!«, brauste Lichtenberg auf und riss seine Pistole aus dem Holster.
Angespannt bis in die Fingerspitzen legte Kroll die Hand auf den Türknauf. Sein Partner nickte. Das Zeichen, dass er bereit war.
Gemeinsam betraten sie die Düsternis.