Kapitel 29

Entgegen jeglicher Funkdisziplin überschlugen sich auf dem Einsatzkanal die Stimmen. Dutzende Polizeikräfte plärrten Statusmeldungen über Funk, gleichzeitig versuchten einige Führungskräfte die Befehlshoheit zurückzugewinnen. Ein solches Durcheinander hatte Kroll in all seinen Dienstjahren nur einmal erlebt. Bei einem Amoklauf irgendwann vor acht oder neun Jahren. Ein Übungsszenario, wohlgemerkt!

Das hier war dagegen bitterböser Ernst. Die Mobile Funkaufklärung hatte das Handy der Polizeipräsidentin mittels IMSI-Catcher geortet. Das Signal kam unzweifelhaft aus einem Bürogebäude in der Innenstadt, direkt gegenüber dem Staatlichen Archäologiemuseum.

Die Beamten vor Ort standen sichtbar unter Anspannung. Jeder bereitete sich auf einen möglichen Zugriff vor. Auch wenn die Chancen, Carl Weller festzunehmen, bei höchstens zwanzig Prozent lagen, war nicht auszuschließen, dass sich die Zielperson im Objekt befand – zusammen mit Hunderten Unschuldigen.

Während der Leiter Führungsstab, Andresens Stellvertreter, das SEK im Stadtzentrum befehligte, stellte eine Meldung der Hubschrauberbesatzung das Geschehen komplett auf den Kopf.

»Wir haben das Fahrzeug der Polizeipräsidentin entdeckt. Es steht mitten in einem Maisfeld.«

»Hast du das gehört?«, fragte Krolls Partner Ben Lichtenberg, der sogleich das Gaspedal durchdrückte.

Kroll nickte. Er griff zum Funkgerät, um sich beim Einsatzleiter für die sofortige Überprüfung anzubieten. »Ich bin alt und werde langsam senil, aber bei meinem Gehör werden Fledermäuse neidisch.«

»Alles klar, Batman.«

»Was hast du gesagt?«

Kroll entging nicht, dass Lichtenberg so tat, als hätte er die Frage nicht verstanden. Mit verbissener Miene und beiden Händen am Lenkrad kurvte der durch den Stadtverkehr. Bei jedem Schlenker warf es Kroll auf dem Beifahrersitz hin und her.

Unter Nennung des taktischen Funkrufnamens meldete er sich in den Einsatz. »Wir übernehmen die Suche im Feld. Brauchen genaue Zielzuweisung!«

»Empfangen!«, quittierte der Funksprecher beim Führungspunkt und fügte nach kurzer Sprechpause an: »Wir schicken Ihnen Revierunterstützung.«

»Das Feld liegt in der Gemarkung Berbisdorf«, konkretisierte ein Beamter vom Hubschrauber aus. »Es grenzt unmittelbar an die B95.«

Mit einem schnellen Blick auf die Uhr schätzte Kroll die Fahrzeit ab. »Wir sind in weniger als fünfzehn Minuten da.«

Nach und nach meldete sich die Unterstützung an. Einsatzkräfte, die man Kroll zuteilte. War er zuvor noch pikiert gewesen, dass ihn der Leiter Führungsstab bei dem SEK-Einsatz außen vor gelassen hatte, blühte er nun vollends auf. Endlich bekam er eine Aufgabe, die seine Position als Außendienstleiter unterstrich. Das war auch richtig so, denn gewöhnlich übernahm er die Führung bei Ad-hoc-Lagen, also bei Einsätzen, bei denen es um alles ging. Mit dem aufgefundenen Mercedes von Lotte Andresen konnte er sich einmal mehr auszeichnen. Vorausgesetzt, sie kamen nicht zu spät.

Lichtenberg schaffte die Strecke in knapp dreizehn Minuten. Als Kroll aus dem Wagen sprang, stieg ihm als Erstes der Geruch von verbranntem Reifengummi in die Nase. Danach sog er den Duft von vollen Maishalmen ein. Während der Hubschrauber über ihren Köpfen kreiste, trat Lichtenberg hinter ihn.

»Scheinbar hatte Erik Donner doch recht. Er hat etwas von einem Maisfeld erwähnt.«

Bevor Kroll antwortete, zündete er sich eine Zigarette an. »Hoffen wir, dass Monster falschliegt!«

»Ja, andernfalls könnte das hier ziemlich mies enden.«

Kroll betrachtete den Mais, der gut drei Meter in die Höhe stand. Donner hatte Stark den Hinweis gegeben, dass im Film Lebenslang tot das zweite Opfer in einem Maisfeld ermordet wurde. Aber man hatte ihm nicht geglaubt. Die Entscheidungsträger der Polizeidirektion hatten argumentiert, dass Wellers Flucht kein verdammter Film sei und obendrein Polizeiobermeister Willi Brand bereits das zweite Opfer darstellte. Außerdem hatte die Handyortung einen anderen Zielbereich ergeben. Das Signal kam eindeutig aus dem Bürogebäude in der Innenstadt. Doch nun deutete alles darauf hin, dass Donner mit seiner Theorie gar nicht so falsch lag.

Kroll nahm einen tiefen Zug von der frisch angezündeten Zigarette und fluchte. Irgendwo in diesem Feld stand Andresens Wagen. Und falls Weller dahintersteckte, hatte er diesen Platz nicht ohne Grund ausgesucht. Das zumindest verriet Krolls Bauchgefühl.

Über die Bundesstraße lärmte Sirenengeheul. Mehrere Funkwagen brausten den Feldweg entlang und couragiert aussehende Beamte stiegen aus den Fahrzeugen. In den Gesichtern der Streifenbeamten konnte Kroll lesen, dass sich ausnahmslos jeder Sorgen um die Polizeipräsidentin machte. Egal, welche Personalentscheidungen sie in ihrer Laufbahn getroffen hatte, niemand wünschte ihr, dass sie in die Hände eines Psychopathen geriet.

»Wir nähern uns dem Fahrzeug als geschlossene Kette«, bestimmte Kroll.

Die Anwesenden nickten.

»Der Hubschrauber zeigt uns die genaue Position. Niemand läuft vor seinem Nachbarn, alle bleiben auf Sichtkontakt. Klar so weit?«

Wie erwartet fand er im Kopfnicken seiner Leute die Bestätigung.

»Und vor allem brauche ich keinen, der unkontrolliert rumballert.«

Nach diesem Schlusssatz überprüfte jeder die eigene Ausrüstung. Keiner wusste, was sie im Feld erwartete. Angesichts der Luftunterstützung war es wenig wahrscheinlich, aber unter Umständen liefen sie direkt in eine Falle. Doch Kroll dachte nur daran, Andresen lebend zu finden. Niemand raubte ihm einfach so die Präsidentin.

Als ordentlicher Trupp aus sieben Männern und drei Frauen kämpften sie sich durch das Maisfeld. Während Lichtenberg die Pistole in aufmerksamer Sicherungshaltung vor dem Körper schräg nach unten hielt, steckte Krolls Waffe noch im Holster. Im Fall der Fälle war er damit zwangsläufig Millisekunden langsamer als sein Partner. Trotzdem musste das reichen. Kroll hatte nicht vor, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.

Im zügigen Schritt näherten sie sich der Stelle, zu der sie der Hubschrauber per Funk lotste. Halb verdeckt von Maispflanzen sah Kroll bald die Mercedeskarosse. Er gab das Zeichen zum Vorstürmen.

»Er ist leer!«, rief Lichtenberg, der den Wagen als Erster erreichte.

»Verflucht!«, stieß Kroll leise aus. Umgehend machte er Meldung per Funk.

»Da ist was«, verkündete eine Beamtin plötzlich.

Für jeden erkennbar zeichneten sich Schleifspuren im Erdreich ab. Dazu wirkte der Mais an einer Stelle so, als wäre vor nicht allzu langer Zeit jemand durchgelaufen.

»Könnt ihr etwas von oben erkennen?«, erkundigte sich Kroll beim Hubschrauber.

»Negativ.«

Kroll gab Lichtenberg einen leichten Stups. Er sollte vorgehen. »Zwei Leute folgen uns!«, befahl er zudem.

Hintereinander liefen sie etwa zwanzig Meter. Dann blieb Lichtenberg unverhofft stehen.

»Was hast du?«, flüsterte Kroll.

Lichtenberg antwortete nicht. Er schien zur Statue erstarrt.

Gerade als Kroll eindringlicher nachfragen wollte, bewegte sich die Erde.

»Zur Seite!«, schrie Lichtenberg.

Kroll reagierte rechtzeitig, aber sein Hintermann hatte weniger Glück. Eine Bestie von einem Wildschwein schoss direkt auf ihn zu. Der Berg aus Muskeln, Borsten und Hauern erlegte den Kollegen. Schüsse ertönten. Neben Kroll schlugen die Projektile ein. Ein Beamter, der mitgelaufen war, hatte instinktiv losfeuert.

»Feuer einstellen!«, brüllte Kroll.

»Es kommt zurück!«, hörte Kroll Lichtenberg dazwischenrufen.

Tatsächlich! Die Wildsau war noch nicht fertig. Sie quiekte und machte eine Kehrtwende. Mais fiel, Erdklumpen flogen durch die Luft.

Der Gestank von Morast, Ausdünstung und Angst wurde überwältigend. Ein Teufel ritt durch das Feld. Er nahm es mit vier Polizisten auf.

Mit einem Satz war Lichtenberg über den am Boden liegenden Kroll hinweg. »Aus der Schusslinie!«

Der verletzte Beamte blieb stocksteif auf der Erde liegen. Dafür sprang sein Kollege zur Seite und das Wildschwein nahm Lichtenberg ins Visier. In der nächsten Sekunde würde es den bulligen Mann von den Beinen reißen.

Doch Lichtenberg tauchte mit angelegter Waffe wie ein Supersoldat ab und feuerte. Insgesamt vier Schüsse zählte Kroll. Es konnten auch fünf gewesen sein. Der Zusammenprall war unvermeidlich. Fauchend und röchelnd erfasste das Tier den Menschen. Lichtenberg wurde unter dem Körper des Schweins regelrecht begraben. Und dann regte es sich nicht mehr. Lichtenberg hatte es erlegt. Das Wild lag halb auf ihm. Dampf stieg aus Nase und Wunden. Am Kopf sah man deutlich die Einschüsse.

»Helft ihm!«, kommandierte Kroll, als er sich gefangen hatte.

Mittlerweile waren weitere Schutzpolizisten herzugeeilt. Einen kurzen Moment betrachteten sie hilflos die Skulptur aus Mensch und Schwein. Dann wälzten sie das Tier von Lichtenberg und halfen ihrem Kollegen auf die Beine.

Zu Krolls Erstaunen zeigte sein Partner so etwas wie ein Lächeln. Dabei hätte niemand mit Bestimmtheit sagen können, von wem das Blut stammte, das dick von seiner Stirn lief.

»Nicht unkontrolliert herumballern, habe ich gesagt!«, schimpfte Kroll, weil er das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen. Selbst noch wie unter Schock stehend, wandte er sich dem Kollegen zu, den das Wildschwein mit voller Wucht niedergestreckt hatte. Augenscheinlich würde er es überleben.

»Na los, ruft endlich einen Rettungswagen!«

Fast zeitgleich zerschnitt ein Frauenschrei die Szenerie. Auf die Schnelle hatte Kroll Mühe, die Richtung zu orten. Dann fand er in gut zehn Metern Entfernung die kreidebleiche Kollegin. Sie stand aufrecht und zitternd da, als wäre ein Blitz durch ihre Glieder gefahren. Zu ihren Füßen lag ein nackter, geschundener Frauenkörper.

Diesem fehlte der Kopf.

Asche und alter Zorn
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