Kapitel 13
Kriminalhauptkommissar Henry Stark stolzierte im blauen Jackett durch das Büro. Er fand, dass es perfekt über den Schultern saß und den Bauch ein ordentliches Stück kaschierte. Seine Frau hatte einen vortrefflichen Geschmack. Eigentlich bevorzugte er legere Kleidung, aber als Leiter des K11 musste er mit gutem Beispiel vorangehen – auch wenn er darunter schwitzte und sich allgemein von Sakkos eingeengt fühlte.
Viel schlimmer drückte ihn allerdings das Loch im Magen. Aus dieser Höhle knurrte es. Aber nachdem alle Welt wusste, wer die Tote im Zeisigwald war, brauchte er an ein zweites Frühstück und an das Mittagessen keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Der Ehemann der Toten saß bereits im Raum nebenan und wartete auf seine Vernehmung.
Im Gehen schlang Stark eines von den Fingerfood-Würstchen hinunter, die seine Ehefrau ihm eingepackt hatte. Danach schnappte er sich sogleich die Vernehmungsunterlagen.
Er sprach sich Mut zu, denn von der Vernehmung hing ein schneller Aufklärungserfolg ab. Viel Zeit zur Vorbereitung war ihm nicht geblieben, denn die Journalisten riefen mittlerweile im Minutentakt in der Pressestelle an.
Er verfluchte Annegret Kolka. Noch immer stand ihr Parkplatz auf dem KPI-Hof leer. Und ausgerechnet heute brauchte er sie! Kolka war zwar noch relativ frisch in der Abteilung, aber er hatte schnell gemerkt, dass die Kommissarin Biss und Schneid mitbrachte. Weil sie sich jedoch seiner Anweisung widersetzt hatte, würde er ihr die Hölle heißmachen. Auf folgsame Mitarbeiter legte er penibel Wert. Diese Sorte Kollegen war ihm allemal lieber als eine Draufgängerin.
Stark war fünfundvierzig und leitete das Kommissariat nunmehr seit zwei Jahren. Nur dank akkurater Arbeit und Beharrlichkeit hatte er es geschafft. Er war dort angekommen, wo er immer hinwollte.
Leben und Gesundheit lautete die offizielle Bezeichnung der Abteilung. Zu ihr gehörte die gleichermaßen angesehene wie unliebsame Mordkommission. Die meisten Kollegen vertrugen den Job kein volles Jahr, aber für den Rest war es die Erfüllung der beruflichen Laufbahn. Stark fiel in letztere Gruppe. Jedoch brachte der Leiterposten viel mehr Beschwernis mit, als alle Welt glaubte. Stets stand er im Fokus der Medien und seit Neustem musste er sich auch noch Kritik anhören, dass seine Abteilung zu arglos mit der Geheimhaltung von Daten und Fällen umgegangen wäre. Das führte zu einer Reihe administrativer Umstrukturierungen – und letzten Endes zu Mehrarbeit für ihn. Außerdem drängte das Staatsministerium auf eine personelle Verschlankung der gesamten Polizei. Selbst vor der Mordkommission machte man da nicht halt. Schrumpfende Abteilungen sollten stetig wachsende Aufgabenbereiche abdecken. Die massenhafte Neueinstellung von Wachpolizisten half da wenig. Es war auch niemandem geholfen, indem man Krankenhausleichen und Suizidfälle beim K11 auslagerte und auf den Revierkriminaldienst verteilte. Auf Theoretiker auf diesem Gebiet! Auf Sachbearbeiter, die gar nicht die Erfahrung mitbrachten, weil sie bisher nur Körperverletzungsfälle, Einbrüche und derlei Delikte bearbeitet hatten. Und zwar am Schreibtisch, weil der Berg an Akten vor der Tür sie daran hinderte, auch nur einen Fuß nach draußen zu setzen. Und mit ein paar Lehrgängen, wo Erklärungen zu Fotos von Leichen erfolgten, war es nicht getan. Aber wem wollte Stark das erzählen? Er selbst begehrte gegenüber Vorgesetzten in aller Regel nie auf. Vielmehr schluckte er eine bittere Pille nach der anderen. Ein Wunder, dass er in all der Zeit noch kein Magengeschwür bekommen hatte.
Er sah auf seine Uhr. Felix Meissner wartete im Nachbarraum schon auf den Startschuss. Ausgerechnet Meissner! Ein weiteres Problemthema auf Starks derzeitiger To-do-Liste.
Meissner war letzten Winter Opfer eines Brandattentats gewesen, aber dank des schnellen Eingreifens des Notarztes hatte er überlebt. Obwohl sich Stark kaum vorstellen konnte, dass Meissner nach dem Trauma wieder voll einsatzfähig war, wollte er dem dreißigjährigen Kommissar eine Chance geben. Erstens blieb ihm aufgrund der Personalsituation ohnehin keine Wahl und zweitens war es Teil von Starks Wiedergutmachung. Auch wenn der KPI-Leiter höchstpersönlich ihn von aller Schuld freigesprochen hatte, rumorte in Stark ein schlechtes Gewissen. Vielleicht wäre Meissner niemals verbrannt, wenn er damals andere Entscheidungen getroffen hätte.
Unzufrieden mit der Gesamtsituation ging er hinüber ins Vernehmungszimmer. Auf einen Stuhl gesunken wartete Carl Weller. Der Mann sah nicht wie ein erfolgreicher Drehbuchautor aus. Die Fotos und Videos, die es von ihm im Internet gab, hatte wohl jemand mit Photoshop bearbeitet. Dort machte er bei den Filmpremieren und Pressekonferenzen einen adretten Eindruck. Auch das Haar sah auf den Bildern dichter aus. Nach allem, was man hörte, hatte ihm sein letzter Film einen üppigen Geldsegen beschert. Davon hätte er wenigstens zum Friseur gehen und sich neue Schuhe kaufen können.
Stark begrüßte ihn und stellte sich mit Dienstgrad vor. »Wollen Sie die Jacke lieber ablegen?«
Weller wiegelte ab.
»Es wird länger dauern«, ergänzte Stark und sah den Drehbuchautor ernst an.
Der rückte sich die Brille auf der Nase zurecht.
Schon jetzt zitterte Weller, dabei hatte die Vernehmung noch gar nicht begonnen. Wenigstens überschwemmte er den Fußboden nicht mit effektheischenden Tränen. Das hielt Stark Zeugen wie ihm stets zugute.
»Und?«, wandte er sich an Meissner. Es kostete Stark Überwindung, dem Kommissar in die Augen und damit in das verbrannte Gesicht zu schauen. »Hast du Herrn Weller den Ablauf erklärt?«
Meissner nickte eifrig und hielt die unterschriebene Belehrung hoch. »Er fühlt sich in der Lage, der Vernehmung zu folgen.«
»Gut«, befand Stark und räumte den Kugelschreiber aus Wellers Reichweite. Zufrieden registrierte er den fast vollen Becher mit Wasser. Schon jetzt wusste Stark, dass der Zeuge ihn mehr als einmal leeren würde.
Meissner saß am Computer und wartete. Zuerst hatte Stark überlegt, die Vernehmung auf Video im dafür vorgesehen Zimmer aufzuzeichnen. Letztlich hatte er sich dagegen entschieden. Fürs Erste sollte eine schriftliche Aussage reichen.
Stark verzichtete auf einen Stuhl. Im Stehen blätterte er in seinen Unterlagen. Gleichzeitig beobachtete er Weller, wie der zu ihm aufsah. Nach einer Weile nickte Stark zu sich selbst und stieß ein Brummen aus. Für Meissner das Zeichen, dass es losging.
»Wir haben Ihre Frau, Eva Weller, tot im Zeisigwald gefunden«, kam Stark gleich zur Sache. »Die Identität ist zweifelsfrei geklärt.« Nach dieser Aussage sprach er Weller sein Beileid aus. Dabei behielt er die Hände bei sich.
Weller nahm Blickkontakt zu Meissner auf, scheinbar in der Erwartung, eine bessere Nachricht von ihm zu hören. Doch der Beamte schüttelte den Kopf.
Nach einem Moment der Schockstarre begann Weller doch mit Weinen. Aber der Tränenfluss blieb von kurzer Dauer. Schnell fing sich der Drehbuchautor. Stark wertete den Gefühlsausbruch als echtes Anzeichen für Betroffenheit.
»Sie wirken recht gefasst angesichts der Nachricht.«
»Ich habe geahnt, dass die Polizei demnächst vor meiner Tür stehen wird.«
Meissner tippte die Aussage ins Protokoll.
»Erklären Sie das«, forderte Stark.
»Als meine Frau vorgestern nicht nach Hause kam, habe ich den Notruf gewählt. Doch dort beruhigte man mich, es würde schon nichts passiert sein. Dabei blieb meine Frau niemals die ganze Nacht fort, ohne mir vorher Bescheid zu geben. Nun ist sie tot!« Wellers Tonfall wurde zornig. »Und die Polizei ist schuld! Schließlich habe ich sie sofort als vermisst gemeldet.«
Vorerst wollte Stark nicht darauf eingehen. Die Notrufaufzeichnung war ihm vor knapp einer Stunde übermittelt worden und die Abschrift ließ auf sich warten. Er hatte den Mitschnitt einmal vollständig angehört, doch für ihn hatten sich keine Verdachtsmomente ergeben. Weller klang am Notruf ernsthaft besorgt.
Allerdings hatte der Beamte vom Lagezentrum es ihm auch einfach gemacht. Kritische Nachfragen waren nicht gestellt worden. Der Kollege hatte nur Routinearbeit verrichtet. Streng nach Dienstanweisung, wie jeden Tag. Eine Folge des Stellenabbaus. Nur so war das Arbeitsaufkommen für die Polizei noch zu bewältigen.
»Wir werden das Tonband durch einen Stimmenanalytiker des LKA begutachten lassen, um die Echtheit des Notrufs zu überprüfen«, sagte Stark. Allerdings wusste er nicht, ob er das wirklich tun wollte. Bisher schien es ihm nicht notwendig, doch das musste er dem Zeugen ja nicht auf die Nase binden.
Momentan jonglierte Stark mit anderen Fragenzeichen.
»Besitzen Sie eine Axt?«