Kapitel 2

Zack! Die Axt durchtrennte der Frau die Kniescheibe. Schreiend brach das Opfer zusammen. Über den Erdboden des Maisfelds versuchte die Verletzte sich davonzuschleppen, während ihr Peiniger ihr gemächlich nachlief. Trotz der schweren Wunde am Bein der Frau sah man kaum Blut. Die Kamera hatte rechtzeitig weggeblendet.

Kriminalhauptkommissar Erik Donner saß mit verschränkten Armen im Kinosessel und stierte zur Leinwand. Gedanklich drehte er seinen eigenen Film. Offenbar hatte der Regisseur kein Faible für Knochen und Innereien. Anders als die meisten Hollywood-Blockbuster wirkte der Kinofilm eher wie eine Tatortproduktion auf einer Großleinwand. Das war okay – genau wie die weibliche Besetzung, die als Kommissarin überraschend authentisch rüberkam. Nur beim Hauptdarsteller hätte der Produzent ebenso gut auf einen Neandertaler zurückgreifen können. Der maulfaule Columbo-Verschnitt, der den provinziellen Ermittler mehr schlecht als recht mimte, stammte sogar ursprünglich aus dem Erzgebirge. Aus der Gegend, wo auch die Handlung spielte. Also praktisch direkt im Neandertal. Allerdings hatte der Schauspieler – dessen Namen Donner immer wieder vergaß – seiner Heimat bereits während der Schauspielschule den Rücken gekehrt und war nach Ostfriesland ausgewandert.

Dort soll er mal schön bleiben und weiter Krabben pulen.

Aber gut, für die zweite Hälfte des Films wollte Donner dem Filmkommissar eine Chance geben. Vielleicht stolperte er ja doch über ein Beweisstück. Aber bereits in der nächsten Szene verkrampfte Donner die Finger, als der Ermittler die Wohnung des Täters für eine Routinebefragung betrat und kurz darauf ohne befriedigendes Ergebnis wieder verschwand.

Mann, der Beweis lag doch direkt vor deiner Nase!

Anne, seine Begleiterin und ebenfalls Kommissarin, legte ihm beruhigend die Hand auf das Knie. Sie hatte das Zittern seiner Beine bemerkt.

Donner atmete einmal tief durch. Er wollte sich bessern. Ja, das wollte er wahrhaftig! Er wollte sich gegenüber seinen Mitmenschen verständnisvoller zeigen. Das bedeutete unweigerlich, dass er unter Leute ging. Aus diesem Grund hatte er sich von Anne zum Besuch in dem abgelegenen Klubkino überreden lassen.

»Fuck!«, rief jemand quer durch den Saal.

Donner drehte sich um. Der Gast aus der letzten Bankreihe – dem Aussehen nach ein Intellektueller oder Künstler – fand offenbar auch keinen Gefallen an der Darstellung des Filmkommissars. Aber das gab dem Brillenträger noch lange nicht das Recht herumzuschreien.

Es reichte, dass Donner kurz den Arm hob, damit der Störenfried den Kopf einzog. Donners Aufmerksamkeit wechselte wieder zum Film. Seine Laune besserte sich.

Gewöhnlich mied er die Öffentlichkeit. Zumindest nach Dienstschluss. Nach dem Verlust seiner Familie und einem Sturz vom Dach eines Sechsgeschossers vor ein paar Jahren hatten ihn die Ärzte wie Frankensteins Monster zusammengenäht. Körperlich entstellt und psychisch angeschlagen hatte man ihn nach längerem Krankenhausaufenthalt als Untoten auf die Menschheit losgelassen. Fortan sah er sich als Scheusal in der Zivilisation.

Ein abgefuckter Monsterbulle!

Bei dem Gedanken schielte er zum Nebensitz. Ein Wunder, dass er trotz der äußeren und inneren Unzulänglichkeiten überhaupt eine Partnerin wie Anne gefunden hatte. Hauptsache, er vermasselte die Beziehung nicht.

Eine kleine Weile beobachtete er sie von der Seite. Annegret Kolka! Die Kollegin, die ihm wie eine Diebin das Herz gestohlen hatte. Aber über solche Dinge schwieg er lieber.

»Der Kommissar ist ein Idiot«, flüsterte Donner.

Sie kicherte. »Du meinst, es gibt niemanden, der seine Kollegen wie Aussätzige behandelt?«

Wie ertappt griff Donner nach der Cola zwischen ihnen und schlürfte das Getränk durch den Strohhalm.

»Man hätte den Film mit etwas mehr Blut aufwerten können«, antwortete Anne mit vorgehaltener Hand.

Obwohl er wusste, dass sie oft bis spät in die Nacht abgedrehte Splattermovies schaute, überraschte ihn ihre Auffassung.

»Findest du? Ich halte die Gewaltdarstellung für eine deutsche Produktion auch so schon gewagt«, entgegnete er.

»Um ehrlich zu sein, wirkt der Kommissar auf mich wie ein Weichei.«

»Ich dachte, du stehst darauf, Konflikte mit Worten zu lösen …«

»Fuck!«, ertönte es von hinten.

Donner hatte sich gerade zu Anne hinübergebeugt, um sie am Hals zu küssen. Jetzt nahm er seinen linken Arm von ihr und drehte sich ein zweites Mal um. Wortlos deutete er dem Unruhestifter, der offenkundig ein nervliches Problem hatte, wo sich der Saalausgang befand. Um dem Fingerzeig noch mehr Gewicht zu verleihen, sagte er: »Hör mal zu, du Klotzkopp, ein paar von uns kennen den Film noch nicht.«

Fahrig richtete der Angesprochene seine Brille, entschuldigte sich und blieb dann still sitzen. Vorerst beließ Donner es bei der Ermahnung.

»Nicht mal in diesem Klubkino am Arsch der Stadt hat man seine Ruhe«, schimpfte er. »Die Psychopathen, die täglich mein Büro aufsuchen, strapazieren meine Gutmütigkeit bereits aufs Äußerste.«

»Halt die Klappe, Erik!« Anne stopfte ihm Popcorn in den Rachen.

Donner blieb still. Die wenigen anderen Gäste bedankten sich bei ihm mit einem Nicken. Für ein paar Minuten war er der Held des Klubkinos.

Der Film lief weiter. Bis zu dem Moment, in dem es im Hintergrund abermals lärmte.

»Scheißfilm!«

»Jetzt reicht’s!« Donner sprang auf, kreiste mit den Schultern und zielte mit dem Zeigefinger auf den Mann, der einfach nicht hören wollte. »Für dich ist hier Schluss!«

Diesmal schien der unliebsame Zuschauer zu verstehen. Hals über Kopf stürzte er davon. Dabei fiel er fast, wobei ihm seine Brille von der Nase rutschte.

Als die Saalausgangstür wieder zuschwang, entspannte sich auch Donner – zumindest geringfügig. Die Zwischenfälle mit dem Störenfried wurmten ihn immer noch.

»Ich verlange Schadenersatz vom Betreiber.«

»Der Eintritt lag nur bei vier Euro.«

»Und wenn schon! Das ist kein Grund, mich mit einem halben Film zufriedenzugeben.«

»Ich habe nicht das Gefühl, du würdest ihn genießen.«

»Wenn ich den vollen Preis zahle, habe ich gefälligst Anspruch, auch einen schlechten Film in voller Länge zu sehen.«

Schmunzelnd drückte sie seine Hand. Irgendwann vergaß er den Idioten.

Als der Abspann lief und die Lichter den Saal erhellten, standen sie auf. Beim Rausgehen unterließ es Donner, die Angestellte an der Kasse wegen des verkorksten Filmabends zu belästigen. Eigentlich lag es eher daran, dass Anne ihn schnell zum Ausgang zog. Sie riss ihn regelrecht am Arm. Üblicherweise ließ er niemanden so nah an sich heran. Bei ihr gefiel es ihm dagegen sogar.

Draußen nieselte es. Bald würde der Spätherbst den ersten Frost bringen. Unter dem Licht einer Laterne zog sie ihn zu sich und seine Lippen verfingen sich in ihrem Kuss.

Danach schlenderten beide zum Auto.

»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte sie.

Donner überlegte, wie er es formulieren sollte. »Sie macht Fortschritte. Die Ostseeluft tut ihr gut.«

In Wahrheit wusste er nicht, wie es ihr ging. Bei einem Telefonat mit seinem Vater hatte dieser nur über den Ärger mit der Krankenkasse geschwafelt. Kein Wunder. Bei einer Therapie, die wenig Chancen auf Heilung versprach, stellten sich die Krankenversicherungen stets quer.

Depressionen sind scheiße.

»Gehen wir zu dir?« Sie zwinkerte ihm herausfordernd zu. »Du könntest wie gestern mein Sklave sein.«

»Ich empfinde es als verstörend, wenn du über Sex redest, während ich mental noch bei meiner Mutter bin.«

»Oh, ich könnte deine Erzieherin spielen …«

Donner hörte nur mit einem Ohr hin. Sein Blick fand ein neues Ziel. Im Halbdunkel einer Mauer, seitlich von einem Golf verdeckt, stand der Typ, den er vor einer halben Stunde aus dem Saal vertrieben hatte. Der Psychopath mit der Brille.

Der Spanner will mich wohl provozieren? Gratuliere, ist dir gelungen!

Donner ging auf ihn zu …

 

Weller wartete hinter seinem Fahrzeug. Die Kofferraumklappe war offen. Durch das unzerbrochene Brillenglas beobachtete er, wie der Kerl mit der fetten Gesichtsnarbe und dessen Freundin aus dem Kino kamen. Das Pärchen steuerte auf einen roten Audi zu, der drei Parkplätze neben Wellers Golf stand.

Endlich nahm der Kerl ihn wahr. Weller klammerte sich an seinen Beschützer: eine Fällaxt von Silverline mit schwarz-silberfarbenem Blatt und einem Glasfaserstiel.

Noch verdeckte der Kofferraum das Werkzeug.

Auf einmal waren Wellers Zahnschmerzen wie weggeblasen. Noch ein Stück näher. Sollte der Bursche ruhig Streit suchen. Und ganz nah herankommen …

Welch ein Glück! Der Mann tat ihm den Gefallen.

Asche und alter Zorn
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