Kapitel 30

Kolka hielt ihre Kripomarke vor sich wie einen Schild. Dadurch konnte sie die Polizeiabsperrung ungehindert passieren. Dicht auf ihren Fersen folgte Lehnhard. Nach Starks Anruf waren beide Frauen von Wellers Wohnung sofort zum Schauplatz in der Innenstadt gerast. Zu dem Ort, wo der große Auftritt des SEK bevorstand. Jeder Schritt verfolgt von den Augen der Öffentlichkeit.

Kameraobjektive, Ferngläser und Handys waren auf das Bürogebäude an der Brückenstraße gerichtet. Obendrein hüllte der Duft vom nahen vietnamesischen Imbiss den Straßenabschnitt ein und schien ebenfalls in der Luft voller Erwartung zu verharren. Reisnudeln, Anis und Hühnchenfleisch. Kolka kam sich vor, als brutzelte sie in einem riesigen Wok. Als hätte man sie mit Fett eingerieben, wischte sie sich übers Gesicht.

Unweit von ihrem Standort sah sie den Befehlskraftwagen der Polizeidirektion. Für einen flüchtigen Augenblick erfasste sie dort den Leiter Führungsstab, gemeinsam mit dem SEK-Chef und dem KPI-Leiter Moll sowie hochdekorierten Beamten aus der Stabsabteilung. Sie alle steckten die Köpfe zusammen. Selbst den Rechtsreferendar hatte man dazugeholt.

Egal, wie der Einsatz ausging, am Ende mussten die polizeilichen Maßnahmen rechtlich sauber sein. Vor allem, wenn am Abend Bilder und Reportagen vom Einsatzgeschehen über die Fernsehbildschirme flimmerten.

Von einem Schutzpolizisten ließ Kolka sich die Richtung zu ihrem Kommissariatsleiter zeigen. Endlich fand sie Stark, der gedeckt hinter einem Fahrzeug mit drei Kriminalbeamten Pläne für den Worst Case schmiedete. Den Gesprächsfetzen nach zu urteilen, ging man von weiteren Toten aus.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte Kolka.

Zuerst reagierte keiner aus der Gruppe. Sie erkannte nur das unverblümte Entsetzen in den Mienen der Kollegen. Dann hielt Stark ein Smartphone empor. Mit dem Daumen wischte er über das Display und ein Foto erschien.

Schnell schlug sich Kolka eine Hand auf den Mund. Sie drehte sich weg. Für eine endlose Sekunde verfluchte sie Stark, dass er ihr die Fotografie ohne Vorwarnung gezeigt hatte. Das Bild würde ihr nie wieder aus dem Gedächtnis gehen. Nicht, weil auf der Darstellung eine kopflose Leiche zu sehen war, sondern weil sie die tote Frau sofort erkannt hatte.

Es war Lotte Andresen, die Polizeipräsidentin. Ihr Körper lag reglos inmitten eines Maisfelds.

»Was tust du denn da!«, brüllte Lehnhard und stieß Starks Hand samt Smartphone beiseite.

Noch nie hatte Kolka erlebt, dass ihre Kollegin die Stimme gegen ihren Chef erhoben hatte. Oder überhaupt lauter als ein Mäuschen geredet hatte. Doch in jenem erdrückend traurigen Moment schätzte Kolka Lehnhard für diese Courage.

Stark bewegte die Lippen wie eine Dogge, der man den Knochen weggenommen hatte. Er entschuldigte sich nicht, trotzdem schien er bemerkt zu haben, dass er zu weit gegangen war. Für den Moment hatte er an Autorität eingebüßt.

Mit einer unauffälligen Kopfbewegung dankte Kolka Lehnhard für deren beherztes Eingreifen. Zuerst wollte sie sich Luft zufächeln, unterließ es dann aber. Der Bratenduft vom Imbiss im Zusammenspiel mit dem schrecklichen Foto erzeugte in ihr ein Brechreizgefühl. Sie brauchte eine Weile, bis sie ihre Stimme wiederfand.

»Wo ist der Kopf?«

Die Männer zuckten mit den Schultern.

»Weller dreht seinen Film neu«, sagte Stark.

Obwohl er eine eiserne Miene zeigte, spürte Kolka, dass ihm das Reden schwerfiel. Jetzt erinnerte sie sich auch an die Szene im Kino, wo der Mörder eines seiner Opfer in einem Maisfeld abgeschlachtet hatte. Sie bemerkte, wie Stark das Foto aufmerksam betrachtete. So als würde es ihn faszinieren. Doch seine verkrampften Finger und das Wangenspiel bezeugten das Gegenteil.

»Auf ihrem Rücken wurde ihr ein riesiger Buchstabe in die Haut geritzt.«

»Welcher Buchstabe?«

»Ein M.«

»Ein M? Was soll das bedeuten?«

»Darüber rätseln wir gerade. Die Aufnahme hat mir der Außendienstleiter erst vor zehn Minuten geschickt.« Er schluckte und fuhr sich durch das von Wind und Stress zerzauste Haar. »Momentan habe ich kein freies Team. Jemand muss die Arbeit am Auffindeort von Andresens Leiche übernehmen.« Er ergriff Kolkas Arm und ließ ihn nicht mehr los. »Ich muss dich darum bitten! Es ist verdammt wichtig! Stehst du das durch?«

Bitten! Das Wort hatte er noch nie zu ihr gesagt. Oder überhaupt zu jemandem in der Abteilung.

Tu mir das nicht an! Das ertrage ich niemals.

Sie wandte den Blick ab und schaute zum Bürokomplex, wo Beamte die Zivilisten geordnet aus dem Gebäude führten und in Sicherheit brachten. Am liebsten wollte sie die Kripomarke hinpfeffern und sofort kündigen.

»Gibt es Geiseln?«, fragte sie stattdessen klar und gefasst.

»Negativ«, antwortete Stark. »Wir haben überhaupt keine neue Nachricht von Weller erhalten. Wir empfangen nur das verdammte Signal von Andresens Handy aus dem Gebäude.«

»Er ist nicht da drin«, murmelte Kolka.

»Was sagst du da?«

Kolka antwortete nicht. Eine innere Stimme verriet ihr, dass Weller nie und nimmer so leicht zu fassen sein würde. Es passte nicht zu dem Spiel, das er angefangen hatte. Und keinesfalls passte es zu den penibel genauen Aufzeichnungen des Autors, die Kolka Minuten zuvor in dessen Wohnung eingesehen hatte.

Sein Plan ist größer!

»Er ist nicht da drin.«

»Woher willst du das wissen?«, forderte Stark eine Erklärung.

Sie kam nicht dazu, die Frage zu beantworten. In einem der oberen Stockwerke hörte man es plötzlich kreischen. Ein Schrei aus mehreren Kehlen. Alle Umstehenden vor dem Gebäude schauten Richtung Gebäudedach.

»Was ist da los?«, schmetterte der Einsatzleiter in den Funk. »Hat jemand ein Kommando gegeben?«

»Negativ«, bestätigte ein Beamter des SEK. »Die Leute hier drin drehen durch. Alle drängen die Treppen hinunter. Etwas in der obersten Etage muss die Panik ausgelöst haben.«

»Verletzte?«

»Ungewiss. Erwarten Anweisungen.«

Kolka schaute zur Befehlsstelle. Dort nickte der Leiter Führungsstab. Sofort übernahm der SEK-Chef das Kommando.

»Team Rot stürmen!«

»Verstanden!«

»Und gebt mir ein Videobild, was da oben los ist!«

Kolka rechnete damit, dass jede Sekunde ein Schuss fiel. Ein Feuergefecht. Chaos. Tote und Verletzte.

Bange Minuten verstrichen, aber nichts dergleichen geschah. Die Unruhe war nur hier draußen. Der Betonklotz mit seinen alufarbenen Fenstern blieb still.

Unendlich langsam tröpfelte die Zeit dahin. Irgendwann erschallte über Funk die Meldung, dass das Objekt gesichert sei. Wie von Kolka erwartet, fehlte von der Zielperson jede Spur.

»Und das Handy der Präsidentin?«, wollte der Einsatzleiter per Funk wissen.

»Haben wir! Und eine Tasche. Moment … Was für eine kranke Scheiße!« Drei Sekunden Funkstille. »Das sollten sich lieber die Leute vom K11 ansehen.«

Asche und alter Zorn
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