Kapitel 11
Das hier war der schlimmste Ort, den sich Kolka vorstellen konnte.
Wenn in dieser Gegend jemand abgestochen wird, dann würden die Anwohner einfach über die Leiche hinwegsteigen.
Natürlich übertrieb sie maßlos in ihren Gedanken, aber das Treppenhaus mutete tatsächlich so an, als wäre der Verwalter vor Jahrzehnten mit den Mieteinnahmen abgehauen und niemand hätte seitdem mehr einen Handschlag am Gebäude getan. Sie wagte es nicht einmal, das Geländer zu berühren. Dafür wackelte es zu sehr. Am Ende stürzte sie ab und keiner rief einen Notarzt.
Die klauen mir höchstens das Handy.
Vorsichtig ging sie die Treppen hinauf. Die Stufen waren stellenweise ausgeschlagen und zudem übersät mit Werbeblättern und undefinierbaren Flecken. Selbst an den Wänden sah man getrocknete Speichelreste. Und Erbrochenes. Der Gestank raubte ihr beinahe die Sinne. Beim Betreten hatte Kolka kurzzeitig ihren Jackenstoff über die Nase gehalten. Dass Gerry es niemals bis in eine Luxussuite schaffen würde, war ihr seit jeher klar gewesen. Dieses Loch verdeutlichte ihr allerdings, wie tief er tatsächlich gesunken war. Welchen Eindruck machte die Wohngegend auf Malte?
Den Titel, die unfähigste Mutter des Jahres zu sein, habe ich mir jedenfalls redlich verdient.
Entschlossen, ihren Sohn notfalls mit Brachialgewalt aus Gerrys Bude zu schleifen, stand sie vor der Wohnungstür. Sie lauschte. Nichts. Absolute Stille. Aus alter Gewohnheit griff sie sich an die Seite, wo ihre Finger jedoch nur das leere Pistolenholster berührten. Die P7 lag in der KPI im Waffenschrank, wo sie hingehörte. Sonst war Kolka nicht die Ängstlichste, aber in diesem Moment wünschte sie sich ihre Waffe und zwei volle Magazine herbei.
Bereit zum Äußersten, krempelte sie die Jackenärmel hoch. Eine deutliche Ansprache lag ihr auf der Zunge. Mittels verbalem Zorn wollte sie Gerry für immer zum Schweigen bringen. Sollte ihr Ex nur die geringste Reaktion von Widerstand zeigen, würde sie ihm eine reinhauen. Das schwor sie sich und betätigte den Klingelknopf.
Weil ihr die Warterei zu lange dauerte, hämmerte sie zusätzlich mit der Faust gegen die Tür. »Gerry! Mach auf, verdammt noch mal!«
Doch im Inneren blieb es bedächtig still.
»Wenn du nicht bei drei die Tür aufmachst, trete ich sie ein!«
Sie begann, laut zu zählen. Endlich vernahm sie Geräusche. Jemand näherte sich der Tür.
Unter Kolkas Jacke stieg Hitze auf. Sie ballte beide Fäuste und spannte die Muskeln an. Als jedoch eine spindeldürre Frau mit dunklen Augenringen und einem Zentner Piercings in Stirn, Nase und Lippen öffnete, fehlten ihr kurzzeitig die Worte.
Die Dame, die obendrein nur mit einem dürren Trägertop bekleidet war, sodass man ihren halb rasierten Schambereich sehen konnte, schien weniger erstaunt als Kolka. Ein kurzer Blick auf Kolka, dann ließ sie die Tür los und trottete schlaftrunken zurück. »Gerry! Deine Ex-Tusse ist da.«
Ex-Tusse? Du kleine Strunze, dreh mir nie wieder den Rücken zu!
Kolka trat ein und musterte als Erstes die Wohnungseinrichtung. Ein fleckiger Teppich, der Geruch von wochenlang nicht gewechselter Katzenstreu, kalter Zigarettenqualm und ein paar Möbel, die selbst ein Streuner höchstens geschenkt haben wollte, begrüßten sie. Gerrys Zuhause befand sich in einem desolateren Zustand, als sie erwartet hatte. Die Zweiraumwohnung war bis unter die Decke vermüllt. Lediglich vier Computer, ein Fernseher und jede Menge Smartphones stachen als Dinge von Wert heraus.
Das darf doch alles nicht wahr sein.
Bleich wie eine wandelnde Leiche tauchte Gerry am Türrahmen zum Schlafzimmer auf – wenn man überhaupt von einem Schlafzimmer sprechen konnte. Brandings zierten seinen ausgemergelten Oberkörper und auf seiner Stirn war der Abdruck eines Kronkorkens zu sehen. Offenbar war er auf einem Bierdeckel eingeschlafen.
»Scheiße, Anne, was machst du für einen Stress? Es ist gerade mal …« Er schaute auf sein Handgelenk. Dort befand sich jedoch keine Armbanduhr. Wie im Delirium bewegte er den Kopf hin und her, auf der Suche nach der Uhrzeit.
»Es ist fast neun. Wo ist Malte?« Während sie das fragte, inspizierte sie jeden Raum. Bis auf die Frau und zwei weitere, nicht weniger abartig ausgehungerte Gestalten fand sie niemanden. Man brauchte kein Prophet zu sein, um zu erraten, was sich hier letzte Nacht für eine Zockerorgie abgespielt hatte. Sämtliche Anwesenden waren völlig übernächtigt. Sie stanken und hatten Augenringe, die fast bis zur Nasespitze reichten. Die Computer liefen und brachten die Räume zum Glühen. Wäre Kolka in einem Computerspiel gefangen, befände sie sich in einer Ghul-Höhle. In einer Behausung voller Leichen fressender Dämonen, die trotz ihres unstillbaren Hungers immer wie Bulimiekranke aussahen.
Nur wo war Malte abgeblieben?
Als sie auch den letzten Winkel der Wohnung inspiziert hatte, ging sie mit vorgehaltenen Fäusten auf Gerry los. Bevor er reagieren konnte, stieß sie ihm mit voller Wucht gegen den nackten Oberkörper. Der Getroffene taumelte zurück. Stöhnend krachte er mit dem Rücken an die Musikanlage. Diese spuckte die ganze Zeit psychedelische Töne aus.
»Wo ist mein Sohn, du Arsch?«
»Ey, du Schlampe!«, protestierte die Dame, die Kolka zuvor die Tür geöffnet hatte. »Bist du high?«
»Du bist gleich high.« Drohend streckte Kolka den Zeigefinger in ihre Richtung. »Wenn ihr Flachgehirne mir nicht auf der Stelle sagt, wo Malte ist, trifft hier in zehn Minuten die halbe Polizei von Leipzig ein.« Zur Verdeutlichung, dass sie es ernst meinte, zückte sie ihr Handy und hielt es ans Ohr. Die 110 konnte sie blind wählen.
Die zwei anderen Schlafgäste waren nun vollends auf den Beinen und bauten sich hinter Kolka auf. Aber ihre Proteste fielen spärlich aus. Nur ein paar Beschimpfungen, die an ihr abprallten. Darunter die Eigenkreation Psycho-Bitch. Geistreicheres brachten diese Superhirne nicht zustande.
»Tick mal nicht aus«, brabbelte Gerry, nachdem er sich gefangen hatte. Unter einem Stapel alter Wäsche kramte er eine Jeans hervor und schlüpfte hinein. Der Bund war ihm viel zu groß, derart ausgemergelt war sein Bauchumfang nach Jahren der Sucht. »Malte hat sich gestern da hingehauen und ist nach der Spielesession mit uns eingepennt.« Er zeigte auf eine durchgewetzte Matratze.
Beim Anblick der Bakterienkolonie schlug Kolka sich die Hand an die Stirn.
»Zwischen uns war alles in Ordnung«, verteidigte sich Gerry. »Der Junge hatte seinen Spaß. War doch so, oder?« Er sah seine Kumpels an.
Treudoof nickten die Untoten.
Kolka verengte die Augen und ging einen Schritt auf Gerry zu. »Ich frage dich zum letzten Mal: Wo ist Malte?«
Gerrys Oberlippe zitterte, seine schlechten Zähne traten zum Vorschein. »Wenn er abgehauen ist, dann ist das deine Schuld. Weil du ihn verhätschelt hast.«
Sie holte aus, aber Gerry packte ihren Arm. Sein Griff war unerwartet fest. Für fünf Sekunden kam es zwischen beiden zu einem Gerangel. Doch bevor Kolka ihre Selbstverteidigungsgriffe ansetzen konnte, schritten die anderen ein.
Als zehnbeiniges Knäuel taumelten sie durch das Zimmer und rissen ein kleines IKEA-Regal von der Wand. Sie zertrampelten Pappbecher und irgendwelche Kleinelektronik.
»Hey!«, rief die gepiercte Trulla dazwischen. »Die Tür war vorhin nicht abgeschlossen. Vermutlich ist er diese Nacht abgehauen.«
»Er muss in die Schule!«, brüllte Kolka.
»Na, vielleicht hat er wie vereinbart den Zug genommen«, erwiderte Gerry. »Wäre ja möglich.«
»Du Penner solltest ihn pünktlich zum Bahnhof bringen. Stattdessen hast du meinen Sohn mit deiner Unzulänglichkeit vertrieben.«
»Er ist auch mein Sohn«, gab er zurück. »Und du hast ihn zu einem Waschlappen erzogen.«
Für eine Sekunde schloss Kolka die Augen und schüttelte den Kopf. Die Beklemmung verursachte ein Rauschen in ihren Ohren. Vor Sorge um Malte drohte ihr die Luft wegzubleiben.
»Ich bringe das in Ordnung«, sagte Gerry, während er sich ein T-Shirt mit einem Joint-Aufdruck überstreifte und eine halb aufgerauchte Kippe aus einer Couchritze fingerte. »Ich finde ihn.«
Aber Kolka wusste, dass er dazu niemals fähig war. Sie griff sich an die Stirn und überdachte die nächsten Schritte. Da Maltes Sachen fehlten, hatte er höchstwahrscheinlich auch sein Handy mitgenommen. Rasch wählte sie seine Nummer, doch nur die automatische Ansage sprang an. Gut möglich, dass sein Akku leer war.
Gerade als sie seine Nummer erneut anwählen wollte, fiel ihr die neu angekommene SMS auf. Sie kam von Stark. Nervös öffnete sie die Nachricht.
Du sollst dich bei Totner melden. Meissner und ich vernehmen den Drehbuchautor Carl Weller.