Kapitel 26

Lotte Andresen hatte die ganze Nacht in Schmerzen gelegen. Diese stammten nicht von einem Hals- oder Kopfleiden, sondern von zügelloser, Verstand raubender Folter. Neben Verbrennungen hatte man ihr mit einer Klinge etwas in den Rücken geritzt. Vor lauter Qualen war sie mehr als einmal in Ohnmacht gefallen.

Nur noch schwach konnte sie sich an das Geschehen am Vorabend erinnern. Sie hatte sich von Franz Donner verabschiedet. Danach hatte sie in ihren Wagen einsteigen und zur Polizeidirektion fahren wollen. In dem Moment hatte ihr Entführer zugeschlagen.

Es war alles ganz schnell gegangen.

Nun war der Morgen da. Das Vogelgezwitscher klang nach Verhängnis. Wider Willen stieß der Entführer sie aus ihrem eigenen Mercedes. Vom Schwächegefühl niedergerungen, fiel sie sofort auf die Knie.

Bevor sie durchschnaufen konnte, wurde sie brutal an den Haaren hochgerissen und an ihnen ein Stück des Weges geschleift. Trotz der neuerlichen Schmerzen fehlte ihr die Kraft zum Schreien. In der Nacht hatte sie sich die Stimmbänder heiser geschrien.

Nur verschwommen nahm sie die Umgebung wahr. Alles war so schön grün. Selbst der Himmel über ihr. Unter ihren blanken Fußsohlen stachen Steinchen und kleine Äste. Es waren doch Äste, oder? Pflanzenblätter schnitten ihr in die Waden und die Brüste. Es war ihr alles egal.

Irgendwann wurde sie losgelassen. Sie fiel und schlug mit dem Gesicht auf feuchtkaltes Erdreich auf. Sie schmeckte bittere Erde. Dreck und Sand knirschten zwischen ihren Zähnen.

»Aufhören!«, keuchte sie. Sie spuckte Blut und Schmutz. Ausgezehrt und doch mit letztem Willen schaute sie ihrem Peiniger tief in die Augen, ob darin eine Spur Erbarmen lag. »Sie ruinieren Ihr Leben«, hauchte sie.

»Sie missverstehen! Ich lebe längst nicht mehr. Nicht mehr in dieser Welt.«

»Was wollen Sie?«

»Erstmal will ich herausbekommen, warum der Kopf dicker ist als der Hals.«

 

Eine Fliege umkreiste seinen Kopf, aber Donner ließ sie gewähren. Gerade gab ihm Meissner den Inhalt einer E-Mail wieder, die dieser erhalten hatte.

»Kennen Sie Wörter mit M? Zum Beispiel Missetäter, Mitwisser, Mörder«, las Meissner vor. Nach diesen zwei Sätzen machte er eine ganz kurze Pause und fügte an: »Darunter befinden sich zwei Buchstaben. C und L.«

Donner versuchte, das Gesagte zu entschlüsseln.

Carl! Das Schwein macht sich einen Spaß aus seinem Entkommen.

»Also haben Sie auch so eine Botschaft bekommen?«, wollte Meissner wissen.

»Mit einem anderen Text.«

»Oh Gott, warum ich schon wieder?«

»Ganz ruhig! Eine Mail kann dich nicht umbringen.«

»Vielen Dank für die Aufmunterung!«

»Gibt es einen Anhang?«

»Moment … Nein, da ist nichts.«

»Bist du dir sicher? Kein Foto?«

»Verdammt, nein! Was soll ich denn jetzt tun?«

»Sende die Mail an den Drucker und speichere einen Bildschirmausdruck. Dann kommst du umgehend zu mir ins Büro. Hast du das verstanden?«

Meissners Antwort hörte Donner nicht mehr. Er hatte nur ein Klopfgeräusch vernommen. Achtlos legte er den Hörer zur Seite und stürzte zur Tür. Davor stand eine Mitarbeiterin der ansässigen Versicherung. Sie war sichtlich erschrocken, aber das musste bei seinem Antlitz nichts bedeuten.

»Den hat der Postbote versehentlich bei uns in den Briefkasten gesteckt.« Sie wedelte mit einem Briefumschlag. »Komisch, denn dort steht nur Ihr Name drauf. Kein Absender.«

Mit einem knappen Dankeswort riss Donner ihr den Brief aus der Hand und knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Er hielt den Umschlag gegen das Licht. Von den Umrissen her sah der Inhalt nicht nur wie eine Spielkarte aus, er fühlte sich auch so an.

So behutsam, wie es sein Herzklopfen zuließ, riss Donner das Papier auf. Als er durch den entstandenen Spalt spähte, erkannte er eine Herzkönigin. Mit schwarzem Stift war eine 1 auf die Karte geschrieben, aber etwas war anders als auf dem Foto der Mail.

Die Spielkarte war mit Blutspritzern besprenkelt.

 

Peter Bahrens saß beim Frühstückskaffee, als er aus dem Radio von der Flucht des Drehbuchautors erfuhr. Hoffentlich fing die Polizei ihn bald wieder ein. Solche Straftäter durften nicht frei herumlaufen. Am Ende brachte Weller weitere Unschuldige um. Bloß wer unterschied die Unschuldigen von den Schuldigen?

Wenn er den Namen Carl Weller hörte, meldete sich Bahrens schlechtes Gewissen. Er konnte sich sehr gut in einen Menschen hineinversetzen, der gemordet hatte.

Nachdem er sein Geschirr in die Spüle geräumt hatte, lief er das Treppenhaus hinunter zum Briefkasten. Das tat er jeden Tag. Hauptsächlich deshalb, damit die kostenlosen Zeitungen und die Werbeprospekte den Behälter nicht verstopften. Manchmal betrachtete er die Bilder in den Zeitungen. Post bekam er selten. Er war ein einsamer Mensch.

Des Rituals fast ein wenig überdrüssig, öffnete er den Kasten. Ein einzelnes Blatt Papier flatterte ihm entgegen und landete zu seinen Füßen. Stöhnend hob er es auf.

Ein Bild mit einem drachenähnlichen Untier.

Er zuckte die Schultern, weil er sich keinen Reim darauf machen konnte. Wahrscheinlich war es ein Spaß der Kinder aus dem Haus. Er zerknitterte das Blatt und warf es in seiner Wohnung in den Mülleimer.

 

Bereits seit mehreren Minuten stierte Henry Stark auf den Bildschirm. In Endlosschleife lief dort eine kleine GIF-Animation: ein Ei, das in einem Hut verschwand. Nachdem der Hut wie durch Zauberhand umgedreht wurde, tropfte Blut heraus.

Was für eine Abscheulichkeit! Stark konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Ähnliches in seinem Postfach vorgefunden zu haben. Die Drohung, welche die bewegten Einzelbilder transportierten, zielte eindeutig auf ihn ab. Dieser Eindruck wurde noch durch die Botschaft im E-Mail-Text verstärkt.

 

Das Ei hatte nicht viel Grips, deshalb erhängte es sich an seinem Schlips und weder König noch Hase retteten es vor dem Grabe. CL

 

Vor dem Öffnen der Nachricht hatte Stark beim LKA nachgefragt, ob die E-Mail verseucht war. Einfach löschen war für ihn nicht infrage gekommen. Er hatte geahnt, dass mehr hinter der Nachricht mit dem Betreff »Folge mir!« steckte als eine fehlgeleitete Spaßmail.

Nachdem die Fachleute im LKA grünes Licht gegeben hatten, hatte Stark sie angeklickt. Jetzt wartete er auf die weiterführende Analyse des LKA. Stark wusste bereits, dass ihm das Ergebnis nicht gefallen würde.

Nach bangen Minuten klingelte es. Es war ein Kollege vom Dezernat 31 beim LKA.

»Insgesamt haben sechs Leute die E-Mail bekommen«, kam der Computerexperte gleich zur Sache. »Ich gebe Ihnen die Namen der anderen durch. Sind Sie schreibbereit?«

Stark notierte sich die Namen und erschauderte. Er kannte jeden einzelnen davon.

»Da wäre noch etwas«, sagte der LKA-Mann. »Halten Sie sich lieber fest! Wir wissen sogar, von welchem Handy die Mails verschickt wurden …«

 

Als Polizeihauptkommissar Martin Kroll sich beim Frühstück von seiner Frau die Butter reichen ließ, berührten sich ihre Finger für einen winzigen Moment. Henriette lächelte. Nein, sie himmelte ihn an. Vermutlich, weil er sich spontan einen freien Tag genommen hatte. Ein Unding in den vergangenen Jahren.

Gewöhnlich fieberte er an einem ersten Urlaubstag bereits dem letzten entgegen, um endlich wieder die Einsatzstiefel schnüren zu können. Von seiner Aufgabe als Außendienstleiter war er regelrecht besessen – der Hauptgrund, warum seine Ehe einige Zeit vor dem Aus gestanden hatte. Aber der Liebe willen kämpfte er um Henriette. Auch wenn in ihm kein Romantiker wohnte.

Heute waren sie länger als üblich im Bett geblieben und nach dem Aufwachen hatten sie wie zwei frisch verliebte Teenager zwischen den Kissen getobt. Er vermisste die Arbeit kein bisschen. Ein seltsames Gefühl!

Gut, ein klein wenig dachte er daran, was wohl Ben Lichtenberg ohne ihn gerade trieb, sein treuer Führungsgehilfe, mit dem er quasi eine Zweitehe führte. Und das seit dem ersten Tag, an dem beide ein Außenleiterteam bildeten.

Kroll beobachtete, wie sich Henriette Erdbeermarmelade auf das Brötchen schmierte. Dabei wischte er sich mit dem Daumen die Krümel von den Lippen.

»Was ist?«, fragte sie.

»Das Zeug würde ich jetzt am liebsten zwischen deinen Brüsten ablecken.«

»Martin!«

Beide lachten, bis das Telefonklingeln die Liebelei unterbrach.

»Du solltest besser nicht rangehen«, warnte Kroll, als seine Frau bereits aufsprang. »Um diese Uhrzeit kann das nur Ärger bedeuten.«

Doch sie hatte schon abgenommen. Zwei Sekunden später hielt sie ihm das Telefon hin. »Ist für dich! Ein Herr Stark.«

»Der Dicke?« Missgestimmt schmetterte Kroll sein Messer hin. »Der hat doch noch nie angerufen.« Mitsamt dem Telefon lief er durch den Küchenbereich in den Hausflur.

»Martin, du musst sofort zur KPI kommen!«

Kroll schaute nach, ob Henriette lauschte, und fragte: »Geht es um diesen Drehbuchautor?«

»Es geht um dein Mailfach.«

»Was ist damit?«

»Das erzähl ich dir, wenn du hier bist. Es ist dringend!«

Während Kroll überlegte, was das bedeuten könnte, bemerkte er an der Fensterscheibe etwas. Er trat näher und erkannte eine Art Aufkleber, den jemand von außen gegen die Scheibe geklebt hatte.

»Martin, bist du noch dran?«

»Ich melde mich wieder«, sagte Kroll abwesend und legte auf.

»Du wirst doch nicht wirklich zur Arbeit gehen?«, fragte Henriette hinter ihm prompt.

Kroll antwortete nicht, sondern öffnete die Eingangstür und trat mit Hausschuhen ins Freie. Es handelte sich tatsächlich um einen Aufkleber. Als er die Hausfront betrachtete, fand er noch Hunderte weitere. Sie klebten an der Fassade, an der Tür, an seinem Audi und am Fußabstreicher.

Sie alle zeigten dasselbe Motiv: eine rauchende Raupe.

Asche und alter Zorn
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