Kapitel 50

Heute

 

»Damit hat Moll einen Sprengsatz scharf geschaltet!«, empörte sich Anne. »Dessen Zerstörungskraft wird nur durch eine Atombombe übertroffen. Wie hast du das mit deiner Rückversetzung hinbekommen, Erik?«

»Jeder hat seine Geheimnisse. Und im Übrigen ticke ich bereits. Also reiz mich nicht, sonst explodiere ich vorzeitig.«

Donner nahm Annes Aufregung über seine Abordnung zum K11 mit Genugtuung zur Kenntnis. Er hatte sie mit der Überraschung in ihrem Büro überfallen. Bevor sie Fragen stellen konnte, hatte er sie an die Hand genommen und sie zum Wagen gezerrt. Sie mussten Peter Bahrens besuchen. Sein Name stand in Wellers Manuskript. Bahrens war möglicherweise der Schlüssel zu allem.

Die gesamte Fahrt über war Anne am Fluchen und Kopfschütteln. Offenbar hatte Moll vergessen, sie über die kleine Personalentscheidung zu unterrichten. Und wahrscheinlich war ihr Donners Tempo nun zu schnell. Als hätte man sie vorwarnen sollen. Ihr Unverständnis beruhte vermutlich darauf, weil sie argwöhnte, er könnte besser sein als sie.

Also alles beim Alten. Das Monster vom K11 ist zurück in der Stadt. Und es hat Hunger auf echte Ermittlungsarbeit.

So war es früher schon gewesen. Die Kollegen fürchteten ihn und gingen ihm aus dem Weg. Oder schlimmer: Man schnitt ihn. Aber ab sofort würde er den Spieß umdrehen.

Vor Bahrens’ Haus schaltete er den Motor ab und stieg aus. Diesmal trug er keine Schuld an der Missstimmung zwischen Anne und ihm. Er hatte Molls Bitte entsprochen und sie einbezogen. Er hatte sie sogar abgeholt, um gemeinsam Peter Bahrens zu befragen. Keiner konnte ihm vorhalten, er würde auf eigene Faust ermitteln. Jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt.

»Das ist keine Antwort!«, wetterte sie weiter und lief ihm wie eine Sekretärin hinterher, die ihren Chef an einen wichtigen Termin erinnern wollte. »Ich gebe mich auch nicht damit zufrieden, dass du mich ignorierst. Hörst du mir überhaupt zu?«

»Hier wohnt er also«, sagte Donner, während er die Hausfassade betrachtete.

»Wenn wir mit der Befragung fertig sind, werde ich dafür sorgen, dass du bald wieder in deinem Büro sitzt.«

So viel Unverständnis von ihr hatte er nicht erwartet. Er versuchte wirklich, sich zu bessern. Allmählich wurde es jedoch Zeit, dass sich auch Anne änderte. Das gemeinsame Arbeiten beim K11 stellte eine Zerreißprobe dar. Da mussten sie eben durch.

»Du forderst mich heraus?«

Sie ließ eine Kaugummiblase platzen, was er als Kampfansage wertete. »Und nur damit du klar siehst: Du schläfst heute Nacht bei dir.« Mit dieser Ansage stemmte sie die Schulter gegen die angelehnte Eingangstür und trat über die Schwelle.

Der Hausflur machte einen recht aufgeräumten Eindruck. Offenbar wohnten hier halbwegs zivilisierte Leute. Bahrens’ Wohnung befand sich im zweiten Stock.

Gemäß der Rangfolge ließ Donner Anne den Vortritt. Mit einem genervten Auspusten drückte sie den Klingelknopf. Kaum drei Sekunden später öffnete Bahrens tatsächlich. Es war schwer zu sagen, ob er mehr über den Dienstausweis erschrak oder über Donners Auftauchen in den Morgenstunden.

»Sie?«

»So sieht man sich wieder.«

»Ihr kennt euch?«, fragte Anne.

»Vom Bahnhof.«

»Vom …?« Sie schüttelte den Kopf und besann sich auf ihren Auftrag. »Kripo! Dürfen wir eintreten, Herr Bahrens?«

»Haben Sie nen Durchsuchungsbeschluss?«

»Brauchen wir einen Durchsuchungsbeschluss?«

Offenbar glaubte Bahrens, nichts verbergen zu müssen, denn dem Moment des Abwägens folgte ein bereitwilliges Handzeichen. Sie durften eintreten.

»Ist eine hübsche Wohnung«, lobte Anne. Kein Zweifel, sie wollte das Eis brechen und dadurch Bahrens in Sicherheit wiegen.

Spar dir die Floskeln. Der Typ hat sechs Jahre im Knast abgesessen, der weiß, wie der Hase läuft.

»Ich weiß selbst, dass das hier ne Bruchbude ist«, vermeldete Bahrens prompt. »An den Fensterrahmen blüht der Schimmel. Die Fliesen verlieren die Farbe, die Wasserhähne lecken und die Heizung geht nur vier Stunden am Tag. Außerdem riecht es im Schlafzimmer nach Dinosaurier und ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, woher der Scheißgeruch kommt. Vermutlich von den Zigeunern unter mir! Aber was will ich mich beschweren? Das Amt zahlt und ich mache keine Probleme. Für die Gesellschaft bleibe ich dadurch unsichtbar.«

»Gestern Abend waren Sie nicht unsichtbar«, hakte Donner ein, denn er hatte im System einen scheinbar unbedeutenden Eintrag entdeckt. Eine kriminalistische Meldung, die man leicht übersehen konnte.

Jedoch nicht Donner …

»Wie meinen Sie das?«, fragte Bahrens.

Anne sah Donner ebenfalls fragend an.

»Eine Polizeistreife hat Sie in Frankenberg an einer Kirche entdeckt und daraufhin Ihre Personalien festgestellt. Wollen Sie mir verraten, was Sie dort gesucht haben?«

»Uns!«, korrigierte Anne.

»Können Sie uns verraten, was Sie dort zu suchen haben?«, berichtigte Donner seine Frage, ohne gereizt zu klingen.

»Das habe ich den beiden Uniformierten bereits gesagt. Doch die wollten mir ja nicht glauben.«

»Nun, dann wiederholen Sie es eben für uns und ich verspreche Ihnen, dass wir Ihnen glauben.«

Bahrens winkte sie hinter sich her. Das Wohnzimmer reihte sich optisch in die Einrichtungen von unzähligen Ex-Knackis aus Donners Vergangenheit ein, die versuchten, wieder auf die Beine zu kommen. Es waren schmucklose, aber praktische Möbel, wie man sie in jedem Secondhandshop in rauen Mengen fand.

Aus einem Rucksack holte Bahrens fünf Gläschen hervor und hielt sie wie Goldnuggets mit zwei Händen. »Ich habe ein spezielles Hobby: Ich sammle Düfte.«

»Düfte?« Diesmal konnte Donner nicht anders, er musste einfach loslachen.

»Ich wusste, dass Sie mir nicht glauben!«

Bevor er die Hände wegziehen konnte, griffen Donner und Anne nach den Ampullen.

»Die Gläser sind nicht beschriftet«, bemerkte Donner.

»Sind Sie blind? Sehen Sie nicht die Etiketten mit dem jeweiligen Datum?«

»Aber woher wissen Sie, was genau drin ist?«, fragte Anne. Sie schraubte eine der Ampullen auf, schnupperte und zuckte mit den Schultern. Offenkundig konnte sie nichts riechen.

»Das Datum reicht mir«, entgegnete Bahrens und betrachtete jede von Annes Bewegungen argwöhnisch. Als fürchtete er, der komplette Inhalt könnte aus dem Glas entweichen.

Mit Fingerspitzen und gerunzelter Nase verschloss Anne das Fläschchen wieder und gab es zurück. Sie ging dazu über, die Regale zu inspizieren. Zielstrebig griff sie nach einem Schwarz-Weiß-Porträt, das einen jungen Mann zeigte. »Die Gesichtszüge erinnern mich an Ihre.«

»Vor achtundzwanzig Jahren«, gab Bahrens freudig von sich. »Aber ich habe noch dieselben Augen und sämtliche Zähne. Nur das Haar ist etwas dünner.«

Und die Wangen sind schmaler. Und überhaupt ist der ganze Kerl nur noch einer von vielen, den die Gesellschaft durchschleppt.

Donner schenkte dem Bild nur unwesentliche Aufmerksamkeit. Vielmehr interessierte ihn das, was man nicht gleich sah.

Ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm er sich das letzte von insgesamt vierzehn Fotoalben aus dem Wandschrank und blätterte darin. Er fand Schulen, Fabriken, Lagerhallen, Wohnhäuser und Bahnhöfe. Donner brauchte nur einen Moment, um zu verstehen, dass Bahrens sämtliche restaurierte Objekte seiner vergangenen Brandtaten fotografiert hatte. Die Aufnahmen entlarvten den krankhaften Trieb.

Ganz am Ende entdeckte Donner ein Foto, bei dem er leicht erschrak. Es zeigte Malte. Der Junge stand mitten auf den Gleisen. Also stimmte es! Bahrens hatte Malte die fünf Euro für ein Porträt gegeben.

Einen Augenblick dachte Donner daran, Bahrens für diese Abartigkeit eine zu verpassen, doch letztlich handelte es sich nur um ein Foto. Niemand war zu Schaden gekommen. Es war pervers, aber nicht verboten.

Um Anne nicht zu beunruhigen, entnahm Donner es heimlich und ließ es in seiner Mantelinnentasche verschwinden. Danach schlug er das Album zu und stellte es zurück an seinen Platz.

»Kennen Sie einen Carl Weller?«, fragte Anne in die entstandene Pause hinein.

»Ist das der Drehbuchautor, der seine Frau umgebracht haben soll?«

»Sie kennen ihn also?«

»Hab von ihm in der Zeitung gelesen.«

Anne trat dicht an Bahrens ran. Der wich leicht zurück und versteckte die Ampullen in der Tasche seiner Jogginghose.

»Ich meine, hatten Sie in letzter Zeit Kontakt mit Herrn Weller? Telefonisch?«

Auf einmal wirkte Bahrens unsicher. Es war unverkennbar, dass er scharf nachdachte, was er erwidern sollte. »Kann mich nicht daran erinnern.«

»Wir haben Wellers Telefonverbindungen ausgewertet.« Sie wippte mit der Schuhspitze und musterte ihn eindringlich.

Donner war ebenfalls gespannt auf die Antwort. Endlich kam er seinem Verdacht näher.

»Ja … also kann sein, dass er mal angerufen hat. Ich hatte den Namen nicht verstanden. Aber jetzt, wo Sie nachfragen, erinnere ich mich vage.«

»Was wollte er von Ihnen?«, schaltete sich Donner dazwischen.

Bahrens begann Krümel und einen mit Ketchupresten beschmierten Teller wegzuräumen. Den Blickkontakt vermied er. »Ich weiß es nicht.«

»Hat er mit Ihnen über Ihre damaligen Straftaten gesprochen?«

»Er hat danach gefragt, angeblich aus Recherchegründen. Er wollte ein Buch schreiben. Ich habe nicht genau hingehört. Ich habe …«

Donner wartete noch immer.

Wie aufgescheucht lief Bahrens auf einmal durch die Wohnung. Donner und Anne folgten ihm, ließen ihn nicht aus dem Blickfeld. In der Küche nahm Bahrens einen Schluck aus einer Wasserflasche. Er trank hastig und schwitzte dabei.

»Lassen Sie mich doch in Ruhe! Ich habe nichts Unrechtes getan.«

»Auch keinen Menschen umgebracht?«, konfrontierte Donner ihn mit seinen Zweifeln.

»Worauf spielen Sie an?«

»Sie wissen ganz genau, wovon ich rede! Die Kirche, in deren Nähe man Sie gestern kontrolliert hat, fiel vor zwei Jahrzehnten einem Feuer zum Opfer. Dabei kam der damalige Pfarrer ums Leben. Na, können Sie sich daran erinnern?«

»Erik!«, ermahnte Kolka Donner, doch der forderte vehement eine Antwort.

»Haben Sie irgendwelche Beweise?«, gab Bahrens zurück. »Das würde mich wundern, denn die damaligen Ermittler und das Gericht hatten nämlich auch keine. Nur für Ihr Protokoll: Ich war während des Feuers im Krankenhaus. Vom Unglück habe ich erst am Folgetag aus der Zeitung erfahren. Und nach allem, was ich gehört und gelesen habe, war es genau das: ein Unglück!«

Doch entgegen der energisch vorgebrachten Verteidigungsrede lief Bahrens in der kleinen Küche wie ein gefangenes Tier hin und her. Seine Finger zitterten beim Festhalten der Wasserflasche. Er rang sichtlich mit der Beherrschung.

»Ich habe niemanden umgebracht. Also verschwinden Sie endlich!« Er schlurfte zum Abfalleimer. Dann hielt er ihnen den übervollen Kübel vor die Nase. »Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Deshalb werde ich jetzt den Müll rausbringen.«

Gerade als Donner ihm den Eimer aus den Händen reißen wollte, entdeckte er etwas darin. Obenauf lag ein halb zusammengeknülltes Blatt Papier, von dem man die Ecke eines Schwarz-Weiß-Bilderdruckes erkennen konnte. Und der kam Donner bekannt vor. Er griff nach dem Papier und faltete es auseinander. Kaum hatte er es vollständig entrollt, riss Anne es ihm aus den Fingern. Das Bildnis war eine Zeichnung aus Alice hinter den Spiegeln.

Anne hielt es Bahrens dicht vor die Nase. »Woher haben Sie das?«

Asche und alter Zorn
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