Kapitel 63

Tage zuvor

 

Felix Meissner brauchte nur zu warten. Irgendwann würde der Kerkermeister den Keller betreten, um nach Carl Weller zu sehen. Ab diesem Moment würde sich Meissner zurückverwandeln. Zurück zu dem ungezogenen Jungen, der er einst gewesen war, bevor er entschieden hatte, für Recht und Gesetz einzutreten. Damals als Neunjähriger …

Davor war die Welt für ihn in Ordnung gewesen. Er hatte mit Tieren gespielt. Spiele, die mit dem Tod endeten. Ein Tod, der erst nach langer Qual eintrat. Vor allem die Sache mit der Katze war ihm im Gedächtnis geblieben. Noch heute konnte er das Geräusch des Bohrers und die Schreie des Tieres hören. Die Laute, als sich der drehende Stahl ins Auge des Viehs geschraubt hatte.

Die Geschichte, die er seiner Psychologin als bloßen Traum verkauft hatte.

Damals hatte er gewusst, dass die Welt kein guter Ort war. Aber er hatte es über die Jahre verdrängt – weil er eine lange Zeit geträumt hatte. Ähnlich wie Alice war er in einen Kaninchenbau hinabgestiegen, auf der Suche nach einer besseren Welt.

Trotz der Wärme in den Kellerräumen der Polizeidirektion fror er. Dabei hingen überall an der Decke Heizungsrohre. Scheinbar kilometerlang. Selbst in der Nische, in der er sich versteckt hielt, rauschte es eintönig.

Er zitterte vor Aufregung. Kalter Schweiß lief ihm den Nacken hinab. In den Lederhandschuhen schwitzte er, trotzdem waren seine Fingerkuppen klamm. Die Blutgier ließ seinen Körper verrückt spielen. Er sann auf Rache. Er dachte an Peter Bahrens, der Meissners Onkel umgebracht hatte. Und er dachte an Dr. Ilona Szymenderski, die ihn bei den Therapiesitzungen wie einen Idioten behandelt hatte. Beide würden dafür büßen. Meissner würde sich an all jenen rächen, die sein Leben zerstört hatten. Auch wenn es nur ein Wunderland gewesen war.

Während der Reise durch die heile Welt hatte er sich berauscht gefühlt. Als er noch ein ganzes Gesicht gehabt hatte, eine Berufsperspektive und vor allem Frau und Kind. Aber nach den Ereignissen zur Weihnachtszeit – als seine Kollegen der Reihe nach versagt hatten – hatte seine Ehefrau die Koffer gepackt, Luna an die Hand genommen und gesagt, sie würde niemals zu ihm zurückkehren …

Inzwischen wusste Meissner, dass seine Zeit ablief. Als Polizeibeamter hatte er schon lange keine Zukunft mehr gehabt. Bald würden die Einstellungsuntersuchungen der Polizeianwärter vorüber sein. Danach würde die Polizeiärztin sich seine Krankenakte genauer ansehen und spätestens dann würde das wohlwollende Gutachten von Dr. Ilona Szymenderski auffliegen.

In Wahrheit hatte die Psychoschlampe ihm nur etwas vorgespielt. Sie hatte so getan, als würde sie hinter seine Maske schauen können und Liebe für ihn empfinden. Am Ende hatte sie nicht einmal Mitleid mit ihm gehabt. Auf dem Fußabstreicher vor ihrem Haus hatte sie ihn wie einen geprügelten Hund davongejagt.

Dafür würde er ihr später eine Lektion erteilen. Wenn er es clever anstellte, würde sie doch noch bei ihm im Bett landen. Er würde ihr einen Blick hinter die Spiegel gewähren. Oh ja, das Gewand der Alice sollte ihr vortrefflich stehen …

Geräusche! Jemand kam aus der Waffenkammer den Gang entlang.

Meissner drückte sich in die Ecke. Sein Brustkorb hob und senkte sich behäbig. Er tastete nach seinem Herzen, ob es noch schlug. Das tat es. Fester, garstiger und mitleidloser als zuvor.

Er vernahm die Schritte des Kollegen und die Verwandlung begann. Felix Meissner löste sich auf. Der alte Felix wurde wiedergeboren. Im Schatten. Aus der Asche wie ein frenetisch flammender Phönix. In den Katakomben der Behörde, der er sich einst verschrieben hatte.

Inzwischen hatte ihn die Arbeit bei der Polizei korrumpiert. Gesetze waren etwas für die Schwachen. Für die, die sich nicht anders zu helfen wussten. Ab sofort handelte er nach seinen eigenen Regeln. Und er würde es mit harter Hand und scharfer Axt tun.

Vorsichtig spähte er in den Flur. Polizeiobermeister Willi Brand sang und pfiff ein schiefes Lied. Es sollte wohl Who wants to live forever von Queen darstellen.

Mit dem Rücken zu Meissner gerichtet öffnete er den Vorraum zu den Gewahrsamszellen. Die Tür schwang weit auf, Brand trat ein.

Meissner wartete zwei Sekunden, dann schlich er hinterher. Kurz bevor die Tür ins Schloss fiel, fasste er den Griff. Einen winzigen Spalt hielt er sie offen. Meissner lauschte. Offenbar hatte Brand nicht bemerkt, dass das Geräusch der zuschnappenden Tür ausgeblieben war.

Meissner bleckte die Zähne und durch seine Adern pulsierte die Kraft eines Raubtiers. Hier unten war er der Jäger. Als solcher betrat er die Gewahrsamräume.

Aus dem Gang weiter hinten hörte er die ausgelassene Stimme des Polizeiobermeisters. Es schien, als hielten Brand und Weller Smalltalk. Er versprach dem Gefangenen eine Zigarette, wenn der ihm im Gegenzug erzählte, wie er seine Frau abgeschlachtet hatte. Ein Polizist und ein Mörder im trauten Zwiegespräch!

Das Gehörte entflammte Meissners Zorn erst recht. Das Blut rauschte übermächtig in seinem Kopf, die Muskeln unter seinem Schutzanzug spannten sich und die Waden wollten bei jedem Schritt platzen. Er fühlte sich unbesiegbar.

Wie ein sprungbereites Wildtier pirschte er sich den Flur entlang. Im letzten Zellenraum befanden sich seine Opfer.

Noch einmal überdachte er seine Entscheidung. Vor allem wegen Brand, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Welch ein Pech aber auch!

Schon im nächsten Moment waren die Skrupel vergangen. Die Verwandlung war vollzogen. Felix Meissner hieß jetzt Mad Hatter! Wie die Comicfigur von DC. Ein Schurke. Der Gegenspieler von Batman. Ja, er war ein irrer Hutmacher! Er musste den Menschen die Köpfe verkleiden.

Alles ging ganz schnell. Brand merkte nicht einmal, wie Meissner sich ihm näherte. Im Bruchteil einer Sekunde krachte das Gesicht des Polizeiobermeisters gegen die Gitterstäbe. Dann noch einmal. Insgesamt sechs Mal, dann sackte Brand tot zusammen. Weller schrie. Hier unten hörte ihn niemand, außer …

Weller sprang zur Sprechanlage und drückte den Rufknopf.

»Hilfe! So helft mir doch!«

Aus dem Zimmer des Diensthabenden kam keine Antwort. Die Verbindung war inaktiv. Zuvor musste jemand dort oben das Gespräch annehmen.

Meissner nahm Brand die Zellenschlüssel aus den leblosen Fingern. In aller Ruhe sperrte er das Gitter auf. Ein letztes Mal hämmerte Weller auf den Rufknopf, dann wich er zurück in die Ecke, wo das Holzbett stand.

Das Ende kam schnell. Schneller, als er es verdient hatte.

Mindestens zehn Minuten blieben Meissner, bevor jemand Brands Fernbleiben bemerkte. Unterdessen überzog er Wellers Leiche mit zwei übergroßen schwarzen Plastiktüten. Es war dieselbe Sorte Säcke, mit der er seine persönlichen Sachen vom K11 in die Räume des Reviers Nordost transportiert hatte. Schnell noch einen Trinkbecher mit ausgekipptem Wasser in der Zelle platziert und zweimal das Pfefferspray des Polizeiobermeisters in die Luft gesprüht. Perfekt als falsche Spuren!

Vor dem Gewahrsamsraum stand einer der Rollwagen der Hausmeister bereit. Es dauerte weniger als zwei Minuten, dann schob Meissner Wellers toten Körper durch den Kellergang. Er öffnete die Waffenkammer und manövrierte den Wagen hinein. Aus dem Schließfach, wo auch seine Pistole lag, entnahm er ein bereitgelegtes Stemmeisen. Mit diesem löste er zum zweiten Mal den Deckel der Holzkiste in der Ladeecke. Den darin befindlichen Sand hatte er zuvor durch das Lockern der unteren Leiste an der hinteren rechten Ecke herausrieseln lassen. Mühsam hatte er ihn dabei in den angrenzenden Abfluss gekehrt.

Bevor er Weller in die Kiste stopfte, zog er ihm die Schuhe aus. Anschließend verschloss er die Kiste wieder mit dem Deckel und klopfte die Nägel notdürftig fest. Gerade so bündig, dass sie nicht herausstanden. Perfekt!

Meissner klatschte in die Hände. Das Blutrauschen im Ohr ließ allmählich nach. Er musste jetzt den coolen Ermittler mimen.

Vorher beseitigte er die Kleidung und die Handschuhe und hinterließ in einem offen stehenden Büro der zweiten Etage einen Profilabdruck von Wellers Schuh. Auf einem leeren Blatt Papier. Dieses positionierte er unmittelbar vor das Fenster, welches er öffnete und von dem die Kollegen später annehmen mussten, Weller wäre durch selbiges in die Freiheit entkommen.

Asche und alter Zorn
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