Kapitel 17

Einige Zeit zuvor

 

»Worüber wollen Sie sich heute mit mir unterhalten, Frau Szymenderski?«

Er wartete unwillig, aber sie antwortete nicht sofort. Sie schien ihn mit ihren Augen zu durchleuchten wie ein Röntgengerät am Flughafen. Ihre Augen waren blau. Blau wie der Himmel an einem supersonnigen Tag. Für einen Moment fühlte er sich, als stünde er auf dem Dach eines Mehrgeschossers. Nah an der Kante …

Endlich kam von ihr eine Antwort.

»Sie könnten mir erzählen, was Sie wirklich empfinden. Beginnen wir am Anfang«, konkretisierte sie und stach damit tief in seine seelischen Wunden. »Berichten Sie von Ihrem Unfall.«

»Darüber möchte ich nicht reden.« Er biss die Zähne aufeinander. Er spürte, wie er aufbrausend wurde.

»Versuchen Sie es.«

»Nein.«

Mit einer verständnisvollen Geste legte sie ihre Hände zusammen und tippte sich mit den ausgestreckten Zeigefingern auf die Lippen. »Na gut, dann bestimmen Sie das Thema.«

Das Angebot erschien ihm nicht unbedingt besser. Bestimmt hatte sie die Versteifung seiner Wangenmuskeln mitbekommen und wie er die Fingernägel in den Bezug des roten Patientensessels krallte. Darin war sie eine Meisterin. Im Durchleuchten und Beobachten.

»Wie Sie wünschen.« Er entschloss sich, sie herauszufordern. »Aber Ihnen ist entgangen, dass ich mich extra für diesen Termin in Schale geworfen habe. Komisch, wo Sie doch sonst so gescheit tun. Sie haben mich beim letzten Mal auf meine Kleiderordnung hingewiesen. Nun habe ich mir Mühe gegeben und Sie ignorieren es völlig.«

»Es ist mir sehr wohl aufgefallen. Bereits beim Reinkommen. Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Sie sehen gut aus.«

»Machen Sie sich lustig über mich?«

Sie beugte sich vor. Ihre Augen sprangen aufgeweckt – ja beinahe kindlich neugierig – in den Höhlen hin und her. »Sind Sie denn an einer ehrlichen Antwort interessiert?«

Er versteifte die Schultern, ahmte ihre Bewegung nach und nickte einmal.

»Ich finde, Sie sehen in dem hellen Anzug und der silberfarbenen Krawatte äußerst attraktiv aus. Also nein, ich mache mich keineswegs über Sie lustig.« Ganz leicht schüttelte sie dabei den Kopf, bevor sie zurück in eine statuenhafte Erstarrung verfiel. Allein ihre Augen forderten ihn zum Reden auf. Es waren lebenslustige, freundliche Augen, in die man sich verlieben konnte.

Er musterte die Psychologin eindringlich. Anders als beim letzten Mal standen die obersten beiden Knöpfe ihrer Bluse offen. Ob aus Versehen oder mit Berechnung war schwer zu enträtseln.

»Mit der Kleiderwahl wollte ich Ihnen imponieren.«

Sie lehnte sich zurück. Für einen kurzen Moment sah sie ernsthaft beeindruckt aus.

Er fasste seinen ganzen Mut zusammen. »Ich flirte mit Ihnen und Sie ignorieren mich.«

Ein unsicherer Lacher verließ ihre Kehle. »Geben Sie sich keine Mühe. Das hier ist kein Flirt. Wenn ich das Spiel nicht durchschauen könnte, wäre ich falsch in dieser Praxis.«

Er schluckte heftig. Also war das Ganze Berechnung! Das traf ihn schwer. »Sie finden mich hässlich.«

Auffällig übertrieben schüttelte sie den Kopf und blickte ihn fest an. »Haben Sie Selbstmordgedanken?«

Erwischt! Er hatte damit gerechnet, dass sie sich verbal in eine andere Richtung flüchten würde. »Wenn es so wäre, würde ich das hier nicht zugeben. Immerhin hängt mein Job von dem Ergebnis Ihres Gutachtens ab.«

»Befürchten Sie, dass ich Sie reinlegen will?«

»Ja, verdammt!« Er ballte eine Faust. »Ich will meinen Job behalten. Ich will weiterhin bei der Mordkommission arbeiten. Einen Psycho sehen die dort ungern.«

»Wie kann ich Ihr Vertrauen gewinnen?«

»Keine Ahnung, vielleicht erzählen Sie mir etwas von sich. Etwas Intimes.«

»Ich glaube nicht, dass wir schon so weit sind.«

»Aber es wäre denkbar. Könnten Sie sich Sex mit mir vorstellen?«

»Hören Sie, ich möchte Ihnen wirklich helfen.«

»Dann schreiben Sie eine Empfehlung, dass ich weiterhin voll diensttauglich bin.«

Ihr Körper zeigte keinerlei Regung. »Sie sind ein schwieriger Fall. Mir sind Ihre plötzlichen Stimmungsschwankungen aufgefallen.«

»Das liegt an der Situation, in die man mich gedrängt hat. Seit ich meine Frau und mein Kind verloren habe, hilft mir niemand. Hinzu kommt meine körperliche Verwandlung. Der Unfall war nur der Anfang. Jetzt sind es die Menschen um mich herum, die mir Steine in den Weg legen. Meine Kollegen, die Polizeiärztin und Sie! Das ärgert mich.«

»Wirklich? Ich frage mich, ob es für Ihre Unzufriedenheit einen Auslöser gibt, der länger zurückliegt.«

»Da gibt es nichts.«

»Eventuell ein Erlebnis aus Ihrer Kindheit? Eines, das Sie nie richtig verarbeitet haben?«

Er versteifte sich. Wut stieg in ihm auf. Sie war klüger, als er gedacht hatte. Es gab in der Tat ein solches Ereignis.

Asche und alter Zorn
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