Kapitel 34

Heute

 

Als der Leiter Führungsstab kurz nach zwanzig Uhr den Besprechungsraum verließ und die Tür hinter sich zuknallte, kehrte eine niederschmetternde Stille ein. Nur das Summen einer Fliege war noch zu hören. Mehr aus Verunsicherung spähte Kolka umher, ob sie das Insekt und damit Ablenkung fand.

Mist, ich bekomme langsam Eriks Fliegen-Tick.

Inzwischen näherten sich die Uhrzeiger Mitternacht. Die verbliebenen Beamten, die im Kreis um den Tisch saßen, waren erschöpft. Der lange Arbeitstag und die blutigen Ereignisse hatten sie ausgelaugt. Hinzu kam der Frust, dass Carl Weller auf dem Gießereigelände entkommen war. Bei jedem hatte das Geschehen der letzten Stunden eine unstillbare Trauer hinterlassen.

Aktuell kannten die Nachrichten nur ein Thema: den gewaltsamen Tod der Polizeipräsidentin. Ständig erreichten die Direktion neue Journalistenanfragen.

Während die Kripo um Lösungen aus der Misere rang, machten auch die Leute in der Pressestelle Überstunden. Kein leichterer Job. Die Reporter verlangten Auskünfte und nach einem solchen Tag ließen sie sich nicht mit Standardfloskeln abspeisen. Aber welche Ergebnisse sollte man präsentieren? Ein Irrer zog eine blutige Spur durch die Stadt und die Polizei war immer einen Schritt langsamer.

Selbst der sonst so steife Dezernatsleiter wirkte vor Betroffenheit endlich einmal wie ein Mensch. Er saß neben Stark und stierte entscheidungsunfähig auf die Tischplatte, als könnte er dort Antworten auf die drängendsten Fragen finden. Schließlich erhob er die Stimme. Sie klang leise, brüchig, wie von einem alten Mann.

»Zeigen Sie uns, was wir haben, Kollegin Kolka!«

Sofort richteten sich alle Augen auf sie. Doch was immer ihre Kollegen erwarteten, sie konnte an der derzeitigen Situation nicht das Geringste ändern. Selbst wenn man Weller innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden schnappte, machte das weder Lotte Andresen noch Polizeiobermeister Willi Brand lebendig.

Die Lage lässt sich mit einem Wort zusammenfassen

»Kacke!«

»Okay, das weiß wohl jeder hier im Raum«, sagte Totner. »Gibt es darüber hinaus etwas, das uns vorwärtsbringen könnte?«

So aufrecht wie möglich erhob sich Kolka und ging zur Wandtafel. Mit schwarzem Stift standen auf dem schneeweißen Untergrund sechs Namen geschrieben. Beginnend mit dem obersten, dachte sie im Stillen an jeden einzelnen Kollegen. Es waren all jene, die eine dieser kryptischen E-Mails von Weller erhalten hatten.

Lotte Andresen.

Andreas Totner.

Martin Kroll.

Henry Stark.

Felix Meissner.

Erik Donner.

Beim letzten Namen musste sie beinahe aufseufzen. Egal welche Gegenmaßnahmen man ergriff, Erik geriet stets ins Visier irgendwelcher Psychopathen.

»Sechs Unmöglichkeiten«, begann sie ihren Vortrag. »Eriks Botschaft lautete: Während der Appetit größer wird, denke ich an sechs Unmöglichkeiten. Ich glaube, diese Namen stehen für eine Todesliste. Weller will weiter morden, er hat Blut geleckt. Und er hat nichts mehr zu verlieren. Lassen wir Wellers Ehefrau und Obermeister Brand außer Acht, dann hat Erik den Hinweis auf das erste Opfer bekommen. Eine blutende Herzkönigin. Die Spielkarte stand für Lotte Andresen.«

Andächtige Ruhe. Stark nickte ihr zu. Dieser stumme Zuspruch fühlte sich für den Moment sogar gut an.

»Was habe ich mit Carl Weller am Hut?«, rief Kroll dazwischen. Selbst Totners missbilligender Blick führte nicht dazu, dass der Außendienstleiter das Reden einstellte. »Klar will ich den Mistkerl liebend gern hinter Gittern sehen, aber bisher habe ich nicht einmal einen Film von diesem Verrückten angesehen. Also warum stehe ich auf dieser Liste? Was für ein Problem hat er mit mir?«

»Das können wir uns bei den fünf anderen Namen auch fragen«, antwortete Kolka gefasst. »Felix hat Carl Weller festgenommen und ein Geständnis erpresst. Hier ist das Motiv eindeutig. Und Erik hat Weller zufällig im Kino getroffen.« Sie räusperte sich. »Beide sind aneinandergeraten.«

Totner und einige andere verdrehten die Augen.

»Auch bei den anderen Personen ist ein Bezug zu Weller vorhanden«, fuhr Kolka fort. Sie ließ sich nicht von den Gesten unterbrechen. »Henry hat Weller vernommen und nach der Festnahme wurde Herr Totner in den Zeitungen zitiert. Darin hat er den Mord an Eva Weller aufs Schärfste verurteilt und eine schonungslose Aufklärung der Tat angekündigt.«

Diesmal war es Totner, der in die eigene Faust hustete.

»Wir können davon ausgehen, dass Weller mit diesen vier eine Rechnung offen hat«, verkündete Kolka in felsenfester Überzeugung. »Tja, und Frau Andresen stand als Chefin der Polizeidirektion ohnehin im Fokus. Damit bleibst du als Letzter übrig …«

Kroll schnaubte. Im Gegensatz zu den üblichen Kraftsprüchen schien er das nicht witzig zu finden. Kolka übrigens auch nicht. Sie entfernte sich von der Tafel und ging zum Tisch. Dort stützte sie beide Arme auf.

»Gibt es etwas, das du uns verschweigst, Martin?«

Der Außendienstleiter, der einzige Schutzpolizist im Raum, sank ein Stück im Stuhl zusammen. Bereits in den letzten Minuten hatte er angefangen, mit der Zigarettenschachtel herumzuspielen und mit der Packung auf die Tischplatte zu klopfen. Anscheinend vermisste er seinen Partner. Üblicherweise rettete nämlich Ben Lichtenberg für seinen Chef die Situation.

»Martin?«, stimmte auch Totner auffordernd ein.

»Keine Ahnung, warum der Kerl mich rasieren will«, explodierte Kroll. »Ich habe in vierzig Dienstjahren einer Menge Leute in den Arsch getreten. Und dieselbe Anzahl hasst mich, allein weil ich atme. Wenn ich mich an jede Nase erinnern sollte, hätte ich im Kopf keinen Platz mehr für die angenehmen Dinge des Lebens.«

Totner und Stark ließen die Aussage unkommentiert. Alle Anwesenden stierten in eine andere Richtung.

Wenigstens ist er ehrlich.

»Das eingeritzte M im Rücken von Andresens Leichnam hat uns zu Wellers zweitem Opfer geführt«, redete Kolka weiter. »Aber weil wir Felix gerettet haben, konnte uns der Mörder am Tatort kein neues Rätsel aufgeben. Zumindest fanden die Kriminaltechniker keinerlei fingierte Spuren auf dem Gelände der Gießerei. Keinen einzigen Hinweis, der uns Auskunft über Wellers nächsten Schritt gibt.«

»Wenn wir Glück haben, ist ihm die Sache zu heiß geworden«, vermeldete Totner. »Vielleicht hört er auf, mit uns zu spielen.«

»Schwer vorstellbar«, erwiderte Kolka, womit sie sich umgehend finstere Blicke ihrer beiden Vorgesetzten einfing.

»Aber es wäre möglich«, ergriff Stark Partei für seinen Chef.

»Ich bin noch nicht fertig mit den Fakten«, sagte Kolka und hob das Kinn. »Bisher enthielten sämtliche E-Mails das Kürzel CL.«

Alle schauten sie fragend an.

»Ich glaube, es steht nicht für CARL.«

Asche und alter Zorn
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