Kapitel 33
Einige Zeit zuvor
Mit spürbar geringer Kraftanstrengung versuchte Dr. Szymenderski ihre Hand wegzuziehen. Er hielt sie fest. Wie bei einer zufälligen Geste streichelte er mit dem Daumen über ihren Handrücken. Erst als er die Psychologin lange genug angesehen hatte, beendete er die Begrüßung. Falls ihr die Berührung unangenehm war, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Pünktlich wie immer«, sagte sie, aber der Plauderton misslang. Unsicherheit machte sich auf ihrer Seite des Raumes breit.
»Und ich habe mich extra für Sie rasiert, Frau Szymenderski.« Er fuhr sich seitlich über den Kopf und von dort am Kinn entlang.
Ein verunsichertes Befeuchten ihrer Lippen folgte. »Setzen Sie sich doch!«
Statt der Aufforderung zu folgen, lief er wie ein Gastgeber im Zimmer umher. Mit dem Zeigefinger strich er über Skulpturen, Bücher und Bilder. Er wollte das Spiel ausreizen. »Beinahe siebzig Prozent der Frauen rasieren sich. Gehören Sie dazu?«
Die erwartete Empörung erstickte sie mit einem gedämpften Lacher. »Ich glaube nicht, dass ich zu einem solch intimen Gespräch bereit bin.«
»Ich rede von Achseln und Beinen, was dachten Sie?«
»Sind Sie sich da sicher?«
Ein gelungener Gegenstoß von ihr. Das musste man ihr lassen.
»Mir missfällt, wenn Sie sich derart arrogant geben«, setzte sie hinzu. »Das passt nicht zu Ihnen.«
Wie ein braver Junge setzte er sich. Dabei schob er die Knie wie ein böser Junge auseinander, sodass sie uneingeschränkte Sicht auf seinen Schritt hatte. »Oh, Sie mögen es. Wenn ich äußerlich nicht so entstellt wäre, würden Sie mich anziehend finden. Leider können Sie nicht hinter die Maske schauen. Hinter den Spiegel … Kommen Sie schon, ergründen Sie meine Seele. Geben Sie sich Mühe! Entdecken Sie das Kind, das sich nach Liebe sehnt.«
»Liebe? Ist es das, was Sie vermissen?«
Ja, er hatte sich verliebt. Von der ersten Sekunde, als er sie gesehen hatte, war er ihr verfallen. Nur aus diesem Grund benahm er sich wie ein Volltrottel. Es wunderte ihn selbst, wie schnell er sich nach seinem persönlichen Unglück in ihrer Gegenwart geborgen fühlte. Er forderte sie nur heraus, um seine Unsicherheit zu überspielen. »Jeder braucht Liebe. Ersatzweise tröstet man sich mit anderen Dingen.«
»Ich bin gespannt, welche Dinge Sie meinen. Am ehesten denke ich bei Ihnen an zügellose Leidenschaft. Leidenschaft, die sich in Aggressionen entlädt.«
»Sind Aggressionen schlecht?«
»Nicht unbedingt. Verärgerung und Gewalt sind uns Menschen angeborene Eigenschaften. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. In Maßen spornen sie uns zu Höchstleistungen an. Sie sind Polizist, also gehört ein gewisses Aggressionspotenzial dazu. Ohne dieses wären Sie nicht gut genug für diesen Beruf. Doch natürlich müssen Sie jederzeit besonnen handeln. Können Sie das? Haben Sie Ihre Aggressionen im Griff?«
Das Thema langweilte ihn. Genau genommen wollte er es nicht verstehen. »Warum belügen Sie mich?
»Wie meinen Sie das?«
»Sie haben eine vorgefertigte Meinung über mich. Das Ergebnis des Gutachtens steht fest. Geben Sie es zu, Sie wollen der Polizeiärztin einen Negativbescheid über mich ausstellen. Na los, versetzen Sie dem Krüppel einen Tritt!«
»Versuchen Sie, mich zu beeinflussen, indem Sie mir ein schlechtes Gewissen einreden wollen?«
»Nein, ich will erforschen, welche Antwort Sie mir geben würden, falls ich Sie zum Essen einlade.«
Eine ihrer Augenbrauen hüpfte. Sie wedelte mit der Hand. Etwas Trübsinniges lag nun in Ihrem Blick. »Bitte hören Sie auf damit! So funktioniert diese Unterhaltung nicht.«
»Es ist mein voller Ernst.« Der Satz kam mit Nachdruck. »Ihr Lächeln ist bezaubernd und in dem blauen Rock und der seidenen Strumpfhose sehen Sie äußerst attraktiv aus.«
»Finden Sie?« Sie beugte sich im Sessel leicht nach vorn und betrachtete ihre Beine.
Er zupfte den Hemdkragen zurecht. Dann fuhr er sich mit zwei Fingern am Ausschnitt über den Brustansatz. »Entschuldigen Sie, falls ich Sie verärgert habe. Sie sind eine tolle Frau.«
Sie gab ihre aufmerksame Sitzhaltung zugunsten einer regelrechten Abwehrstellung auf. »Auch wenn meine folgende Aussage auf Sie wenig professionell wirken mag: Aber bisher haben Sie sich wie ein Idiot aufgeführt.«
»Weil …«
»Nein, jetzt rede ich! Sie hatten Ihre Chance. Statt sich auf unsere Gespräche einzulassen, weichen Sie jeder meiner Frage aus und machen sich über mich lustig.«
Er breitete die Arme aus. »Überredet! Stellen Sie mir eine Frage, die uns vorwärtsbringt. Ich verspreche, ich werde Ihnen eine ehrliche Antwort geben.«
Ihre Haltung ließ Skepsis erkennen.
»Na, kommen Sie schon, Frau Doktor!«
Ihre Augen wurden schmal und gefährlich. »Gab es in Ihrer Kindheit ein Ereignis, das Sie besonders geprägt hat?«
Gut getroffen!
Von nun an musste er höllisch aufpassen, was er ihr anvertraute. Es gab Dinge, die besser niemand erfahren sollte. Nur weil er Polizist war, hieß das nicht, dass er keine Geheimnisse hütete.
Er setzte sich lässig hin und feixte. »Ja, es gibt ein solches Ereignis. Ich hatte geglaubt, es verarbeitet zu haben. Jetzt bin ich mir sicher, dass mein aufbrausendes Temperament damit zusammenhängt.«
»Sprechen Sie es aus.«
»Als Kind habe ich mal einer Katze eine Bohrmaschine in den Schädel gerammt. Direkt ins Auge.«
Stille.
»Es hat mehrere Versuche gebraucht. Sie wollte den Kopf einfach nicht stillhalten, weshalb der Bohrer immer abrutschte. Ihre Krallen haben mir die Haut aufgerissen, aber dafür habe ich ihren Hals festgehalten. Weil die Katze weiterlebte, musste ich ihr danach mehrmals in den Bauch bohren. Zum Glück war das alles nur ein Traum.«
»Sie haben davon geträumt, eine Katze auf solch fürchterlich Weise zu quälen?«
»Zu töten. Ja, ich kann es mir selbst nicht erklären. Der Traum kam mir auch nur ein einziges Mal, aber ich musste oft daran zurückdenken. Schockiert Sie das?«
»Nein.«
Sie war schockiert. Ihre Augen verrieten es.
»Ich war jedenfalls entsetzt, Frau Dr. Szymenderski. Was hat das zu bedeuten?«
»Können Sie sich an weitere Gewaltfantasien erinnern?«
»Na ja, es kann sein, dass ich echte Grashüpfer, Schnecken und Fliegen verstümmelt habe. Aber ich glaube, das machen Jungs in dem Alter manchmal.«
»Ich verstehe …« Sie sah auf ihre Uhr. »Noch eine Frage: Hatten Sie als Kind Spaß dabei?«