Kapitel 47

Kolka parkte ihren Wagen direkt vor der Absperrung. Die Stoßstange berührte das im Wind taumelnde rot-weiße Polizeiband. Flackerndes Blaulicht gab der Nacht einen hektischen Anstrich.

Gleich nachdem sie aus dem Fahrzeug sprang, nickte ein Streifenbeamter ihr zu und ließ sie passieren. Starks Grundstück ähnelte dem Schauplatz aus einem Krimi. Derart viele Polizeibeamte hatte die Nachbarschaft unter Garantie noch nie in der Gegend gesehen. Entsprechend neugierig standen die Anwohner am Gartenzaun. Vereinzelt flammten die Blitzlichter von Handykameras auf.

Nach der Nachricht vom Überfall auf Stark und dessen Frau hatte Dezernatsleiter Totner angeordnet, dass die große Schiene gefahren werden sollte. Sämtliche Bereitschaftsdienste waren alarmiert worden. Sogar die Tatortgruppe vom LKA hatte man angefordert.

Als Kolka über die Türschwelle trat, stellte sie als Erstes fest, wie geschmackvoll das Haus eingerichtet war. Selbst die schwarze Tapete im Hausflur sah edel aus und das enthaltene Muster machte die Räume keineswegs eng. Vielleicht kam es auch von den hellen Bodenfliesen, die einen interessanten Kontrast zu den Wänden darstellten.

Ein Kriminaltechniker musterte sie, als hätte sie sich verlaufen. Ein anderer drängelte sich mit einer REM-Mobilbox an ihr vorbei. Mit den zehn darin befindlichen Stiftprobentellern wollte offenbar jemand Schmauchspuren sichern.

Am Telefon hatte man ihr mitgeteilt, dass in Starks Haus ein Schuss abgegeben worden war. Im Wohnzimmer fand sie ihren Chef dann auch. Seine Frau presste gerade eine Kühlpackung an ihre Schläfe und reichte ihm gleichzeitig ein Taschentuch, während ein Rettungsassistent hinter ihm mit einer Halskrause wartete. Offenbar hatte er ordentlich was abbekommen. Dem Wimmern nach zu urteilen, lebte er noch.

Die beste Nachricht des Tages!

Nein, sie würde ihm nicht um den Hals fallen. Aber erleichtert war sie trotzdem.

Als er sie erblickte, winkte er sie sofort zu sich. »Du musst ihn kriegen! Versprich mir, dass du nach dem Aufstehen, beim Essen, beim Toilettengang und selbst beim Vögeln nur an Weller denkst.«

»Henry!«, tadelte seine Frau ihn.

Wie spricht er denn?, dachte auch Kolka. Es scheint ihn ordentlich erwischt zu haben.

»Alles, was du willst, Henry.« Dabei dachte Kolka daran, dass sie vor Überstunden kaum noch aus den Augen schauen konnte. Wieder ein Fall, der an die Substanz ging. Das war jedoch nicht der richtige Moment, um ihm zu offenbaren, dass auf ihrem Dienstlaufwerk ein Versetzungsgesuch schlummerte.

»Erschieß ihn, viertele ihn oder mach ihn mit deinem Wagen platt. Aber ich will, dass du ihn zur Strecke bringst.«

»Henry!«

Die neuerliche Ermahnung seiner Frau ignorierte er ebenfalls. Eisern sah er Kolka an und flüsterte: »Gib mir dein Wort!«

»Hast du schon.«

Kolka seufzte. Was blieb ihr auch anderes übrig? Einem Mann, der so schlecht aussah wie Stark, konnte sie keinen Wunsch abschlagen – selbst wenn sie nicht wusste, wie sie Weller zur Strecke bringen sollte. Dieser Killer war unberechenbar.

»Weller hat meinen Hund kaltgemacht. Mein treuer Marshall …« Stark verbarg sein Gesicht in den Händen. Dann schrie er kurz auf. Vermutlich kam das von den Schmerzen im Gesicht. Sein Haut am Unterkiefer hatte eine bedrohlich dunkle Färbung angenommen.

Prompt näherte sich von hinten der Rettungsassistent mit der Halskrause. Kolka fand es seltsam, ihren Chef in Tränen zu sehen. Bis heute hatte sie nicht geglaubt, dass er überhaupt eine derartige Emotion zeigen konnte.

»Das mit den Eiern, war er das?«, fragte Kolka.

»Nur eines von Wellers Arrangements. Der Kerl hätte ebenso gut Horrorfilme drehen können. Und jetzt sieh dir endlich an, was er in der Küche mit Blut hinterlassen hat. Na los, geh schon!« Stark wandte sich seiner Frau zu und strich ihr übers Gesicht. »Geht es dir wirklich gut, mein Engel?«

»Mach dir um mich keine Sorgen.« Sie küsste ihn auf die Stirn, was er mit einem unterdrückten Schmerzlaut quittierte.

Diese Verbundenheit fand Kolka irgendwie kitschig, aber vor allem rührselig. Während sie davonschlich und das Zimmer wechselte, dachte sie an ihre Beziehung mit Erik.

Ob er so etwas auch zu mir sagen würde? Wohl kaum. Eher findet er einen Spruch wie: Du gerätst wohl immer in Schwierigkeiten?

Doch da wusste sie bereits, wie unrecht sie ihm tat. Erik würde ohne Rücksicht auf eigene Verluste um sie kämpfen. Deshalb liebte sie ihn.

Bedacht, die Arbeit der Kollegen nicht unnötig zu erschweren, betrat sie entlang des von den Kriminaltechnikern vorgegebenen Zugangs die Küche. Als sie den toten Hund sah, musste sie sich wegdrehen.

Ein Kriminalbeamter, der neben ihr stand, legte den Finger auf seine Lippen und deutete Richtung Wohnzimmer. Kolka verstand: Kein Wort über den Hund in Starks Gegenwart.

Sie überwand das Ekelgefühl und warf einen erneuten Blick in den Raum. Quer an den weißen Hängeschränken aufgebracht erkannte sie Wörter. Zusammen ergaben sie einen Satz, den jemand mit Blut und in windschiefen Buchstaben geschrieben hatte.

 

Zwei Männer gehen in die Kirche hinein, einer kommt als Seliger heraus, der andere büßt ewig.

 

Sosehr sie sich anstrengte, der Satz wollte ihr nichts sagen. Sie glaubte kaum, dass sie ihn bei einer Durchsicht der Akten finden würde. Gewöhnlich erinnerte sie sich an derartige Details. Zudem war sie sich sicher, dass es sich dabei auch nicht um ein abgewandeltes Zitat aus den Alice-Büchern handelte. Zudem fehlte das Kürzel CL.

»Weiß jemand, was das bedeuten soll?«, fragte sie an niemand bestimmten gerichtet. Von allen Seiten begegnete ihr die gleiche stumme Ratlosigkeit.

Im Nachbarraum schrie ihr Chef kurz auf. Offenbar hatten die Schmerzmittel ihre Wirkung noch nicht vollständig entfaltet. Starks medizinische Versorgung würde wohl im Krankenhaus ihren Abschluss finden.

Sie prägte sich das blutige Szenario ein und betrachtete nacheinander die anderen Zimmer im Erdgeschoss.

»Geh bloß nicht ins Schlafzimmer!«, erklang plötzlich Starks Stimme, gefolgt von einem »Au!«

Sie drehte sich auf der untersten Stufe um. Stark stand im Türrahmen und hechelte schwer. Trotz der Decke, die man ihm über die Schultern gelegt hatte, konnte sie seinen wulstigen Brustansatz und die Haarbüschel am Bauchnabel erkennen.

In deinen altmodischen Hemden gefällst du mir um Welten besser.

»Warum nicht?«, stellte sie sich unwissend und suchte einen weniger verstörenden Fixpunkt. Den fand sie im treuherzigen Gesicht seiner Ehefrau.

»Ich möchte nicht, dass du deinen Chef plötzlich mit anderen Augen siehst«, erklärte Stark hustend. »Gewisse Ordnungen sollte man unverändert lassen.«

Den Drang, trotzdem die Treppe hinaufzusteigen und einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen, unterdrückte Kolka so gut es ging. Vielleicht war es wahrlich besser, nicht zu wissen, was sich da oben abgespielt hatte.

An der Eingangstür setzte jemand einen Akkuschrauber an.

»Wie ist Weller ins Haus gekommen?«, wollte Kolka wissen.

»Die Fachleute bauen das Türschloss aus. Sie vermuten einen Nachschlüssel.«

Das ist äußerst beunruhigend.

Kolka dachte an den Tag, als Weller um ihr Haus geschlichen war und Gerry umgebracht hatte. Wenn sich die Theorie mit dem Nachschlüssel bewahrheiten sollte, wäre niemand mehr sicher. Allerdings gab es da eine Unstimmigkeit …

»Wie soll er an das Original rangekommen sein?«

Stark hob eine Hand. Eine unschlüssige Geste. »Nach allem, was bisher geschehen ist, glaube ich allmählich, dass der Kerl fliegen kann.« Er hustete wieder. »Du weißt, was du zu tun hast!«

Gerade als der Notarzt das Startzeichen zum Aufbruch gab und zwei Rettungskräfte Stark stützen wollten, kam einer der Kriminaltechniker freudestrahlend auf sie zu.

»Ich gratuliere Ihnen, Kollege Stark!« In seinen behandschuhten Fingern hielt er ein Cellophantütchen und eine Pinzette mit einem leicht deformierten Projektil. Beides reckte er in die Höhe. »Wie es scheint, haben Sie den Mistkerl erwischt. Es steckte auf Schulterhöhe in der Wand, direkt neben der Eingangstür. Ich tippe auf einen Streifschuss.«

Kolka trat näher und betrachtete das Projektil einer 9mm-Patrone. »Sind das Blutanhaftungen?«

Der Kriminaltechniker grinste bloß.

Asche und alter Zorn
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