Kapitel 44

Peter Bahrens stand vor der wiederaufgebauten Kirche. Vor gut zwanzig Jahren war das Bauwerk zu zwei Dritteln abgebrannt. Der neue Architekt hatte sie kleiner konstruiert als ursprünglich. Bei der Renovierung hatte man auf die Kreuzspitze von damals verzichtet.

Im Jahr 1931 von einem Lager zu einem Kirchenraum umfunktioniert, hatte man das Gotteshaus auf den Namen eines Franziskanermönchs getauft, der sich im zwölften Jahrhundert der Armen und Kranken angenommen hatte.

Arme und Kranke!

Darüber konnte Bahrens nur bitterlich schmunzeln. Der Pfarrer, der hier einst ums Leben gekommen war, hatte sich auch um Kranke gekümmert. Wie ein Teufel. Mit dämonischer Predigt hatte er sich Bahrens Mutter geholt. Dabei hätte sie lieber einen Arzt aufsuchen sollen, anstatt sich auf das Geschwätz des angeblichen Gottesmannes zu verlassen. Sprichwörtlich eingeimpft hatte der Pfaffe ihr, dass nur Gott dazu fähig sei, sämtliche Leiden zu beenden.

Beenden!

Am Ende war Bahrens Mutter von den Worten des Predigers derart verblendet gewesen, dass sie nicht einmal mehr mitbekommen hatte, wie sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte. Glomerulonephritis. Eine beidseitige Entzündung der Nieren. Sie hatte es wohl als göttliche Prüfung gesehen. Damals, genau am heutigen Herbsttag, war sie im Krankenhaus an einem akuten Nierenversagen gestorben. Der Arzt hatte ihr eine Nacht gegeben. Entsprechend minimal waren die Bemühungen des Klinikpersonals ausgefallen. Sie hatten getan, was sie tun mussten. Und das war wahrlich nicht viel. Sieben Stunden nach Einlieferung hatte das Elektrokardiogramm aufgehört, die Herzspannungsänderungen zu messen.

Am Ende blieb nur die Einäscherung.

Sie war zu Asche geworden.

Klick!

Das Blitzlicht des Fotoapparats tauchte die Umgebung für Millisekunden in ein leuchtendes Gewand. Bei Dunkelheit entfalteten die Aufnahmen einen besonderen Charme.

Bahrens lief zu allen vier Ecken und machte Fotos. Zu schade, dass er keine Gelegenheit hatte, ins Innere der Kirche zu gelangen. Vielleicht sollte er seine Abscheu überwinden und an einem Gottesdienst teilnehmen. So könnte er sich für eine Stunde oder mehr am Duft des Todes laben. An dem einzigartigen Geruch von Mord. Verbrannte Haut. Verbranntes Haar. Verbrannte Nägel. Organe, die unter der Hitze schmolzen und platzten. Augäpfel, denen das Feuer die Feuchtigkeit raubte und sie in schwarze, verschrumpelte Bällchen verwandelte. All das würde er innerhalb der Mauern empfinden. Überlagert von einer Spur Weihrauch. Dank der Chemorezeptoren in der Nasenschleimhaut könnte er einen außergewöhnlichen Rückblick erleben. Wie eine Kameraaufzeichnung von damals. In bunt und mit Geschmack.

Er schmatzte, leckte sich über die Wangeninnenseiten.

An einer Ecke, wo ihn niemand sah, öffnete er seinen Rucksack und holte Einweghandschuhe heraus. Als er sie übergestreift hatte, griff er nach Watte und einer Ampulle. Er schnüffelte am Mauerwerk dicht über dem Erdboden. Dabei musste er an mehreren Stellen ansetzen, bis er die passende Ritze fand. Ja, hier war ein guter Fleck, um die Geruchsprobe einzufangen.

Mit einer Pinzette zupfte er ein Stück von der Watte ab und hielt sie so dicht wie möglich an die Mauerfuge. Der Brandgeruch vom damaligen Feuer war an dieser Stelle am stärksten ausgeprägt.

Akribisch verfolgte er den Sekundenzeiger seiner Uhr. Drei Minuten sollten reichen. Immerhin handelte es sich um Spezialwatte aus Indien. Bahrens hatte unzählige Hersteller getestet. Diese saugte Gerüche am besten auf.

Zu Hause würde er die Ampulle mit dem heutigen Datum versehen und einlagern. Wie guten Wein.

Der Mensch kann zehntausend Gerüche unterscheiden. Allerdings hatten Wissenschaftler diese Anzahl bereits bis in die Billion korrigiert. Bahrens war es gleich. Sein Riechorgan war dem der meisten Mitmenschen weit überlegen. Nur das zählte.

Fertig!

Sorgsam stopfte er den gefüllten Wattebausch in die Ampulle. Mit zittrigen Fingern setzte er den Deckel auf.

Plötzlich erfassten Scheinwerfer ihn. Wie eine verschreckte Katze krümmte Bahrens den Rücken zum Buckel und zog sich tief in die Ecke zurück. Langsam fuhr ein Fahrzeug auf ihn zu. Das Licht blendete ihn.

Eine Polizeistreife! Sollte er wegrennen? Nein, dann machte er sich erst recht verdächtig. Schließlich tat er nichts Verbotenes, allenfalls etwas Sonderbares. Falls man ihm misstraute, würde man ihm dennoch nichts nachweisen können. So wie damals. Bahrens kannte sich in der Strafverfolgung aus.

»Hey, Sie!«, tönte eine Männerstimme. »Aufstehen!«

Nicht zu hastig gehorchte Bahrens. Vorsichtshalber hielt er die Handflächen ins Licht.

Fahrzeugtüren schlugen zu. Zwei Polizisten kamen mit Taschenlampen herbei. Ein Mann und eine Frau. Beide hatten die freien Hände an den Pistolen.

»Was haben Sie da?«

»Eine Pinzette und eine kleine Ampulle aus Glas.«

Die Beamten traten näher und verblieben in aufmerksamer Haltung drei Schritte von ihm entfernt.

»Was machen Sie damit?«

»Ich sammle Gerüche.«

Die beiden Polizisten sahen sich an. Die Frau lachte als Erste los. Auch wenn Bahrens es alles anderes als lustig fand, stimmte er mit ein.

»Wollen Sie mal riechen?« Er streckte den Arm mit der Ampulle nach vorn.

»Hauen Sie bloß ab mit dem Zeug!«, schimpfte der Polizist. »Haben Sie einen Ausweis dabei?«

»Sicher doch, im Rucksack.«

Reglos blieb Bahrens stehen. Mit den Stoffflicken seines Mantels, der an den Ellenbogen bereits dünn wurde, und dem strähnigen grauen Haar musste er auf die Beamten wie ein Streuner wirken. Wie jemand, der des Nachts nach Diebesgut Ausschau hielt.

Die Polizistin bückte sich und durchwühlte den Inhalt des Rucksacks. Wie sie mit ihrem dicken Arm darin herumruderte, versetzte es Bahrens einen Stich. Hoffentlich machte die dumme Pute nichts kaputt.

»In der Gegend wird öfters gestohlen«, sagte der Polizist und leuchtete Bahrens drohend ins Gesicht.

Bahrens sah unschuldig zur Seite. »Was gibt es denn hier zu klauen?«

»Fallrohr und Blitzableiter. Kupfer, um es auf den Punkt zu bringen. Haben Sie davon etwas einstecken? Oder Werkzeuge?«

Bahrens verneinte. Die Polizistin konnte ebenfalls nichts Verdächtiges finden. Aufmerksam studierte sie den Ausweis.

»Sie wohnen nicht in Frankenberg.«

»Nein, ich warte auf den Nachtzug. Dann fahre ich dorthin zurück, wo ich herkomme.«

Die beiden Beamten nickten sich zu. Gleichzeitig zuckten sie mit den Schultern. Anschließend warf die Polizistin Bahrens den Rucksack hin, wodurch ihm fast die Ampulle aus den Fingern glitt.

»Okay, verschwinden Sie aus unserer Stadt«, sagte der Polizist.

Bahrens eilte davon. Der Ärger kratzte in seinem Hals wie Schleifpapier. Die Wut, wie ihn die Gesellschaft behandelte.

Während der Heimfahrt im Zug dachte er darüber nach, wie es in seinem Leben weitergehen sollte. Die Verzweiflung mündete darin, dass er am Inhalt der Ampulle schnüffeln musste. Der eingefangene Brandgeruch der Kirche entfachte seinen Trieb. Die Leidenschaft für Feuer.

Schon vor Tagen hatte er ein neues Objekt ins Auge gefasst.

Asche und alter Zorn
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