Kapitel 45
Vielleicht war es ein Risiko. Vielleicht aber auch ein lohnendes Unterfangen. Ohne großen Lärm zu verursachen, betrat Kolka Wellers Wohnung ein zweites Mal. Bis zu ihrem Eintreffen war das Polizeisiegel unversehrt gewesen. Nun klebten die Reste an ihren Fingern. Man konnte sogar noch das Datum und Marie Lehnhards Unterschrift erkennen. Lehnhard hatte eine sehr saubere Handschrift. Besser als Kolkas eigene. Dafür schaffte sie am Computer knapp dreihundert Anschläge pro Minute.
Sie entfernte die Siegelreste von der Haut und knüllte das Papier zusammen. Später beim Verlassen der Wohnung würde sie ein neues über den Türrahmen kleben.
Ihre Aufmerksamkeit galt dem Schreibtisch. Wie beim letzten Mal lag dort das Buch Alice im Wunderland. Es befand sich an der rechten vorderen Ecke.
Aufgrund der Fotos von der Tatortarbeit am Tag von Wellers Festnahme wusste Kolka, dass jemand das Buch nachträglich dorthin gelegt hatte. Sie hatte sämtliche Kollegen befragt, die am Festnahmetag die Räume betreten hatten, aber niemand hatte das Buch angerührt. Wozu auch? Damals konnte keiner wissen, dass Weller die Geschichte als Gestaltungsprogramm für seine Morde nutzen würde. Also musste Weller es dort absichtlich positioniert haben, um den Ermittlern einen unheimlichen Hinweis zu geben. Eine von vielen fingierten Spuren. Sie waren Teil des Spiels.
Stellte sich die Frage: Wie hatte Weller das Polizeisiegel überwunden?
Natürlich blieb die Möglichkeit, dass ein Kollege Kolka angelogen hatte. Aus Schamgefühl wegen einer Nachlässigkeit. Aber ihr Gefühl riet ihr, andere Erklärungen zu suchen.
Als sie durch das Zimmer schritt, schaute Kolka mehr als einmal hinter sich und die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Der Kühlschrank brummte und in irgendeinem Winkel knackte es kurz. Hier in der obersten Etage rüttelte der Wind besonders heftig an den Fenstern. Das war ihr damals nicht aufgefallen.
Aus unerfindlichen Gründen kam es ihr plötzlich leichtsinnig vor, die Wohnung eines Mörders allein zu betreten. Eigentlich würde sie als Gesuchter niemals so unvorsichtig sein und hierher zurückkehren. Leider war genau das geschehen. Das Daliegen von Alice auf dem Schreibtisch deutete darauf hin, dass Weller nach seiner Flucht aus der Gewahrsamszelle zurückgekehrt war.
Eine unangenehme Vorstellung.
Von der erdrückenden Einsamkeit der Wände umgeben, schlug Kolka das Buch auf, um sich abzulenken. Ohne konkret etwas zu suchen, blätterte sie es von vorne nach hinten und danach von hinten nach vorne durch. Bis auf das eingelegte Jabberwocky-Gedicht fand sie keine Auffälligkeiten. Zuletzt fiel ihr Blick auf den Bibliothekstempel.
Es war nur eine vage Idee, aber vielleicht half dieser ihr weiter. Sie holte ihr Smartphone hervor und öffnete den Internetbrowser. Offenbar gab es die Stadtbibliothek noch. Im ländlichen Bereich wurde dies mehr und mehr zur Seltenheit. Wider Erwarten fand Kolka sogar eine eigene Homepage. Sie klickte auf den Link. Vor allem die Öffnungszeiten interessierten sie.
Weil sie es in dem Zimmer nicht länger aushielt, lief sie rasch zur Tür. Das Buch steckte sie ein. Zurück hinter dem Lenkrad ihres Fahrzeugs, atmete sie erleichtert aus.
Was ist denn nur mit mir los?
Innerhalb der letzten Minuten hatte sie ein ungewohntes Herzrasen verspürt. Allmählich schien der Job an ihre Substanz zu gehen.
Dabei dachte sie an ihre ermordeten Kollegen. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass irgendetwas oder irgendjemand Martin Kroll zu Fall bringen könnte. Doch es war geschehen.
Knapp vierzig Minuten später erreichte sie die Stadtbibliothek Frankenberg. Was genau sie suchte, wusste sie selbst nicht. Dennoch kam ihr das Buch wie ein Strohhalm vor, an den sie sich klammerte.
In der Bibliothek ging es stiller zu als bei einer Andacht. Obwohl es sich nur um eine größere Wohnung handelte, in die man lauter Bücherregale von IKEA hineingestellt hatte, dauerte es eine Weile, bis jemand Kolka bemerkte. Eine junge Frau, die aussah wie eine Literaturstudentin, begrüßte sie mit einem herzlichen Guten Tag. Vermutlich ging sie einem Semesterjob nach.
»Kriminaloberkommissarin Kolka«, stellte Kolka sich mit ihrer Marke vor.
»Oh, die Polizei!«, flötete die Dame aufgeregt und ein wenig ängstlich.
Ohne Umschweife hielt Kolka ihr das Buch vor die Nase. Gleichzeitig bezweifelte sie, dass die junge Frau ihr weiterhelfen konnte. Laut dem Bücherreistempel war sie zur Zeit der Ausleihe allenfalls ein Kleinkind gewesen. Kolka probierte es trotzdem.
»Bekommen Sie heraus, wer dieses Exemplar zuletzt ausgeliehen hat?«
»Oh«, zirpte die Dame wieder. »Kann ich es einmal sehen?«
Mit einem Nicken überließ Kolka es ihr. »Es wurde offenbar nie zurückgegeben.«
Erneut ertönte ein »Oh!« Aber die Dame, die zumindest einen netten Eindruck machte, schüttelte recht schnell den Kopf. »Tut mir leid, ich arbeite erst seit einem Jahr hier. Aushilfsweise, weil ich Literatur studiere.«
In diesem Moment war Kolka glücklich, nur hin und wieder ein Buch der Weltliteratur gelesen zu haben.
Bloß gut, dass aus mir nie ein Bücherwurm geworden ist. Ansonsten würde ich auch in solch einer einsamen Höhle sitzen und den wenigen Besuchern ein freundliches Lächeln schenken, während das wahre Leben an mir vorbeigerauscht wäre.
Sicher tat sie der Dame damit unrecht, doch sie konnte diesen Gedanken nicht wegdenken.
Müde und betrübt vom ernüchternden Ergebnis schaute Kolka sich um. So viele Wörter umgaben sie und doch fand sie hier keine Antworten. »Na ja, es war nur ein Versuch.«
»Warten Sie!«, rief die Dame. Einen Moment überlegte sie, dann überzog ein Strahlen ihr Gesicht. »Ich hole schnell meine Kollegin. Die kann Ihnen eventuell weiterhelfen.« Damit verschwand sie und kehrte mit einem greisen Mütterchen zurück. Die Jüngere stützte die Alte. Es war fast wie bei einem Blindenführhund.
»Sie sind Kommissarin?«, fragte die Alte prompt und schaute irgendwo hin, nur nicht in Kolkas Richtung.
»Ich bin hier!« Kolka wedelte mit dem Buch.
»Das sehe ich.«
Ja, na klar! Jeder Maulwurf würde einen Sehwettbewerb mit deutlichem Abstand gegen Sie gewinnen.
Froh darüber, sich eine zweite Meinung einholen zu können, hielt sie der Alten das Buch hin. »Zu der Zeit, als man es ausleihen konnte, gab es sicherlich noch keine Computer. Deshalb wäre es für eine Ermittlung außerordentlich hilfreich, wenn Sie den letzten Ausleihvorgang recherchieren könnten.«
Die junge Dame nahm ihr das Buch ab und legte es in die schrumpeligen Finger der Alten.
»Geht es um einen Mordfall?«, fragte diese.
Wenn deine Augen nur halb so scharf wären wie dein Verstand, Mütterchen, könntest du mir direkt bis auf die Metallbügel meines BHs sehen.
»Können Sie mir helfen?«
»Bestimmt geht es um Mord, das geht es doch immer«, murmelte die Alte. Sie drückte das Buch an die Stelle, wo früher einmal ein Busen gewesen sein mochte, und drehte sich einfach um. »Wir melden uns bei Ihnen.«
»Hey, ich brauche …«, protestierte Kolka, da sie das Buch nicht hierlassen wollte.
»Wir melden uns!«