Kapitel 43
Abendstille.
»Lässt du mich rein oder spielst du weiter den Türsteher?«
Schon seit einer Weile stand Donner vor der Tür. Er konnte die Gedanken seines Vaters nicht erraten. Sicher waren es keine herzlichen. An diesem Abend schien er sich zu fragen, ob da wirklich sein Sohn im Hausflur stand.
»Wenn du gekommen bist, um mir Vorhaltungen zu machen, kannst du gleich wieder gehen«, antwortete Franz Donner endlich.
»Dafür bin ich wahrlich nicht in Stimmung.«
Sein Vater schnaubte. Bei dem Feinripphemd und den ausgetretenen Pantoffeln hätte selbst der ärmste Bettler von Mexiko Mitleid mit ihm gehabt.
Du verwandelst dich von Tag zu Tag mehr in einen Zombie.
Als Donner an ihm vorbeischritt, musterte er die Wohnung, ob er einen Hinweis darauf fand, dass Lotte Andresen ihn in letzter Zeit heimlich besucht hatte. Andererseits konnte er beim Anblick der Uralttapete und der fleckigen Auslegware schwerlich glauben, dass eine attraktive Frau, wie es die Polizeipräsidentin gewesen war, die Höhle eines Trolls jemals aufgesucht hätte.
Nein, Donner konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Andresen an seinem Vater interessant gefunden hatte. Früher mochte er ein adretter Mann gewesen sein. Inzwischen war er nur noch ein alternder Kleinbürger.
Und ohne die Hilfe von Anne fürchtete Donner, dass er selbst sich einmal auch in einen verwandelte.
»Hast du was zu trinken?«
Krachend schlug die Tür hinter ihm zu. Sein Vater schaute ihn mit der strengen Miene von früher an. »Du redest von Schnaps?«
»Je hochprozentiger, desto besser.«
»Du weißt, dass ich jeden Tropfen vor Mutter verstecken muss.« Mit unverständlichem Gemurmel ließ Franz Donner ihn auf der Türschwelle stehen und schlurfte Richtung Wohnzimmer. »Außerdem kann ich nicht tatenlos zusehen, wie du dich besäufst. Das bedeutet übrigens nein!«
»Der Alkohol ist nicht für mich.«
Als hätte er sich verhört, stoppte sein Vater mitten im Türrahmen und schwang herum. Seine Augen huschten wie die eines Dachses umher.
Die Trauer, die Donner empfand, legte er in ein Nicken. »Glaub mir, mit Hochprozentigem verdaust du die Nachricht besser.«
»Nach Lottes Tod kann mich nichts mehr schocken. Höchstens ein weiterer Unglücksfall deiner Mutter.
Deiner Mutter! Sie ist deine Ehefrau! Vergiss das nie.
Weil Donner nicht auf Streit aus war – denn er wollte sich ernsthaft bessern –, vermied er es, ihn darauf anzusprechen. »Dann solltest du dich wenigstens setzen.«
»Wenn man in diesem Land sämtliche Geheimniskrämer erschießen würde, hätte ich schon lange keinen Sohn mehr.«
Liebenswürdig wie immer. Wie gefällt dir das?
»Martin Kroll wurde umgebracht.«
Als ereilte ihn ein Herzinfarkt, wankte Franz Donner. Nur der Griff zum Türrahmen rettete ihn vor dem Sturz.
»Was sagst du da? Martin ist …?«
»Hast du die Abendnachrichten verfolgt?«
»Du meinst, der Polizist in der Tiefgarage war …«
Wieder nickte Donner. »Dein ehemaliger Streifenpartner.«
Selbst im schlecht beleuchteten Flur konnte Donner sehen, wie alle Farbe aus dem Gesicht seines Vaters wich. Dann patschte seine Hand auf eine nebenstehende Kommode.
»Jetzt brauche ich doch einen Schnaps.« Als hätte er bereits das dritte Glas intus, schwankte Franz Donner ins Hobbyzimmer.
Von dort hörte Donner es rascheln und poltern. Anscheinend kramte sein Vater in einem besonders geheimen Versteck. Kurz darauf kam er mit einer Doppelkornflasche zurück. Immerhin zu drei Vierteln voll.
Gemeinsam setzten sie sich auf die Couch im Wohnzimmer und tranken anschließend ein Glas nach dem anderen. Doch die fürchterliche Nachricht und die Trauer konnte selbst der Geist aus der Flasche schwerlich vertreiben.
Martin Kroll war tot.
Diese Tatsache schwebte schonungslos wie ein brechreizerregender Gestank im Raum.
»Du solltest eine Aussage machen, ehe noch mehr Leute sterben«, kam Donner irgendwann auf den Besuch seines Vaters bei Andresen zu sprechen. »Wenn du etwas bemerkt hast, müssen wir es wissen.«
»Keine Chance.« Franz Donner tauchte seine Zunge in das Schnapsglas. »Jeder muss auf seine Weise damit abschließen.«
»Du könntest helfen, den Mörder zu finden.«
»Schluss damit! Warum sollte ich mich zusätzlich quälen, wo ich gerade den Tod von zwei Freunden beklagen muss? Deine Mutter wird von der Sache nichts erfahren. Das bin ich ihr schuldig!«
»Und Lotte Andresen? Bist du ihr nichts schuldig?«
»Das geht dich nichts an. Du würdest es niemals verstehen.«
»Hast du sie geliebt?««
Eine Zeit lang stierte Franz Donner nur in das geleerte Glas. »Heute bin ich mir nicht mehr so sicher.«
Auch wenn Donner wenig Menschkenntnis besaß, hörte er die Lüge deutlich heraus. Er wollte die Sache vorerst ruhen lassen. Sie waren beide Männer vom gleichen Schlag. Selten sprachen sie Gefühle offen aus.
»Ich habe Martin immer respektiert«, fing sein Vater an. »Er hat mal einen Springer auf einer Autobahnbrücke vom Suizid abgehalten. Hat zwei Stunden auf ihn eingeredet. Danach hat der Leichtfuß geheiratet, vier Kinder bekommen und sich noch Jahre später bei Martin für das neue Leben bedankt.«
»Ja, im Nachhinein betrachtet war Martin kein schlechter Kerl. Höchstens zu laut.«
Sie schwiegen und tranken in Eintracht. Bis sich die Wirkung des Alkohols von ihrer unangenehmen Seite zeigte.
»Einer deiner Fälle interessiert mich brennend«, setzte Donner an. Er merkte, wie schwer seine Zunge inzwischen war. Trotzdem kam ihm die Wahrheit leicht über die Lippen. »Ich bin die damalige Sache mit Peter Bahrens noch einmal durchgegangen. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass deine Abteilung bei der Brandstifterserie schlampig ermittelt hat.«