Herbstzeit

Unsere Sprachlehrer in diesem Schuljahr waren die größten Langweiler aller Zeiten. In Latein hatten wir Fred de Wit, in Französisch Belle Bonamour (die lange nicht so lieblich ist, wie ihr Name klingt) und Englisch gab Arthur Wilkes. Ich hatte die drei in Verdacht, eine Wette abgeschlossen zu haben, wer die meisten Schüler einschläfern konnte.

Fred de Wit zum Beispiel besprach gerade lang und breit eine Klassenarbeit mit uns, bei der fast alle gut abgeschnitten hatten, außer zwei notorischen Faulpelzen, die mal wieder ein leeres Blatt abgegeben hatten.

Wenn Fred einen Wutanfall bekam, lief das immer nach einem bestimmten Muster ab. Danach konnte man wirklich die Uhr stellen. Phase I begann mit herumfliegenden Tröpfchen, gefolgt von Spuckeblasen im Mundwinkel. In Phase II verzog er das Gesicht zu einer verkniffenen Grimasse und begann, mit den Fingern auf dem Pult herumzutrommeln. In Phase III lief er rot an. Die Kunst bestand darin, Phase III möglichst weit in die Länge zu ziehen, denn in Phase IV brüllte er los und schickte einen aus dem Klassenzimmer. Momentan flogen noch Spucketröpfchen durch die Gegend, wir befanden uns also in Phase I, und ich konnte noch in aller Ruhe einen Brief an Eileen schreiben:

Was hast du? Ich ’ne 2+. Langweil mich zu Tode.
Wie findest du Freds Hemd?

Eileen schickte den Zettel über Tarik zurück. Der las ihn und schrieb dann etwas dazu. Er grinste und fummelte so ungeschickt mit dem Papier herum, dass Fred aufmerksam wurde und es konfiszierte. Das hatte gerade noch gefehlt.

Fred trommelte ein paar Takte – Übergang zu Phase II –, faltete den Zettel auf und las laut vor: »3+. Hemd geht gerade noch. Aber Frisur schlägt alles.«

Fred ließ den Blick schweifen.

Eileen wurde rot.

»Und dann steht da noch was auf Arabisch«, fuhr Fred fort.

Tariks triumphierendes Grinsen verschwand, als Fred sagte: »Mal sehen, ob ich’s entziffern kann: »›Du bist das schönste Mädchen der ganzen Klasse.‹«

Fred sah auf. »Leute, wenn ihr in meinem Unterricht unbedingt Briefchen schreiben müsst, dann wenigstens auf Lateinisch.«

»Fred kann Arabisch! Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, flüsterte ich Tibby zu.

Sie starrte mich wütend an.

Hatte ich was Falsches gesagt?

»Was ist?«, wisperte ich.

»Das weißt du genau!«

Ich wusste gar nichts. »Komm, sag schon.«

»Denk mal scharf nach. Das kannst du doch so gut.«

Sie wandte den Blick zum Fenster.

Was meinte sie bloß? Ich stieß sie ein paarmal an, aber sie reagierte nicht.

Erst nach einer ganzen Weile flüsterte sie: »Mann, du bist echt schwer von Begriff. Tarik ist in dich verknallt!« Wieder drehte sie sich weg.

Das war’s also. Tarik sollte in mich verknallt sein? Wie kam sie bloß auf diesen absurden Gedanken?

»Hör mal, Tibs«, flüsterte ich, »ich bin aber doch wirklich die Schönste im ganzen Land. Mein Haar ist schwarz wie Ebenholz, die Lippen rot wie Blut, die Haut weiß wie Schnee. Dagegen kommt einfach niemand an.«

Ich redete ganz leise, damit Fred mich nicht hörte, und übertrieb so lange, bis Tibby lachen musste und mitmachte.

»Schau dir nur meine hundert Rastalocken an, das edle Profil, die bronzefarbene Haut, diese funkelnden dunklen Augen, die exotische Ausstrahlung. Und in meinem Innern lodert ein Feuer wie …« Wir kicherten.

Fred sah her, sagte zum Glück aber nichts.

»Lass dich von Tarik nicht verrückt machen«, sagte ich. »Für den ist das ein Spiel, er flirtet eben gern.«

»Mann, hast du ’ne lange Leitung!«, zischte sie.

»Was soll das heißen?«

Sie zuckte nur mit den Schultern und ignorierte mich für den Rest des Tages.

In der nächsten Lateinstunde saß ich wieder, wie sonst, neben Eileen. Sie hatte wenigstens ihre eigenen Bücher und dazu eine unverwüstlich gute Laune. Außerdem hatte sie Lipgloss mit Fruchtgeschmack dabei. Sämtliche lateinischen Vokabeln schmeckten an diesem Morgen nach leuchtend roten, sommerfrischen Erdbeeren. Wir tuschelten über Tibby und Tarik und ob sich da wohl was ergeben würde oder nicht. Eileen meinte »nein«, weil Tarik flatterhaft sei, und ich meinte »ja«, weil Tibby so begeistert von ihm wäre und er bestimmt auch von ihr.

Tibby saß allein. Sie wurde über Substantive der a-Deklination abgefragt, kriegte aber nichts gebacken.

»Hast du den Stoff nicht gelernt?«, fragte Fred.

»Mein Buch ist noch nicht da«, sagte Tibby, wieder so komisch verschämt, und kaute an ihren Nägeln.

»Komm mir nicht mit faulen Ausreden«, sagte Fred. »Das stand alles auf dem Arbeitsblatt, das ich gestern verteilt habe. Auch an dich.«

Tibby wurde unter ihrer braunen Haut rot. Sie schwieg.

Ich bekam Mitleid, denn ich dachte an die wüsten Papierhaufen bei ihr zu Hause, auf der Waschmaschine, auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer und auch sonstwo im Haus. Kein Wunder, dass sie ihren Kram nicht fand …

»Willst du dir mein Arbeitsblatt kopieren?«, fragte ich in der Pause.

»Nein danke.« Es klang barsch.

»Ich meine ja nur, weil Fred …«

»Ich hatte keine Zeit zum Lernen, das ist alles«, unterbrach sie mich.

»Warum nicht?«

»Weil ich wohin musste.«

Ich glaubte ihr kein Wort.

»Wo musstest du denn hin?«, fragte ich.

»Hallo! Wird das jetzt ein Verhör, oder was?«

»Ich frag nur, weil ich mir Sorgen um dich mache. Du lässt einfach alles schleifen. Warum? Auf die Dauer kriegst du damit nur Ärger.«

»Wär nichts Neues.«

Unwillkürlich fragte ich mich, was wohl der Grund für ihren Schulwechsel gewesen war.