Mein Tod ist nicht dein Tod
Abends im Bett kann ich nicht einschlafen. Ich muss wieder an Sharima denken, die in der Trauerhalle stand wie eine zu Eis erstarrte Göttin. Ich hole tief Luft, greife nach meinem iPhone und wähle ihre Nummer.
Als ich am nächsten Tag nach der Schule in den Laden komme, hängt sie ein Schild an die Tür: GESCHLOSSEN.
Wir gehen ins Café nebenan und sie bestellt zwei Cola.
»Wie geht’s dir?«, fragt sie. »Ich hatte schon früher mit dir gerechnet und hätte mich demnächst auch gemeldet.«
»Ich … äh …«
Ich … äh … hab mich nicht getraut, denke ich.
»Für mich ist alles noch ganz unwirklich, Anna. Immer wieder denke ich, eines Tages kommt sie mit einem Boot über den Krummen Rhein gefahren. Das Bild sehe ich ständig vor mir und es gibt mir Kraft.«
»Ja«, sage ich. »Mir geht’s ähnlich. Ich stelle mir immer vor, dass sie auf dem Rad hinter mir herfährt. Und ab und zu sehe ich nach, ob sie mir gemailt hat.«
Sharima nickt. »Was würde ich darum geben, wenn sie noch da wäre und sich mit mir rumstreiten würde. Dann würde ich ihr tüchtig die Meinung sagen und anschließend wäre alles wieder für eine Weile gut. Weißt du, ich hätte es sehen müssen. Aber ich war so verliebt in meinen Laden, hatte für nichts anderes mehr Zeit. Und jetzt ist es zu spät.«
Die Bedienung bringt zwei große Cola.
»Danke«, sagt Sharima. Ihre Stimme bebt leicht.
»Ihr Laden ist so toll«, sage ich. »Ist doch klar, dass Sie sich da reinknien mussten. Das hat Tibby sicher verstanden.«
»Ich verkaufe den Laden. Weil ich mich dort einfach nicht mehr wohlfühle. Bei jedem Tuch, das ich in die Hand nehme, denke ich an Tibby. Das orangefarbene Tuch, erinnerst du dich, das ich ihr umgebunden habe, das war mein schönstes, teuerstes, von Dolce & Gabbana. Aber wenn ich den Mistladen nicht gehabt hätte, dann säßen wir jetzt hier zu dritt beisammen.«
Ich sage nicht, dass Tibby Orange gehasst hat, sondern frage stattdessen: »Und was haben Sie vor?«
»Jeff und ich verreisen für eine Weile. Von dem Geld, das der Laden bringt, kaufen wir ein Wohnmobil und gehen mit MaiZZ auf Tournee. Fenz hat mich gebeten, für die Band das Styling zu übernehmen. Glaub mir, das wird nicht einfach, bei diesen Typen!«
»Ist ja cool«, sage ich.
»Wir werden eine ganze Weile unterwegs sein. Fenz’ älteste Tochter lebt in Norditalien. Sie betreibt an der Küste einen Campingplatz. Und ich hab eine Schwester in Mailand und eine Cousine in Verona. Kann gut sein, dass wir ein halbes Jahr wegbleiben. Oder noch länger.«
Ich nicke und habe das Gefühl, dass nun endgültig ein wichtiges Kapitel meines Lebens zu Ende geht.
»Ihr werdet mir fehlen.«
Sharima kramt in ihrer Tasche. »Schau mal, das hab ich auf Tibbys Schreibtisch gefunden.« Sie gibt mir eine Postkarte, auf der hinter einem filigranen Gittertor ein sonnenbeschienener Garten zu sehen ist. Das Tor ist einen Spalt offen.
Mir wird eng in der Brust.
Ich drehe die Karte um.
steht da in Tibbys Krakelschrift.
Ich muss schniefen.
»Die Karte ist für dich, Anna, das stand auf dem Umschlag. Hoffentlich bist du mir nicht böse, dass ich sie dir eine Weile vorenthalten habe«, sagt Sharima.
»Danke«, bringe ich mit Mühe heraus. »Ich finde, Sie sollten die Karte behalten.«
Sharima seufzt. »Ach, du bist so ein liebes Mädchen. Tibby hatte Glück, eine Freundin wie dich zu haben. Aber das weißt du, nicht wahr?«
Mein Kopf weiß es und allmählich glaubt auch mein Bauch daran. Das Bauchweh ist jedenfalls weg.
»Du kannst dir nicht vorstellen, was diese Karte mir bedeutet hat«, sagt Sharima. »Aber jetzt brauche ich sie nicht mehr, außerdem war sie an dich gerichtet.«
»Danke«, sage ich. »Wie kommt es eigentlich, dass Sie nie weinen? Das wäre doch nur normal.«
»Eins kannst du mir glauben: Wenn ich demnächst neben Jeff im Wohnmobil sitze und wir über die Autobahn fahren, dann heule ich Rotz und Wasser und schreie meinen ganzen Kummer heraus. Tagelang. In Verona werde ich jammern und klagen und den Mond anheulen. Mag sein, du hältst mich für hart und gefühllos, aber im Moment geht es darum zu überleben. Ich muss den Laden verkaufen und Jeff unterstützen, damit er sich nicht ständig zuschüttet. Oder komplett abstürzt. Glaub mir, bei dem Mann ist alles drin. Heulen kann ich später, jetzt aber muss ich stark sein.«
Sie beugt sich vor und wischt mir die Tränen von den Wangen. »So, ich muss gehen. Du bist ein gutes Mädchen, Anna, und die liebste, beste Freundin, die ein Mensch haben kann. Denk immer dran, ja? Und leb weiter. Dich trifft keine Schuld. Tibby hat sich entschieden zu gehen, und wir können nur hoffen, dass es ihr gut geht, da wo sie jetzt ist. Wir aber müssen hier zurechtkommen und weiterleben.«
Ich stehe auf. »Alles Gute für Sie«, sage ich.
»Falls es kein großer Umweg für dich ist, könntest du dann Jeff die Einkäufe hier vorbeibringen? Er würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.« Sharima gibt mir eine volle Plastiktüte.
Ich muss lachen. Typisch, sie ist wieder ganz die Alte.
Trotzdem bin ich froh, nun einen Vorwand zu haben, bei Jeff vorbeizuschauen. Sonst würde ich es doch nur vor mir herschieben.
Das Haus bietet einen deprimierenden Anblick, trotz der Vorfrühlingssonne. Der Putz blättert, die Fensterläden hängen schiefer denn je, und der ganze Garten scheint um Tibby zu trauern. Nur das Geißblatt hält sich wacker und treibt neu aus.
Tibbys Haus ohne Tibby …
Ich gehe durch den Vorgarten und stehe mit einem Mal vor Jeff. Er hat sich seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert. Seine Augen sind geschwollen und blutunterlaufen.
»Hi, Anna. Ich wollte gerade mal nachsehen, was der Garten so macht. Come on in«, sagt er, freundlich wie immer.
Wir gehen in die Küche.
»Ein Glas Cola?«
»Ich hab hier ein paar Sachen für Sie.«
»Ach, das wär doch nicht nötig gewesen.«
»Von Sharima.«
»Tja, vielen Dank. Sie hält mir jeden Tag vor, ich soll vernünftig essen.«
»Ja«, sage ich nur.
»Wir gehen für eine Weile weg, hat sie dir das erzählt? Um auf andere Gedanken zu kommen, nach allem, was passiert ist.«
Ich setze mich auf das orangefarbene Sofa und warte, dass Jeff noch etwas sagt. Von der warmen gemütlichen Atmosphäre ist in der Küche nichts mehr zu spüren. Neben mir und auf der Waschmaschine türmt sich ungebügelte Wäsche. In einer Ecke liegen umgefallene Flaschen, alle leer. Wein, Whisky, Schnaps. Dazu ein Kasten mit leeren Bierflaschen.
Jeff fängt an zu reden, kommt ins Faseln, wiederholt sich. Er erzählt von seinem Gemüsegarten und dass er dieses Jahr nichts anbauen werde, weil sie fortwollen, irgendwie sei das doch schade …
Er redet und redet, träge und schleppend, so als müsse er etwas mit sich herumtragen, das ihm viel zu groß und viel zu schwer ist.
Ich unterbreche ihn nicht, sondern mache mich daran, die Wäsche zusammenzulegen, lausche seiner Stimme wie einem Hintergrundgeräusch.
JP sei da gewesen, sagt er, und Fred auch, und die beiden seien voll in Ordnung. Dann geht es wieder um den Garten, der ihm fehlen wird. Aber er könne sich auch nicht vorstellen, darin zu arbeiten, ohne seine sweet pea.
»Sharima meint, es wär gut, mal für ’ne Weile weg zu sein. Sie will ein Wohnmobil kaufen oder so, weiß nicht genau. Wir müssen hier raus, sagt sie, aber irgendwie find ich das nicht so gut, ich weiß nicht, ist ja auch ’ne Art Flucht. Andererseits müssen wir weiterleben, nicht?«
Er wischt sich die Augen und trinkt einen großen Schluck Cola. Dann nimmt er die Schnapsflasche und gießt einen tüchtigen Schuss hinein. Mir bietet er auch welchen an, sagt: »Ach Gott, nein, was mach ich da, entschuldige«, und fängt an zu heulen. »What a mess, my little sweet pea. Sie ist fort. Alles verloren. Was soll bloß werden?«
Jeff muss wirklich weg, denke ich, und zwar bald, sonst geht er noch vor die Hunde.
Und ich will auch weg. Ich stehe auf.
»Danke für die Cola«, sage ich. »Und alles Gute.«
»Nett, dass du gekommen bist, Anna. Thanks for your help. Ach, dir fehlt sie auch so sehr, nicht? Moment mal …«
Er wischt sich die Augen und geht dann ins Freie.
Ich folge ihm.
Er holt ein paar Samentütchen aus dem Schuppen, außerdem eine Handschaufel und eine kleine Hacke. Dann füllt er einen Blumentopf mit Erde, sticht ein Stück Geißblatt ab und pflanzt es umsichtig, fast schon zärtlich, ein. »Tibby hat mal gesagt, dass du den Duft so gern magst. Und das hier ist auch für dich, als Andenken.«
Er gibt mir die Tütchen. Es sind Samen für Salat und Süßerbsen. Dazu Tibbys kleine Schaufel.
Ich schluchze ein Dankeschön und er schluchzt eine unverständliche Antwort, und plötzlich müssen wir beide lachen.
Als ich gehe, winkt er mir nach, und für einen kurzen Augenblick ist mir, als würde Tibby neben ihm stehen, mit hängenden Schultern.
Auf dem Nachhauseweg bläst der Wind mir die Tränen aus den Augen. Ich wische sie ab. Und weiß mit einem Mal, wie ich Abschied nehmen kann, ohne dass all das Schöne verloren geht.
Als ich in meinem Zimmer bin, erzähle ich es Anubis. Er lächelt sein sanftes goldenes Lächeln.
Vergiss nicht, was sie dir gegeben hat.
Ich gehe in den Vorgarten, hebe etwas Erde neben der Haustür aus und pflanze das Geißblatt ein. Dann fülle ich einen der ordentlichen Blumenkästen mit Erde und säe den Salat aus. Und während ich damit beschäftigt bin, wird mir endgültig klar, was ich zu tun habe.