5
Meine Hand zitterte, als ich am nächsten Morgen an JPs Tür klopfte. Erst auf mein zweites Klopfen hin kam ein undeutliches »Herein«.
JP sah kaum von seinen Unterlagen auf, als ich eintrat. Kein gutes Zeichen.
»Na, Anna«, sagte er. »Wer ist denn diesmal schuld? Herr Wilkes? Frau Bonamour? Oder vielleicht zur Abwechslung mal Herr Teufel?«
Als würde der Putzteufel mich zu ihm schicken. Der kam gut allein zurecht!
»Herr de Wit«, sagte ich.
»Irrtum.« JP sah mich eindringlich an und setzte dann seine Brille ab.
»Irrtum? Wieso?« Ich wusste ja wohl noch, in welcher Stunde ich rausgeschickt worden war.
»Du gibst Herrn de Wit die Schuld an etwas, das du selbst verursacht hast.«
Was sollte ich darauf antworten? So ein Blödsinn!
JP setzte die Brille wieder auf und schrieb in aller Ruhe weiter.
»Im letzten Schuljahr bist du zehn Mal rausgeschickt worden, Anna, das würde durchaus für einen Schulverweis reichen«, sagte er dann.
Ich erschrak und holte tief Luft. »Herr van Dijk, das sollten Sie lieber nicht machen. Für jemanden, der angeblich nie aufpasst, sind meine Noten ziemlich gut.«
»Aber nicht für meinen Blutdruck«, sagte er. »Ein besseres Argument fällt dir wohl nicht ein?«
Na gut, dann eben Schluss mit der Schule!, dachte ich. Und seltsamerweise durchlief mich dabei eine Welle der Erleichterung. Mir war, als fiele eine Last aus tonnenschweren Hinkelsteinen von mir ab.
Nie mehr die Zeit absitzen und mich langweilen. Keine lebenden Sprachen mehr und auch keine toten. Nie mehr muffiger Schweißgeruch in der Umkleide beim Sport. Lebwohl, Schule! Hurra! Gleich morgen würde ich ein Reisebüro eröffnen und mich auf Studienreisen nach Ägypten spezialisieren.
»Du hast beim letzten Mal versprochen, dich zu bessern, und jetzt sitzt du schon wieder hier. Das verheißt nichts Gutes, Anna. Darüber habe ich auch schon mit deinen Eltern gesprochen.«
Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er auf eine Antwort wartete. Gut, er sollte sie haben. Wenn ich ohnehin gehen musste, hatte ich nichts zu verlieren und konnte offen sagen, was ich dachte.
»Ich schätze mal, so einfach ist es nicht, mich von der Schule zu werfen. Dafür muss man nämlich etwas angestellt haben. Und das habe ich mit Sicherheit nicht. Ich stehle nicht, schwänze nicht, trage kein Messer bei mir, deale nicht mit Drogen, bedrohe keine Lehrer und habe bisher in der Kantine auch noch keinen über den Haufen geschossen. Vielleicht blöd von mir, aber was soll’s. Jeder hat eben seine Prinzipien.«
»Aha, Prinzipien nennst du das? Weißt du eigentlich, dass deine Lehrer mir die Bude einrennen, weil sie sich mit dir nicht mehr zu helfen wissen? Dann sitzen sie als Nervenbündel hier, auf dem Stuhl, neben dem du jetzt stehst. Alles intelligente, hochgebildete Leute, die du mit deinen Frechheiten fast in den Wahnsinn treibst. Dass Lehrer auch nur Menschen sind, scheint ihr Schüler völlig zu vergessen.«
Er nahm die Brille wieder ab und fixierte mich scharf. »So allmählich habe ich den Eindruck, dass du an unserem Gymnasium nicht am rechten Platz bist, Anna. Wenn ich dich jetzt rauswerfe, spart das deinen Lehrern jede Menge Kraft und Nerven. Außerdem gibst du den anderen Schülern ein schlechtes Beispiel. Wenn du bleiben willst, muss sich grundlegend etwas ändern.«
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gerade mal fünfzehn war. Meine großartigen Reisebüropläne verpufften. Pa und Ma wären frustriert und würden endlos auf mich einreden. Ich müsste die Schule wechseln oder womöglich arbeiten gehen. Und nicht zuletzt: Was sollte dann mit Tibby werden? Wenn ich nicht mehr auf der Schule wäre, würde sie das sicher in eine noch tiefere Krise stürzen.
JP sah mich an, als wäre ich eine Laborratte in einem Labyrinth. Worauf wartete er? Stand sein Entschluss schon fest? Flog ich tatsächlich? Oder blieb mir noch eine Chance?
»Herr van Dijk …« Meine Stimme zitterte. »Was Sie sagen, leuchtet mir absolut ein. Aber wissen Sie, ich hab hier eine Freundin. Sie geht in meine Klasse und heißt Tibby. Sie haben sich neulich netterweise darum gekümmert, dass sie Bücher bekommt. Tibby hat jedenfalls ziemliche Probleme und außer mir überhaupt keine Freunde. Ich versuche, ihr zu helfen, so gut ich kann. Wenn Sie mich jetzt rauswerfen, muss ich mich damit abfinden, aber Tibby wäre dann total aufgeschmissen. Ich sehe ein, dass ich Mist gebaut hab, aber vielleicht können Sie mich um ihretwillen bleiben lassen.«
JP zog die Brauen hoch. »Setz dich bitte.«
Jetzt wirkte er ein wenig freundlicher.
Kleinlaut setzte ich mich auf die Kante des Stuhls, auf dem sonst meine Lehrer als zuckende Nervenbündel ihre Klagen über mich vorbrachten.
»Und jetzt erklär mir bitte, wo genau dein Problem liegt.«
Ich schluckte mehrmals. Inzwischen war ich so nervös, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
»Es ist so, dass … dass ich mich im Unterricht tödlich langweile«, sagte ich schließlich.
JP hüstelte, wurde aber zum Glück nicht wütend. »Ich habe durchaus Verständnis für dich, Anna, das kannst du mir glauben«, sagte er. »Als ich so alt war wie du, ging es mir ganz ähnlich. Ich habe mich auch tödlich gelangweilt, wie du es ausdrückst. Ich habe meine Lehrer bis aufs Blut gereizt und wurde pro Woche mindestens zweimal aus dem Klassenzimmer geschickt.«
»Ehrlich wahr? Und warum sind Sie dann Rektor geworden?«
»Weil ich darin eine sinnvolle Aufgabe sehe«, sagte er. »Du bist ein hochintelligentes Mädchen, Anna. Von fünfhundert Schülern hier am Gymnasium hat nur einer einen so scharfen Verstand wie du. Aber was machst du daraus? Den Unterricht stören, deine Lehrer provozieren, den Clown spielen. Und nun frage ich dich: Was bringt dir das? Nichts, absolut nichts!«
»Das sagen Sie …«
»Gut, dann antworte du: Was bringt es dir?«
»Gute Frage. Ich sitze hier die Zeit ab und warte. Wenn wir eine einzige Stunde am Tag wirklich was lernen, dann ist das schon viel. Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass Jean-François Champollion in meinem Alter schon fünfzehn Sprachen konnte? Das ist der Typ, der die Hieroglyphen entziffert hat.«
JP nickte.
»Was haben die Lehrer denn für ein Problem? Ich mache im Unterricht doch keinen Lärm«, fuhr ich fort. »Und trotzdem werfen die mich raus. Mir geht es echt nicht darum, sie zu ärgern, und ich nehme mich auch gewaltig zusammen, aber manchmal rutscht mir eben so ein Gedanke raus. Ganz ehrlich: Im Moment hab ich keine Ahnung, was mir die Schule bringt.«
»Darum geht es auch nicht, Anna«, sagte JP. »Ich habe dich gefragt, was dein Verhalten dir bringt. Nicht die Schule an sich.«
Wie bitte? Was war das denn für eine Frage? Ich ärgerte mich, presste aber die Lippen zusammen, damit ich nichts Unbedachtes sagte.
»Du musst das anders sehen: Die Schule ist eine Notwendigkeit. Es gibt nun mal eine Schulpflicht und daran führt kein Weg vorbei. Dein Verhalten allerdings ist eine Variable, die du selbst in der Hand hast. Wie du auf eine Situation reagierst, entscheidest du ganz allein. Du bist sehr intelligent, wie ich schon sagte, und diese Gabe solltest du dazu nutzen, dein Verhalten zu überdenken und etwas daran zu ändern. Überleg dir, was du an Möglichkeiten hast.«
Ach, jetzt lag auf einmal alles an mir! JP machte es sich leicht.
»Wie haben Sie das Problem denn für sich gelöst, Herr van Dijk?«
»Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe Drogen genommen und kurz vorm Abitur die Schule geschmissen. Dann habe ich mir einen Job gesucht, bei einem Jaguar-Händler. Ich habe Maßanzüge getragen, reichen Kunden Autos verkauft und dabei ziemlich gut verdient. Ich hatte einen Dienstwagen zur Verfügung und jedes Wochenende war Party angesagt. Alles lief wie geschmiert, und ich hielt die anderen, die es nicht so machten wie ich, für kümmerliche Versager. Bis ich den teuren Wagen eines Nachts zu Klump gefahren habe. Ich flog aus der Kurve und landete im Krankenhaus. Während der Reha hatte ich jede Menge Zeit zum Nachdenken. Ich saß noch im Rollstuhl, als ich wieder zu lernen anfing. Dann habe ich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt, und als ich mit vierundzwanzig wieder einigermaßen hergestellt war, habe ich ein Pädagogikstudium begonnen.«
Ich war perplex. »Ist das der Grund, warum Sie ein wenig hinken?«
Er nickte.
»Ja. Und ich bin froh, dass das Ganze für mich so glimpflich ausgegangen ist.«
»Wissen Sie, das die Fünftklässler darüber Witze machen? – Oh, Verzeihung!« Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Was hatte ich dumme Nuss da wieder gesagt!?
Aber JP grinste. »Das ist mir bekannt.«
Die niedrig stehende Novembersonne fiel durch die Gardinen. Allmählich wurde mir klar, was JP meinte. Im Grunde blieb mir keine Wahl. Die Schulpflicht war ein Muss, und wenn ich sie umgehen wollte, könnte ich mich lediglich dauerkrank stellen, kriminell werden (damit ich im Jugendknast landete) oder mich umbringen. Das war’s. Mein Reisebüro war vorerst jedenfalls keine Option.
»Sie meinen also, ich bin hier mehr oder weniger eingesperrt und muss mich mit der Situation abfinden?«
»In gewissem Sinne, ja«, sagte JP. »Mit Widerstand erreichst du rein gar nichts. Du hast ein Problem mit der Schule und für jedes Problem gibt es mindestens fünf Lösungen. An Intelligenz mangelt es dir nicht, also sei kreativ: Überleg dir, was du willst und wie sich das am besten erreichen lässt, und besprich das Ganze mit deinen Lehrern. Und dann heißt es durchhalten.«
JP sah mich freundlich an. »Ich habe immer ein offenes Ohr für dich, Anna«, sagte er. »Du kannst jederzeit kommen, auch wenn es um deine Freundin geht. Es wäre mir allerdings lieb, wenn dein nächster Besuch hier nicht durch eine Lehrerbeschwerde veranlasst wird.«
Er setzte die Brille wieder auf und nahm seinen Stift zur Hand. Die Sitzung war offenbar beendet.
Ich nickte höflich und stand auf.
»Eine Sache noch, Anna«, sagte JP. »Falls es dich interessiert: Champollion hat von seinem älteren Bruder Unterricht bekommen. Aber das kommt für dich wohl nicht infrage, oder?«