12

Irgendwo hinter mir hörte ich ein Rufen.

Ich erschrak und sah mich kurz um.

Ein Radfahrer.

Kein Grund zur Panik, sagte ich mir. Er hat nicht mich gemeint. Und es ist völlig normal, dass außer mir auch noch andere Leute unterwegs sind.

Trotzdem fuhr ich schneller.

Ich warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und stellte fest, dass der andere mir folgte und bedrohlich näher kam.

Mein Herz hämmerte wie wild und mein Mund wurde trocken, aber das kam bestimmt von der Anstrengung. Ich hatte keine Angst, nein. Der Typ wollte nichts von mir. Wir waren auf einer öffentlichen Straße, und jeder hatte das Recht, hier zu fahren.

»He!« Eine Männerstimme.

Ich trat in die Pedale, so fest ich konnte, wurde schneller und schneller. Aber es reichte nicht. Langsam verringerte sich der Abstand zwischen uns.

»He! Halt an!«

Er meinte tatsächlich mich! Mir wurde glühend heiß.

»Warte!«

Ich wollte um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Rasch bog ich in eine Gasse ab, dann gleich in die nächste. Vielleicht konnte ich den Verfolger so abschütteln.

Aber er blieb hinter mir und rief wieder.

»He! Aaah! Warte!«

Was brüllte er da? Glaubte der etwa, ich würde brav anhalten, damit er mich erst vergewaltigen und dann ermorden konnte? Eiskalte Schauer jagten mir über den Rücken.

Wie eine Besessene raste ich weiter. Die Gasse entlang und mit Karacho zwei-, dreimal um die Ecke. Dann sah ich mich kurz um, weil ich nichts mehr hörte.

Niemand hinter mir. Ein Glück! Ich hatte den Mann abgehängt!

Sicherheitshalber guckte ich noch mal. Er war tatsächlich weg.

Was jetzt? Ich war fix und fertig. Nach Hause war es ziemlich weit, aber Tibby wohnte ganz in der Nähe. Wie ein Tourde-France-Fahrer sauste ich los.

Minuten später war ich da. Und gerettet!

Im Haus war es warm, hier war ich in Sicherheit. Hier waren Whisky und Wodka und Bacardi und Schnaps. Hier waren meine Tasche, mein kuscheliger Schlafanzug und mein Schlafsack. Vor lauter Erleichterung liefen mir die Tränen über die Wangen.

Ich schmiss mein Rad in die kahlen Geißblattranken an der Hauswand und wollte die Tür öffnen.

Sie klemmte.

Ich stemmte mich dagegen und versuchte es mit Fußtritten. Aber sie gab keinen Zentimeter nach.

Ich klingelte Sturm.

»Tibby!«, schrie ich. »Lass mich rein!«

Keine Reaktion.

Mit den Fäusten hämmerte ich an die Tür. Warum machte keiner auf? Ich rüttelte wild an der Klinke. »Tibby! Hilfe!«

Hinter mir raschelte es. Der Typ war mir doch nicht etwa gefolgt?!

Panisch trat ich noch mal mit aller Kraft in die rechte untere Türecke, wie ich es bei Tibby gesehen hatte.

Es krachte, Holz splitterte und ein glühender Schmerz zuckte durch mein Bein.

Das Dachfenster ging auf. Tibby brüllte: »Ruhe da draußen! Hier schlafen Leute!« Und meine Tasche flog in hohem Bogen in die Hecke.

Im nächsten Moment wurde ich an den Schultern gepackt und grob durchgerüttelt. »Anna! Hör auf mit dem Scheiß!«

Ich fuhr herum.

»Sam!?«

»Wer sonst, du blödes Huhn! Ich schrei mir die Lunge aus dem Leib. Hast du mich denn nicht gehört? Was ist bloß in dich gefahren?!«

Ich sagte nichts, weil ich das Gefühl hatte, in mich zusammenzufallen, zu verwelken, wie eine Blume im Herbst, binnen Sekunden, wie im Zeitraffer.

»Zeig mal dein Bein her.«

Aus der Regenhose ragte ein dicker Holzsplitter, mehr sah ich im spärlichen Licht der Außenbeleuchtung nicht. Mir wurde schlecht und schwindelig und dann sah ich überhaupt nichts mehr.

Als ich zu mir kam, standen zwei Männer in weißen Kitteln da. Sie machten Anstalten, mich auf eine Trage zu heben. Aber das wollte ich nicht. Ich versuchte, mich aufzurichten und zu sagen, dass ich sehr gut allein gehen könne, doch im selben Augenblick begannen die beiden, sich im Kreis um mich zu drehen, und mir wurde wieder schwindelig.

Als ich das nächste Mal aufwachte, lag ich hinten in einem Auto neben einem blinkenden Apparat mit Beuteln und Schläuchen, und an meinem Unterarm stach etwas.

»Wo ist Sam?«, fragte ich.

»Dein Freund? Der sitzt vorn. Wir sind gleich da.«

»Sam ist mein Bruder. Ich will das Ding am Arm nicht haben.«

»Das Ding bleibt dran«, sagte jemand. »Wenn’s dir nicht passt, hättest du dein Gehirn einschalten sollen, bevor du diesen Blödsinn mit der Tür gemacht hast.«

Da war was dran. Langsam kam ich wieder ins Hier und Jetzt zurück.

Der Krankenwagen raste durch die Nacht, als schwebte ich in akuter Lebensgefahr. Aber in der Klinik hatten sie plötzlich alle Zeit der Welt.

Sam und ich mussten erst einmal warten. Kein mollig warmes Krankenhausbett für mich, sondern ein unbequemes Brett mit grünem Kunstlederbezug und einer Riesenküchenrolle am Fußende. Ein Pfleger hatte ein langes Stück davon über die Liege gezogen, damit ich auch ja nichts schmutzig machte.

Sam saß auf einem Stuhl neben mir. Ich war ihm zutiefst dankbar, dass er kaum etwas sagte und mir vor allem keine Vorhaltungen machte. Mein Bein brannte wie Feuer, mir war immer noch ein wenig übel und ich döste mehrmals ein.

Nach einer Weile wurde mein Bein geröntgt, durch die Regenhose hindurch.

Wieder mussten wir warten, und dann kam eine Schwester, schnitt die Hose auf und sah sich die Verletzung an. Eine zweite entfernte vorsichtig den Splitter und meinte, es sei gar nicht so schlimm und ich solle mir keine Sorgen machen.

Keine Sorgen machen? Die Regenhose war von Helly Hansen und hatte ein Vermögen gekostet, außerdem fehlte an einem meiner schönen neuen Stiefel der Absatz. Und das war nichts im Vergleich zu dem Donnerwetter, das ich von meinen Eltern zu erwarten hatte!

Plötzlich standen Pa und Ma da und nahmen uns mit. Zum ersten Mal im Leben war ich froh über ihr Spießer-Blabla, das ersparte mir eine laute Szene im Krankenhaus. Und zum ersten Mal im Leben wünschte ich mir, diese Sprache ebenfalls zu beherrschen, denn in der normalen fehlten mir einfach die Worte.

Ich hoffte inständig, dass ich aus Mitgefühl um eine Strafe herumkam, aber zugleich hatte ich eine dunkle Ahnung, dass damit nicht zu rechnen war.

Leb wohl, Ägypten!