Am liebsten wäre ich eine Katze
Ein paar Tage später fuhren Tibby und ich nach der Schule im Nieselregen zu ihr, um gemeinsam Hausaufgaben zu machen.
»Du hast ja den neuen Reifen drauf«, sagte ich. »Super!«
Ihre Antwort überraschte mich.
»Tarik hat mir geholfen.« Sie wurde rot.
»Wusste ich’s doch!«, rief ich. »Er mag dich!«
»Eher nicht. Er hat mich die ganze Zeit über dich ausgefragt. Und danach hat er mich wieder links liegen lassen.«
»Ach, der hat nur so dahergeredet.« Tibby sollte sich nicht so anstellen. Mir lag nichts an Tarik, und wenn er nicht ganz blöd war, wusste er das selber auch.
»Und? Fährt sich’s gut?«
Sie nickte und stellte ihr Fahrrad ab. Mit Wucht trat sie gegen die Haustür.
»Was ist los?«, fragte ich überrascht.
»Bei Regen klemmt sie«, sagte Tibby, als wäre das das Normalste der Welt.
»Frag doch Tarik, ob er sich die Tür mal ansieht. Vielleicht kann er sie reparieren.«
Als Antwort trat sie noch einmal zu, in die rechte untere Ecke.
Die Tür flog auf. »Na also, geht doch.«
Im Flur warf Tibby ihre Schultasche auf den Boden. Ein paar leere Flaschen kippten um. Tibby kickte sie weg. »I’m home!«, rief sie laut.
Keine Antwort.
Tibby wusch die Näpfe aus und fütterte dann die Katzen. Anschließend kramte sie im Kühlschrank, fischte eine Flasche Cola heraus und schenkte uns zwei Gläser ein.
»Wollen wir anfangen?«, sagte ich.
»Lass uns erst mal ankommen, ja?«
»Wir sind doch da, Tibs. Los jetzt, ich hab nicht so viel Zeit!«
Sie trank die Cola mit kleinen Schlucken.
Ihre Trödelei begann mich zu nerven. Ich hatte Ma versprochen, eines ihrer Kostüme bei der Reinigung abzuholen und einen Blumenstrauß zu besorgen, den sie für eine Sitzung des Apothekerverbandes heute Abend brauchte. Das durfte ich auf keinen Fall vergessen.
Endlich holte Tibby ihr Matheheft hervor. »Kannst du mir nachher dein Buch dalassen?«, fragte sie. »Ich brauch’s nur bis morgen.«
»Ich hab dir doch Kopien gemacht!«, ärgerte ich mich. »Wo sind die? Hast du sie etwa verschlampt? Tibby, du musst echt zusehen, dass du an deine Bücher kommst. Geh und weck deinen Pa, damit er dir das Geld dafür gibt.«
»Du hast gut reden. Wenn ich das mache, rastet er aus. Du hättest ihn hören müssen, als neulich JP am Telefon war.«
»Dann soll er eben ausrasten. Du brauchst Bücher und fertig.« Insgeheim fragte ich mich, wie das wohl aussah, wenn Jeff ausrastete.
Tibby fuhr hoch. »Hör endlich auf!«, fauchte sie. »Es sind nun mal nicht alle so stinkreich wie ihr!« Sie funkelte mich zornig an.
Ich zuckte zusammen, aber jetzt durfte ich auf keinen Fall nachgeben. »Wer nicht reich ist, muss schlau sein«, sagte ich bestimmt. »Du brauchst doch die Bücher. Also lass dir was einfallen.«
»Fängst du jetzt auch so an wie JP? Fünf Lösungen, am besten bis morgen!«, rief sie. »Du kapierst nichts, Anna! Absolut nichts!«
»Ich will dir doch nur helfen.«
Zum Glück kriegte sie sich wieder halbwegs ein. Aber ich ließ nicht locker, denn sonst kam sie nie zu ihren Büchern. »So blöd ist JPs Vorschlag auch wieder nicht«, sagte ich.
»Klar, es gibt ja ’ne Unmenge Lösungen.« Es klang sarkastisch. »Nummer eins: Ich schmeiß die Schule, weil ich eh bloß eine blöde Ausländerin bin. Nummer zwei: Ich überfall eine Bank. Nummer drei: Ich verkauf meine Klamotten, sodass ich Lungenentzündung kriege und in Frieden zu Hause bleiben kann. Nummer vier: Ich knacke ein Auto und fahr zu meiner Tante nach Mailand. Oder gleich nach Kapstadt. Das ist dann Nummer fünf.«
»Tsss«, machte ich. »Das sind fünf Variationen von ›Wie stecke ich den Kopf in den Sand?‹. Tibby, das geht auch anders.«
»Aber sicher! Ich fahr mit dem Schiff nach England, und auf halbem Weg spring ich ins Meer, bist du jetzt zufrieden? Du nervst echt, weißt du das?«
Ich nahm ihre Hand, aber sie stieß mich weg.
»Ist es so schlimm?«, fragte ich.
»Es hat einfach keinen Sinn, wann kapierst du das endlich?«, sagte sie. »Es bringt nichts, wenn ich Jeff jetzt wecke. Und Sharima kann ich auch vergessen. Die hat nur noch drei Dinge im Kopf: den Laden, den Laden und den Laden! Weißt du, warum sie den aufgemacht hat? Weil sie genug davon hatte, ewig arm zu sein. Aber der blöde Laden kostet bloß Geld. Früher hatte sie wenigstens noch Zeit für mich, aber jetzt geht’s ihr nur noch um den Laden. Und der bringt nichts ein. Keinen Cent!«
Sie nahm Jeffs Gitarre von der Wand und zupfte wie ein Zombie an einer Saite herum. Pling-pling-pling … ständig der gleiche Ton.
Es regte mich auf, aber zugleich tat sie mir unendlich leid. Ich bekam Lust, mit einem Backstein Sharimas Schaufenster einzuwerfen und ihre Ladenkasse zu plündern. Oder Jeff eine seiner Whiskyflaschen über den Kopf zu ziehen, damit ihm endlich klar wurde, dass er eine Tochter hatte, für die er zuständig war. Oder Tibby die blöde Gitarre wegzunehmen und sie gründlich durchzuschütteln. Wieso gab sie einfach auf?
Wenn ich nur wüsste, was ich tun könnte, um alles wieder ins Lot zu bringen …
Nachdenklich trank ich einen Schluck Cola. »Du brauchst Hilfe, meinst du nicht auch?«, sagte ich nach einer Weile.
»Und wer bitte schön sollte mir helfen?«
Bacardi sprang auf ihren Schoß, als hätte er alles gehört und wollte ihr ein wenig Trost spenden.
Sie legte die Gitarre weg und streichelte sein schwarz-weißes Fell. »Ach, Bacardi …«, seufzte sie. »Am liebsten wär ich eine Katze. So wie du. Dann würde ich Mäuse fangen und müsste nie mehr in die Schule.«
»Und du hättest neun Leben«, sagte ich.
»Neun zu viel«, murmelte sie.
Eine ganze Weile saßen wir schweigend da.
Die sonst so schöne und gemütliche Wohnküche wirkte auf mich mit einem Mal heruntergekommen und verdreckt. Es duftete nicht mehr nach Zimt und Apfelmus, sondern stank nach altem Frittenfett, Katzenpisse und feucht gewordenen Zeitungen.