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»Kommst du mit zu mir?«, fragte Tibby nach dem Unterricht.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. Jetzt lächelte sie zwar, aber wer konnte ahnen, ob sie nicht schon bald wieder wegen irgendeiner Kleinigkeit ausflippte. Außerdem wollte ich Anubis reparieren und meine Mails checken. Vielleicht hatte Easy sich gemeldet oder wir konnten ein wenig chatten. Ich hatte ihn heute dreimal im Flur gesehen. Zweimal stand Danny bei ihm, und beim dritten Mal, als er allein war, lief ich tomatenrot an und traute mich nicht mal zu winken.
»Wir könnten Popcorn machen und Kakao kochen«, schlug Tibby vor.
Hmmm. Popcorn und Kakao lockten mich durchaus. Im Sommer hatten wir jede Menge Spaß beim Kochen gehabt. Aber ich hatte keine Lust, in der Kälte zu sitzen.
»Komm doch lieber mit zu mir«, schlug ich vor. »Bei uns ist’s gemütlich warm. Und du kannst auch gern so lange bei mir übernachten, bis euer Ofen wieder in Ordnung ist. Wär doch nett.«
»Ist nicht nötig. Ich mach einfach den Gasherd an, das geht schon.« Sie tat ganz cool.
Da bekam ich Mitleid und fuhr doch mit.
Das Haus wirkte trostlos. Die Perlhühner kauerten auf einem Stapel halb kaputter Paletten, und an die Stelle, an der ich die Haustür eingetreten hatte, war ein altes Stück Sperrholz genagelt. Sie klemmte schlimmer denn je.
Im Haus war es kalt und feucht. Von Jeff keine Spur.
Tibby schleppte einen alten Heizstrahler in die Küche und zündete den Gasherd an.
Ganz langsam wurde es ein wenig warm. Auch dank Decke und Katze auf dem Schoß.
Es war kein Puffmais da und Kakao auch nicht. »Ich hab Ingwertee«, sagte Tibby. »Oder willst du lieber Zitrone?«
»Nein danke.«
Tibby stellte den Fernseher an und schob ein Uralt-Video von Jeff in den Rekorder. »Guck dir das mal an«, sagte sie. »Gefällt dir bestimmt.«
Der Film überraschte mich. Jeff war darauf mindestens zwanzig Jahre jünger und sah echt gut aus. Und dann die Songs, diese Stimme …
»Das war die Anfangszeit von MaiZZ«, erzählte Tibby verträumt.
Ich war begeistert und zugleich geschockt, als ich daran dachte, wie sehr Jeff sich verändert hatte.
Tibby spulte ein Stück zurück. »Hör doch mal! Gut, was? Ist er nicht voll cool?« Sie klang fast ein bisschen verliebt.
Nun ja, cool … Der heutige Jeff war eine ziemlich traurige Figur, verglichen mit dem früheren. Merkte Tibby das denn gar nicht? Oder machte sie sich etwas vor?
Trotz Gasflamme und Heizstrahler wurde es langsam wieder kälter.
Wir machten Hausaufgaben und Tibby begann prompt zu maulen. »Wozu müssen wir lernen, was Fleisch auf Französisch heißt? Glaubt die Bonamour etwa, wir wollen Kochbücher übersetzen?«
»La viande«, sagte ich. »Fleisch heißt viande.«
»Danke, Frau Neunmalklug!«
»Steht im Buch«, gab ich barsch zurück. »Hör mal, jetzt hast du endlich Bücher und dann guckst du nicht rein!«
Ich dachte daran, dass Sam gesagt hatte, Tibby würde mich ausnutzen. Auf einmal wusste ich, was er meinte.
»Im Unterricht starrst du dauernd aus dem Fenster und dann zerreißt du auch noch deine Bücher. Was erwartest du eigentlich von mir?«
»Gar nichts erwarte ich von dir! Entschuldigung, dass es mich gibt.«
»Du musst dich zusammenreißen und endlich was tun!«, rief ich.
»Tja«, sagte sie. »Ich hab zwar keine Kreuzfahrt auf dem Nil gemacht und war auch nicht in Thailand oder Mexiko, aber Ferien hatte ich trotzdem. Außerdem kann ich hier einfach nicht lernen.« Ihre Stimme klang brüchig, als wäre sie den Tränen nahe. Wieder überkam mich Mitleid.
»Ein paar französische Filme hättest du dir aber schon ansehen können«, sagte ich.
»Als ob ich die verstehen würde.« Tibby spielte mit ihrem Kugelschreiber herum und kaute an einem Zöpfchen. Sie fröstelte und wirkte mit einem Mal wie ein Häufchen Elend. Es schnitt mir ins Herz.
Die Kälte strich mir mit klammen Fingern über Hals, Hände und Beine. Ich wollte Tibby so gern helfen, aber noch viel lieber wollte ich hier weg.
»Okay, Tibby«, sagte ich. »Du hast recht. Hier können wir nicht lernen. Wir gehen jetzt zu mir und kochen Kakao und machen Popcorn. Wenn du dich schön aufgewärmt hast, machen wir Hausaufgaben. Und falls du nicht bei mir übernachten willst, dann bleib wenigstens zum Abendessen.«
Sie wehrte ab. »Nein danke. In eurer kahlen Kaserne fühl ich mich nicht wohl.«
Ich holte tief Luft. »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Stört es dich, dass bei uns alles sauber und aufgeräumt ist? Dass es gemütlich warm ist? Dass du deinen Kram auf einem anständigen Drucker ausdrucken kannst? Nur weil es bei uns ordentlich aussieht, leben wir noch lange nicht in einer Kaserne!«
Den Rest verkniff ich mir, denn es hatte keinen Sinn. Ich war gern bereit, ihr zu helfen, bei allem, aber mit ihr darüber zu diskutieren, war vollkommen sinnlos.
»Anna?«, sagte Tibby nach einer Weile.
»Ja?«
»Es tut mir leid. Hilf mir doch. Bitte!«
»Aber sicher helfe ich dir. Gern sogar, das weißt du.« Ich nahm meine Tasche. »Dann gehen wir also.«
»Nein, ich meine bei Geometrie. Ich kapier’s nicht«, sagte sie. »Für dich ist das alles kein Problem.«
»Wenn du willst, dass ich dir helfe, dann komm jetzt mit«, sagte ich. »Ich habe keine Lust mehr, hier in der Kälte rumzuhocken.«
War das schon eine Art Erpressung? Ich bekam ein schlechtes Gewissen.
»Mann, ich kann doch nicht weg hier«, sagte Tibby. »Wenn ich jetzt den Gasherd ausmache, ist es nachher eiskalt. Bitte bleib, es sind doch nur zwei Aufgaben.«
Ich rieb mir die Hände warm und fing an zu erklären. Die Aufgaben waren kinderleicht, aber Tibby stand voll auf der Leitung. Nach einer halben Stunde ging mir die Geduld aus. Ich war völlig durchgefroren und wollte nur noch eins: fort.
»Ich muss jetzt los«, sagte ich. »Hab noch Hockeytraining.«
Als ich die Haustür hinter mir zumachte, hatte ich das Gefühl, etwas hinter mir gelassen zu haben, für immer.
Zu Hause packte ich meine Schultasche aus. Auch die Scherben von Anubis. Und bevor ich mich’s versah, lag ich auf dem Bett und heulte. Ich heulte, weil ich wusste, dass viel mehr kaputtgegangen war als die Figur. Nur was genau, das wusste ich nicht.
Beim Abendessen sagte Pa: »Hast du geweint, Anna? Ist was passiert?« Es klang so liebevoll, dass mir prompt wieder die Tränen kamen. Am liebsten hätte ich von Tibby erzählt, aber ich fand keine Worte. Nur Tränen. Und im Hals drückte etwas, ein dicker Klumpen aus Kummer.
Sam musterte mich eingehend. »Stress in der Liebe?«, vermutete er.
Ich schüttelte den Kopf, obwohl er nicht unrecht hatte. Denn mir fehlte die Tibby von früher sehr. Im Sommer war es so herrlich mit ihr gewesen. Und jetzt war alles ganz anders.
Nach dem Abendessen holte ich Anubis und zeigte Pa die Scherben.
»Verstehe«, sagte er. »Komm mal mit.« Er ging an seinen Schreibtisch, zog mit geheimnisvoller Miene eine Schublade auf, kramte kurz und hielt mir dann eine Tube hin.
»Atomkleber«, sagte er verschwörerisch. »Damit kann man buchstäblich alles kleben. Sogar gebrochene Herzen.«
Er guckte so mitfühlend, dass ich kurz überlegte, ob ich ihm erzählen sollte, dass bei Tibby der Ofen kaputt war. Was würde er wohl dazu sagen? Vermutlich: »Aha, der Ofen von Tib-Tib-Tibby, Lib-Liblib-Libby.«
Nein, das hatte keinen Sinn.