6

Draußen war es regnerisch und windig, und Tibby und ich hockten in der Pausenhalle auf dem Heizkörper.

Gestern war ich mal wieder bei ihr gewesen, um gemeinsam Mathe-Hausaufgaben zu machen. Es war darauf hinausgelaufen, dass ich am Küchentisch saß und rechnete, während sie in einem fort klagte: Sie habe kein anständiges Lineal, ihr Heft sei verschwunden, im Buch stehe ein Fehler und überhaupt würde Frau Driessen die Aufgaben immer so kompliziert erklären, dass kein Mensch was kapiere.

Ich zeigte ihr den Rechenweg noch mal, während sie Strichmännchen auf ein Blatt malte.

Schließlich machte ich mich auf den Weg zum Hockeytraining. Tibby hatte noch nicht eine Aufgabe fertig.

»Ich mach gleich weiter«, sagte sie, doch als ich davonradelte und mich noch einmal kurz umblickte, sah ich sie in den Garten gehen.

Tibby brauchte wirklich Hilfe, das ließ sich nicht mehr länger leugnen. Kurz bevor es zur nächsten Stunde klingelte, fasste ich mir ein Herz. »Tibs, ich finde, du solltest mit JP reden«, begann ich. »Er kann dir bestimmt helfen.«

Sie sah sich verstohlen um, ob auch niemand in der Nähe war. »Da war ich schon«, sagte sie leise.

»Wie? Das wusste ich gar nicht!« Ich war überrascht.

»Nein, wusstest du nicht. Und er hat auch nicht nach ’nem Überweisungsschein von dir gefragt.«

Schluck! Mischte ich mich etwa zu viel ein?

»Und was hat er gesagt?«, forschte ich nach einer Weile nach. »Oder magst du lieber nicht darüber reden?«

Sie kaute an ihren Fingernägeln herum, sodass ich ihre genuschelte Antwort nicht verstand.

Und dann klingelte es auch schon.

Im Klassenzimmer winkte Eileen mir zu, doch ich setzte mich zu Tibby, weil ich das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte. Sie sagte aber kein Wort mehr, sondern kaute weiter unablässig an ihren Nägeln herum.

»Was hast du denn?«, flüsterte ich.

Nach längerem Zögern kam es endlich: »JP meint, ich soll zum Arzt gehen. Aber das mach ich nicht. Schließlich bin ich nicht krank.«

»Bist du sicher? Du kannst dich kaum noch auf den Schulstoff konzentrieren, das ist echt nicht mehr normal. Vielleicht bist du ja zuckerkrank oder so was, und es kommt daher.«

Tibby schwieg und ich bohrte nicht weiter. Meine Gedanken schweiften ab … zu Easy und seinen unwahrscheinlich grünen Augen, in denen ich nur zu gern ertrinken würde.

In der großen Pause hielt ich heimlich Ausschau nach ihm. Vielleicht könnte ich ihn ansprechen. So ganz unverbindlich – »Hi, Easy, wie geht’s?« – und dann sehen, was passierte. Ich könnte ihm natürlich auch mailen oder ihm eine Nachricht über Facebook schreiben, aber dort hätte ich 342 Konkurrentinnen. Da schaute ich ihm doch lieber direkt in die Augen und genoss sein Lächeln, ganz für mich.

Schließlich entdeckte ich ihn. Er stand mit ein paar Klassenkameraden zusammen und quatschte mit Sam. Sah ganz so aus, als würden die beiden allmählich dicke Freunde werden. Im Prinzip nicht verkehrt, aber trotzdem hinderlich für mein Vorhaben.

Als Sam endlich abgezogen war, wagte ich mich ein paar Schritte näher.

Sah er her?

Ja!

Ich lächelte. Und genau in diesem Moment rief jemand: »Hallo, Easy!«

Es war Danny.

Sie flatterte an mir vorbei auf ihn zu und fing an zu lachen und zu flirten, als hinge ihr Leben davon ab.

Ich sah mich nach Tibby um, konnte sie aber nirgends entdecken.

In der nächsten Stunde dachte ich weiter an Easy und machte mir Sorgen wegen der Christmas-Party. Bestimmt würde Danny sich an ihn ranschmeißen und ich stand belämmert in der Ecke. Am besten ging ich gar nicht erst hin.

Ich gähnte laut.

»Anna, really

»Was gibt’s?«, fragte ich halb benommen.

Wilkes klappte mehrmals die Handflächen auf und zu. Eine typische Gebärde, wenn er genervt war.

»Aufpassen sollst du! Ich hab dich was gefragt. Warum hört hier eigentlich keiner zu? Allmählich hab ich die Nase gestrichen voll!«

»Taschentuch gefällig?«, entfuhr es mir.

Blöd.

Jetzt flatterten Wilkes’ Hände wie aufgescheuchte Vögel.

»Mir reicht’s! Endgültig!«, brüllte er. »Doppeltes Hausaufgabenpensum für alle! Bedankt euch bei Anna! Und du, young lady, du schreibst Kapitel drei komplett ab. Abgabe morgen, unterschrieben von deinen Eltern. Verstanden?!«

Mistkerl!

»Wie konntest du nur?«, empörte Tibby sich nach der Englischstunde. »Wir wollen doch in die Disco! Wenn du jetzt mit ’ner Strafarbeit nach Hause kommst, kriegst du wieder Hausarrest! Und dann!?«

Ich zuckte mit den Schultern. Die Party konnte mir gestohlen bleiben. Ich hatte absolut keine Lust, mir den ganzen Abend lang anzugucken, wie Danny sich an Easy ranmachte.

»Ich kann sowieso nicht«, log ich.

»Was? Mann, ich hab mich so darauf gefreut. Und du hast neulich selber gesagt, es wär gut, wenn ich mir mal den ganzen Frust vom Leib tanze. Außerdem kommt Tarik auch, das hat er mir heute Morgen gesagt.«

»Ich dachte, du hältst Tarik für einen albernen Schwachkopf.«

»Ach was!«, rief sie. »Er ist witzig und immer gut drauf. Das ist was ganz anderes.«

Tibby und Tarik, Sam und Sarah, Danny und Easy. Und ich mutterseelenallein? Nein danke!

»Dann geh eben mit Tarik hin«, sagte ich.

»Red keinen Quatsch! Wir beide gehen zusammen, wie abgemacht.«

Ich zückte das Englischbuch. »Du vergisst, dass ich eine Strafarbeit bekommen hab, die ich von meinen Eltern unterschreiben lassen muss. Die erlauben mir garantiert nicht, dass ich anschließend in die Disco gehe.«

»Mann, was darfst du denn überhaupt noch?«, brauste sie auf. »Habt ihr zu Hause ein Militärregime? Lass dir was einfallen, das kannst du doch so gut!«

Wir gingen zu den Fahrrädern.

»Du musst dich gegen deine spießigen Eltern durchsetzen, Anna, die erlauben dir ja rein gar nichts!« Sie funkelte mich mit ihren schwarzen Augen an, temperamentvoll wie eh und je. Es bekam ihr anscheinend gut, sich mal tüchtig aufzuregen. Das weckte die Lebensgeister. Keine Spur mehr von Winterdepression. Vielleicht brauchte sie doch keine Pillen, sondern sollte stattdessen lieber öfter mal mit Tarik reden. Oder stinkwütend werden.

»Das stimmt nicht. Ich darf zum Hockey, zum Geigenunterricht, zum Orchester, und wenn ich will, auch in die Disco«, gab ich zurück.

»Aber wenn du ein einziges Mal mit ’ner Strafarbeit nach Hause kommst, kannst du alles vergessen«, wandte sie ein. »Am besten sagst du zu Hause gar nichts davon. Unterschreib den Wisch einfach selber, das merkt doch kein Schwein.«

»Was ich zu Hause sage und was nicht, ist immer noch meine Angelegenheit«, erwiderte ich. »Und wie du vielleicht weißt, ist meine Mutter nicht so leicht hinters Licht zu führen. Die merkt alles.«

»Dann denk dir fünf Lösungen aus. Oder lass es sein, wenn du dir lieber auf der Nase rumtanzen lässt«, sagte Tibby wütend. »Und tschüss!«

Sie nahm ihr Rad vom Ständer, fuhr los und ließ mich einfach stehen.