Reise in die lichte Welt

Als alles vorbereitet ist, rufe ich Easy an. »Hast du morgen nach der Schule Zeit?«

»Klar. Wollen wir nach Utrecht? Hast du Lust, was zu unternehmen?«

»Nein, ich hab was anderes vor. Es hat mit Tibby zu tun. Und mit meinem Abschied von ihr.«

Am folgenden Nachmittag zeige ich Easy, was ich gemacht habe.

»Guck mal.« Ich nehme den roten Schuhkarton, den ich mit goldenen Hieroglyphen beschriftet habe, aus der Plastiktüte. »Soll ich übersetzen?«

»Gute Reise«, liest Easy. »Das Licht wartet auf dich, hab keine Angst. Anpu, Anubis, Öffner der Wege.«

»Wie? Du kannst das lesen?!«

Ich bin perplex.

Er nickt. »Meine süße Freundin war in den letzten Tagen sehr in Beschlag genommen. Also hatte ich Zeit, ihre geniale Geheimschrift zu lernen. Das hier heißt bestimmt Tibby, oder?«

Ich muss lachen.

»Wie schön, endlich lachst du wieder!«

Ich fordere ihn auf, den Karton zu öffnen.

Er macht es und betrachtet das längliche, schmale Boot mit dem schwarzen Hund am Bug. Und den kleinen Sarkophag darin, auf den ich ein Foto von Tibby und mir geklebt habe.

Ich habe das Boot aus Pappmaschee geformt, was ziemlich aufwendig war, aber dank viel Zeitungspapier, Pas Leim und Farben aus Mas Fundus gut gelungen ist.

»Anubis«, sagt Easy. »Ein Abschiedsboot.«

»Er bringt die Toten sicher ins Jenseits«, sage ich. »In die lichte Welt. Eigentlich eine schöne Vorstellung, oder?«

»Da hast du dir eine Menge Arbeit gemacht. Es ist schön geworden.«

»Ich hab ein Gedicht in den Sarkophag gelegt. Mein richtiger Abschied von ihr. Hier, lies mal …«

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Easy streicht mir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann faltet er das Blatt wieder zusammen und legt es zurück. »Willst du das Boot als Andenken aufheben?«

»Nein. Ich will es auf dem Krummen Rhein fahren lassen. Und zusehen, wie es nach Westen treibt, in die lichte Welt. Tibby hat mal gesagt, eine Reise mit Anubis könnte ihr gefallen.«

»Und wann?«

»Heute Abend. Kommst du mit? Ich würde mich freuen.«

»Du kannst auf mich zählen.«

Als die Sonne untergeht, machen wir uns auf den Weg. Der Himmel wölbt sich rosa und golden über den roten Fluss. Die Regentropfen an den schwarzen Zweigen glitzern wie Tränen.

Wir lassen das Boot zu Wasser. Langsam beginnt es zu treiben. Während es würdevoll davongleitet, landen zwei Schwäne auf dem Fluss und schwimmen neben dem Boot her, bis es aus unserem Blickfeld verschwunden ist.

Mein Tod ist nicht dein Tod.

Mein Leben ist mein Leben.

Zum ersten Mal seit Langem freue ich mich auf zu Hause. Auf unser blitzblank geputztes Haus mit den Stahlmöbeln, den makellos weißen Wänden, der aufgeräumten Küche, den ordentlichen Schränken voll sauberem Geschirr und sauberen Kleidern und auf meine braven, spießigen Eltern, die für mich da sind, wenn ich sie brauche.