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Es waren die Rastazöpfe! Bei den Fahrradständern fiel es mir plötzlich ein. Die Rastazöpfe und diese komischen Klamotten. Tibby sah jetzt völlig anders aus als im Kindergarten und in der Grundschule. Damals hatte sie kurzes schwarzes Kraushaar und trug knallbunte Kleider. Jetzt lief sie in einem verwaschenen blauen T-Shirt und einer viel zu weiten Jeans herum. Aber ihre Augen waren noch wie früher. Wir waren damals befreundet. Tibby und ich.

Sie war ziemlich, naja, temperamentvoll. Als sie in die Kindergartengruppe kam, griff sie sich ein Feuerwehrauto und schlug damit um sich. Gleich am ersten Tag. Ich setzte mich als Einzige zur Wehr, mit einem Krankenwagen, glaube ich, und von da an waren wir Freundinnen, bis sie nach der zweiten Klasse die Schule wechselte.

»Kommst du mit zu mir?« Auf einmal stand Tibby mit ihrem Fahrrad neben mir. Sie lächelte mich an, warm und einladend.

Ich zögerte. Um halb sechs hatte ich Geigenunterricht und musste dafür noch üben. Viola meckerte, wenn ich nicht übte, und ich kriegte diese Doppelgriffe einfach nicht hin.

»Ich kann nicht, leider.«

»Macht nichts. Dann eben morgen. Du musst unbedingt unser Haus sehen.« Das war keine Frage.

»Morgen hab ich Hockeytraining.«

»Du hast ja ganz schön viel um die Ohren«, sagte sie.

»Geigenunterricht, Orchester, Hockey, Hausaufgaben, das Übliche eben«, sagte ich. »Ist das bei dir nicht so?«

»Nein. Bei uns geht’s locker zu.«

Wir schlossen unsere Fahrräder auf.

»Auch das noch!« Tibbys Hinterreifen war platt. Sie ließ die Schultern hängen.

»Ist es weit bis zu dir nach Hause?«

»Eine halbe Stunde zu Fuß.«

Eine halbe Stunde!?

»Setz dich auf meinen Gepäckträger«, entschied ich. Die Doppelgriffe mussten warten.

Tibby zögerte. »Ist nicht nötig«, sagte sie. »Du hast doch noch was vor.«

»Schon okay«, meinte ich.

Ihre Miene hellte sich auf. »Ich kann den Reifen ja flicken, wenn jemand Flickzeug hat.«

Jemand? Warum fragte sie mich nicht direkt? Ich war doch die Einzige weit und breit.

Unter meinem Sattel war eine kleine Tasche – mit Flicken, Aufraupapier, Gummilösung, Reserveventil, Ersatzlampen, einfach allem. Eine komplette Ausrüstung, dank Pa.

Erst wollte Tibby den Reifen selbst flicken. Nach drei vergeblichen Versuchen griff ich ein. Pa hatte mir das Flicken beigebracht, obwohl ich pannensichere Reifen habe.

»Eigentlich brauchst du einen neuen Mantel«, sagte ich. »Guck mal, da ist gar kein Profil mehr drauf.«

»Aber du kriegst es doch hin, oder?«

»Klar«, meinte ich.

»Danke.«

Viel genützt hatte meine Hilfe allerdings nicht, denn kaum waren wir ein paar Straßen weiter, war der Reifen wieder platt.

»Dann spring auf«, sagte ich. »Geht das mit dem Rad?«

»Kein Problem.« Tibby schwang sich auf meinen Gepäckträger und hielt ihr Rad am Lenker fest.

Sie kicherte, als wir schwankend und schlingernd losfuhren. »Du musst lenken!«

»Mach ich ja!«

»Geradeaus!«, kreischte sie.

Es klappte ganz und gar nicht. Ich lenkte, was das Zeug hielt, doch plötzlich lag Tibby auf dem Boden, neben ihrem Rad.

Wir versuchten es noch einmal. »Halt das Rad gerade!«, rief ich nach hinten.

Aber ob ich nun viel oder wenig lenkte, Tibbys Rad drehte immer in die entgegengesetzte Richtung ab.

Erst nach einer halben Stunde abenteuerlicher Zickzackfahrt kamen wir kichernd bei ihr zu Hause an.

Um das Haus wuchs eine verwilderte Hecke, die von Kletterrosen überwuchert war. Durch einen notdürftig geschnittenen, dornigen Heckenbogen gelangten wir in den Vorgarten, in dem drei dicke Perlhühner frei herumliefen. Sie flatterten erschreckt auf, als Tibby ihr Rad hinschmiss.

Ich stellte meines daneben ab und schaute mich mit großen Augen um. Das alte Haus hatte weiß gekalkte Wände, windschiefe hellblaue Fensterläden und ein überhängendes Dach. Es schien einem Märchenbuch entsprungen und hier auf diesem Teppich aus Wildblumen gelandet zu sein. Neben der Tür war ein Riss in der Wand, vermutlich von dem harten Aufprall.

So ein Haus hatte ich noch nie gesehen. Und trotzdem fühlte ich mich hier sofort heimisch.

Ich atmete tief ein und nahm einen herrlich süßen Duft wahr.

»Was riecht denn hier so gut? Sind das die Blumen da?«, fragte ich und deutete auf den Wasserfall aus gelben Blüten am Eingang. Der Duft war betörend, berauschend, überwältigend.

»Meinst du das Geißblatt?«, sagte Tibby. »Das ist nur Unkraut.« Sie packte eine lange Ranke, die uns im Weg hing, und schob sie gleichgültig zur Seite. »Komm rein.«

Ich zögerte, weil ich den zauberhaften Duft noch ein wenig genießen wollte. Es roch nach Freiheit, nach wildem Glück. Warum hatten wir so etwas nicht im Garten? Warum pflanzten die Leute Buchsbäume, wenn es doch so herrliche Wuchergewächse gab?

»Kommst du?«, rief Tibby durchs Küchenfenster.

In der großen Wohnküche empfing mich ein Sammelsurium ganz anderer Gerüche: Apfelmus, Zimt, Stinkekäse, überreife Bananen, exotische Kräuter und irgendwas Süßliches – Räucherstäbchen vielleicht –, dazu ein Hauch Katzenpisse. Objektiv gesehen nicht wirklich toll, aber da war es bereits zu spät: Ich hatte mein Herz an dieses allerliebste Märchenhaus verloren.

Der Fußboden war rotbraun gefliest. Am Fenster hingen coole lila Retrogardinen, leicht ausgeblichen, also vermutlich original. In der Spüle schwankte ein Turm aus schmutzigem Geschirr, und in einer Ecke standen neben mehreren verkrusteten Fressnäpfen ein Tisch mit Computer und, unter einem Riesenberg Papier, ein undefinierbares großes Haushaltsgerät mit abgesplittertem Lack, auf das jemand rote, blaue, grüne und gelbe Herzchen gemalt hatte. Der Gasherd war voller Kochspritzer. Darüber hing eine Abzugshaube mit abgebrochenen Schaltern. Die gegenüberliegende Wand mit der Siebzigerjahre-Tapete schmückte ein kunstvoll gestickter Wandteppich und daneben hing eine E-Gitarre, ein ungewöhnlich geformtes Modell mit knallrotem Kabel.

Die ganze Küche nahm mich mit ausgebreiteten Schmuddelarmen herzlich auf. Und das orangefarbene Sofa in der Ecke wisperte mir leise ein »Willkommen zu Hause!« zu.

»Was guckst du so?«, fragte Tibby.

Ich dachte an unsere superordentliche Edelstahl-Designerküche und den Marmorfußboden. »Hier ist es total gemütlich«, sagte ich. »Bei uns …«

Eine rotbraune Katze kam angelaufen und schmiegte sich an Tibbys Bein.

»Du hast eine Katze?«, fragte ich dümmlich.

»Wir haben vier: Whisky, Bacardi, Wodka und Schnaps. Das hier ist Whisky.«

Whisky umkreiste Tibbys Füße und miaute kläglich.

»Nicht quengeln, Whis«, sagte Tibby. »Geh und fang eine feine Maus. Höchste Zeit, dass du’s lernst. Futter gibt es erst heut Abend wieder.«

»Frisst sie Mäuse!? Die armen Tierchen!«

»Du hattest wohl noch nie ’ne Maus im Brotkasten, was?«, fragte Tibby.

»Iiieh! Du etwa?«

»Nein, aber nur, weil Schnaps sie fängt.« Sie lachte. »Bevor wir Schnaps bekamen, haben hier die Mäuse auf dem Tisch getanzt. Whisky kann man dabei vergessen, die mag nur Dosenfutter, stimmt’s, Whis? Ein ganz faules Stück bist du.«

Tibby nahm Whisky auf den Schoß und knuddelte sie, bis sie einen Kratzer abbekam und die Katze fallen ließ. Sie landete auf allen vieren und stolzierte beleidigt davon.

»Hast du auch Haustiere?«, fragte Tibby.

Hatte ich nicht. Ma ekelte sich vor Katzen (besonders in Katzenklo-Hinsicht).

»Ich hätte am liebsten noch einen Hund«, sagte Tibby. »Einen schwarzen Schäferhund mit schönen Stehohren.«

Ich zuckte mit den Schultern. Für mich wäre das nichts. Es regnet hier zu oft und nasse Hunde stinken.

Tibby kramte im Kühlschrank, warf zwei Schälchen verschimmelten Pudding weg und fand ganz unten eine Packung Apfelsaft.

»Hast du Durst?« Sie inspizierte die Packung. »Der muss schleunigst weg«, sagte sie und goss mir etwas ein, bevor ich ablehnen konnte.

Ich spielte mit meinem Glas, schob es auf dem Holztisch hin und her. Er hatte in der Mitte eine abgewetzte Stelle voller Kerben.

»Benutzt ihr den Tisch als Brotschneidebrett?«

Es sollte ein Witz sein, aber Tibby sagte: »Ja, klar.«

Der Tisch als Schneidebrett? Warum eigentlich nicht? Praktisch war es jedenfalls.

Ich sah auf meine Uhr. »Ich muss los«, sagte ich. Im nächsten Moment begann die Herzchenmaschine in der Ecke zu ruckeln. Der Papierberg kam ins Rutschen und fiel teilweise herunter.

»Was ist das denn?«, fragte ich.

»Die Wäsche ist fertig. Hilfst du mir schnell?«, fragte Tibby.

Ich folgte ihr und war froh, dass ich den abgelaufenen Apfelsaft stehen lassen konnte.

Hinter dem Haus war ein verwunschener kleiner Gemüsegarten mit Salatpflanzen, Bohnen und anderem Grünzeug, das ich nicht kannte. Daneben befanden sich zwei rostige Pfähle, zwischen denen eine Wäscheleine gespannt war.

Tibby hängte die nassen Sachen auf und ich half ihr. Aus dem Gebüsch kam eine Katze angeschlichen und rieb sich am Wäschekorb.

»Na, Wodka, willst du uns helfen?«, fragte Tibby.

Die Wäschestücke flatterten fröhlich im Wind, wie Fähnchen bei einem Fest. Bestimmt fühlt man sich in einem trocken geflatterten T-Shirt besonders wohl, dachte ich, ganz anders als in Kleidern aus dem Trockner.

»Musst du dich immer um die Wäsche kümmern?«, fragte ich. »Ist das deine Aufgabe?«

»Wie meinst du das: meine Aufgabe?«, fragte Tibby.

Was war daran unverständlich? Ich erzählte ihr, dass bei uns jeder seine Aufgaben hat. Ich muss den Müll raustragen, den Geschirrspüler ein- und ausräumen und die Zimmerpflanzen gießen, aber davon haben wir nur zwei. Sam muss die Wäsche aus dem Trockner nehmen und zusammenlegen und einmal die Woche den Rasen mähen, dafür bekommt er zwei Euro extra. Meine Eltern machen jeden Samstag den Großeinkauf, und wenn unter der Woche etwas fehlt, besorgen Sam oder ich das nach der Schule. Jeder bügelt seine Sachen selbst, und dienstagabends räumen wir gemeinsam auf, denn mittwochs kommt unsere Putzhilfe Jana.

»Tsss«, machte Tibby. »Klingt ja, als ob ihr in einer Kaserne wohnt.«

Unser System funktionierte jedenfalls gut. Kein Grund, gleich so schnippisch zu werden. »Du musst doch bestimmt oft das Katzenklo sauber machen, oder?«, hakte ich nach. »Bei vier Katzen …« Dass es nach Katzenpisse stank, sagte ich zwar nicht, trotzdem kam das Ganze patziger raus als gewollt.

Tibby schaute kurz zu mir herüber. »Nee, die machen im Freien.«

»Da werden sich die Nachbarn aber freuen.«

Sie zog die Brauen hoch und sah mich mit ihren schwarzen Funkelaugen an. Du bist neidisch, sagte ihr Blick, und ich wurde so rot wie die Rosen.

Dann drehte sie sich um und ging ins Haus.

Ich schlenderte hinter ihr her. Wodka strich mir um die Beine, und da wusste ich auf einmal wieder, dass ich mir nichts mehr wünschte als eine Katze. Eine brennende Sehnsucht hatte mich ergriffen, völlig unerwartet und genau in dem Moment, als ich Wodkas Fell spürte. Ich sehnte mich nach einer Katze mit weichen Pfoten, die sich an mich schmiegte, sich auf meinen Schoß legte und zufrieden schnurrte. Nach einem warmen zutraulichen Wesen, das sich neben mir ausstreckte, wenn ich Hausaufgaben machte.

In der ersten Klasse hatte ich diesen Wunsch sogar an den Nikolaus geschrieben, hübsch gereimt und in krakeliger Kinderschrift. Ma hatte den Zettel aufgehoben.

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Der Nikolaus hatte mir lauter schöne Sachen gebracht. Keinen Pesen, dafür einen knalllila Spielstaubsauger und ein Bügeleisen aus Plastik, das Dampf ausstoßen konnte: pulvrige Wolken, die nach WC-Ente rochen. Und ein Hexenquartett. Lauter schöne Sachen. Aber keine Katze.

Ich weiß nicht, warum, aber auf einmal war ich tieftraurig. Tibby merkte es. »Komm, setz dich.« Sie legte mir den Arm um die Schultern und schob mir den abgelaufenen Saft hin. Er schmeckte nach Apfelblüten und Trost.

»Jetzt muss ich aber wirklich los«, sagte ich.

»Du erinnerst dich nicht mehr, was?«, sagte Tibby an der Haustür. »Du hast es vergessen.«

Geheimnisvoll lächelnd lehnte sie im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.

Ich überlegte. Was sollte ich vergessen haben? Etwas von früher? Oder hatte ich ein Versprechen nicht gehalten?

»Wir kennen uns aus dem Kindergarten«, sagte Tibby. »Das hast du vergessen.«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte ich. »Das wusste ich sofort wieder. Aber sag mal, warum kommst du mitten im Schuljahr in unsere Klasse?«

»Weil du mir gefehlt hast«, sagte Tibby mit warmer Stimme. Ihre schwarzen Augen strahlten mich an, und mir war, als hätte ich bei ihr, in diesem herrlich wilden Chaos, ein Zuhause gefunden.