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Das Haus war unnatürlich still.
Auf Sarah wirkte es nicht nur so leer, weil nirgendwo Geplauder zu hören war und die sieben hellwachen Köpfe fehlten, die es bis dahin mit Leben erfüllt hatten.
Sondern weil die Ungewissheit sie quälte.
Sie waren unter dem Vorwand, für die Reise mit Faye und Janet packen zu müssen, früher als üblich vom jährlichen Hexensabbat heimgekommen. Em hatte die leere Aktentasche neben der Couch im Familienzimmer stehen sehen, und Sarah hatte das Hexenkostüm auf dem Deckel der Waschmaschine entdeckt.
»Sie sind weg«, hatte Em gesagt, und Sarah hatte sich mit bebenden Schultern in ihre Arme geworfen. »Sind sie wohlauf?«, hatte sie geflüstert.
»Sie sind zusammen«, hatte Em erwidert. Es war nicht die Antwort, die sich Sarah gewünscht hatte, aber sie war ehrlich, so wie Em.
Zerstreut hatten sie ihre Sachen in die Reisetaschen gestopft. Jetzt saßen Tabitha und Em schon im Wohnmobil, während Faye und Janet geduldig darauf warteten, dass Sarah das Haus abschloss.
Während ihrer letzten Nacht im Haus hatten Sarah und der Vampir stundenlang in der Rezeptur gesessen und sich bei einer Flasche Rotwein unterhalten. Matthew hatte ihr aus seiner Vergangenheit erzählt und ihr seine Ängste vor der Zukunft gestanden. Sarah hatte ihm zugehört und sich bemüht, nicht allzu deutlich zu zeigen, wie sehr manche seiner Geschichten sie schockierten. Sie war keine Christin, doch ihr war klar, dass er eine Beichte ablegen wollte. So gut sie konnte, hatte sie ihm schließlich die Absolution erteilt, obwohl ihr klar war, dass einige Taten nie vergeben oder vergessen werden konnten.
Trotzdem hatte er ein Geheimnis nicht mit ihr teilen wollen, und so wusste Sarah immer noch nicht, wohin und in welche Zeit ihre Nichte verschwunden war.
Die Dielen im Haus quietschten und knarrten im Chor, während Sarah durch die vertrauten dunklen Zimmer wanderte. Sie schloss die Türen zur Stube und drehte sich dann noch einmal um, um sich von dem einzigen Heim zu verabschieden, das sie je gekannt hatte.
Die Stubentüren öffneten sich mit einem scharfen Knall. Direkt neben dem Kamin sprang eine Diele hoch, unter der ein kleines, schwarz eingebundenes Buch und ein elfenbeinfarbener Umschlag zum Vorschein kamen, der im Mondschein zu leuchten schien.
Sarah unterdrückte einen Aufschrei und streckte die Hand aus. Der elfenbeinfarbene Umschlag kam angeflogen, landete mit einem leisen Klatschen auf ihrer Handfläche und klappte dann um. Auf der Vorderseite stand ein einziges Wort.
»Sarah.«
Sie strich über die Buchstaben und sah Matthews lange weiße Finger. Dann riss sie, mit klopfendem Herzen, das Papier auf.
»Sarah«, stand darin. »Keine Angst. Wir haben es geschafft.«
Ihr Herz schlug wieder langsamer.
Sarah legte das Blatt auf den Schaukelstuhl ihrer Mutter und winkte dem Buch. Nachdem das Haus es ihr übergeben hatte, kehrte die Diele unter dem Stöhnen des alten Holzes und dem Kreischen der rostigen Nägel in ihre Ausgangslage zurück.
Sie öffnete die erste Seite. Der Schatten der Nacht, Enthaltend zwei Poetische Hymnen, ersonnen von G. C. 1594. Das Buch roch alt, aber nicht unangenehm, fast wie Weihrauch in einer staubigen Kathedrale.
Genau wie Matthew, dachte Sarah lächelnd.
Oben ragte ein kleiner Zettel heraus. Sie klappte das Buch beim Vorsatzblatt auf. »Meinem theuren und ueberaus wuerdigen Freunde Matthew Roydon.« Sarah sah genauer hin und erkannte die winzige, fast verblichene Zeichnung einer Hand mit Rüschenmanschette, die herrisch auf den Namen deutete und unter der in alter brauner Tinte die Ziffer »29« stand.
Gehorsam schlug sie Seite neunundzwanzig auf und las unter Tränen die unterstrichene Passage:
Sie Jäger erschafft und dazu eine Meute von
Hunden
Die mit ihrem Geheul Himmel und Erde verwunden
Und staune nicht, dass eine Nymphe, wie man sie
schöner nicht sieht
Vor einer hetzenden Meute wilder Hunde entflieht
Denn sie nimmt ganz nach Lust die Form jeden Tieres an,
Das in weitem Schritt seinem Jäger enteilen kann.
Die Worte beschworen Dianas Porträt herauf – klar, deutlich und ungebeten –, mit von Gazeflügeln eingerahmtem Gesicht und dick in Silber und Diamanten gepacktem Hals. Ein einzelner, tränenförmiger Rubin ruhte bebend in der Vertiefung unter ihrem Hals wie ein riesiger Blutstropfen.
In der Rezeptur hatte er ihr bei Sonnenaufgang versprochen, einen Weg zu finden, um ihr mitzuteilen, dass Diana in Sicherheit war.
»Danke, Matthew.« Sarah küsste das Buch und die Nachricht und warf beides in den riesigen Kamin. Mit ein paar Worten entfachte sie weißglühendes Feuer. Das Papier ging sofort in Flammen auf, und die Ränder des Buches rollten sich ein.
Sarah sah den Flammen einige Sekunden zu. Dann ging sie durch die Haustür hinaus, ohne sie abzuschließen und ohne noch einmal zurückzublicken.
Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, schoss ein abgewetzter silberner Sarg den Kamin herab und landete auf dem brennenden Papier. Ein paar Tropfen Blut und Quecksilber wurden durch die Hitze der Flammen aus den beiden Kammern innerhalb der Ampulle geschleudert und jagten einander über die Oberfläche des Buches, bis sie durch den Rost fielen. Dort drangen sie tief in den weichen alten Mörtel des Kamins und reisten weiter in das Herz des Hauses. Als sie es erreicht hatten, seufzte das Haus erleichtert auf und ließ einen vergessenen, verbotenen Duft frei.
Sarah atmete noch einmal tief die kühle Nachtluft ein und stieg dann in das Wohnmobil. Ihre Sinne waren nicht scharf genug, um das in der Luft tanzende Aroma von Zimt und Schlehdorn, Geißblatt und Kamille zu riechen.
»Alles okay?«, fragte Em gut gelaunt.
Sarah beugte sich über den Katzenkäfig, in dem Tabitha hockte, und drückte Ems Knie. »Alles wunderbar.«
Faye begann sich laut darüber auszulassen, wo sie frühstücken könnten, drehte den Zündschlüssel und fuhr den Wagen die Zufahrt hinunter auf die Landstraße, die sie auf die Interstate bringen würde.
Die vier Hexen waren zu weit entfernt, als dass sie bemerkt hätten, wie sich die Atmosphäre rund um das Haus verdichtete und Hunderte von Nachtwesen das ungewöhnliche Duftgemisch von Vampir und Hexe witterten, und sie sahen auch nicht die hellgrünen Schatten der zwei Geister im Fenster der Wohnstube.
Bridget Bishop und Dianas Großmutter sahen dem Auto nach.
Was werden wir jetzt tun?, fragte Dianas Großmutter.
Das, was wir schon immer getan haben, Joanna, erwiderte Bridget. Auf die Vergangenheit zurückblicken – und der Zukunft entgegensehen.