9
Auf einer hohen Bogenbrücke überquerte Matthew den Avon. Die vertraute Landschaft Lanarkshires mit ihren zerklüfteten Hügeln, dem düsteren Himmel und den harten Kontrasten wirkte besänftigend auf ihn. In diesem Teil von Schottland gab es nur wenig Gefälliges oder Einladendes, und die abweisende Schönheit spiegelte seine gegenwärtige Stimmung wider. Er schaltete einen Gang herunter und fuhr durch die Lindenallee, die einst zu einem Palast geführt hatte und jetzt nirgendwohin führte, ein kurioses Überbleibsel aus einem herrschaftlichen Leben, das niemand mehr führen wollte. Schließlich hielt er hinter einem einstigen Jagdschlösschen, dessen unverputzte Rückwand so gar nicht zu der cremefarbenen und mit Stuck verzierten Front passte, stieg aus dem Jaguar und hob die Taschen aus dem Kofferraum.
Die weiße Tür auf der Rückseite des Gebäudes schwang auf. »Du siehst richtig scheiße aus.« Im Eingang stand, eine Hand auf dem Türgriff, ein drahtiger Dämon mit dunklen Haaren, funkelnden braunen Augen und Hakennase und inspizierte seinen besten Freund von Kopf bis Fuß.
Hamish Osborne hatte Matthew Clairmont vor fast zwanzig Jahren in Oxford kennengelernt. Anfangs hatten beide nicht gewusst, wie sie sich verhalten sollten. Doch sobald sie gemerkt hatten, dass sie einen ähnlichen Humor hatten und dass sie die gleiche Leidenschaft für gewisse Ideen teilten, waren sie unzertrennlich geworden.
Matthew sah ihn erst ärgerlich und im nächsten Moment resigniert an. »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte er schroff und setzte die Taschen hinter der Tür ab. Er atmete den kalten, klaren Geruch des Hauses mit seiner unverwechselbaren Note von altem Gips und alterndem Holz ein, der sich mit Hamishs einzigartigem Aroma von Lavendel und Pfefferminz mischte. Der Vampir konnte es nicht erwarten, den Geruch der Hexe aus der Nase zu bekommen.
Jordan, Hamishs menschlicher Butler, erschien lautlos und zog eine Schwade von Möbelpolitur und Stärke hinter sich hier. Das vertrieb Dianas Geißblatt- und Schwarznessel-Aroma nicht völlig aus Matthews Nase, aber es half.
»Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir«, sagte Jordan und wuchtete dann Matthews Taschen die Treppe hinauf. Jordan war ein Butler alter Schule. Selbst wenn er nicht so fürstlich entlohnt worden wäre, damit er die Geheimnisse seines Arbeitgebers bewahrte, hätte er nie einer Menschenseele offenbart, dass Osborne ein Dämon war oder dass er bisweilen Vampire zu Gast hatte. Genauso undenkbar wäre es gewesen, jemandem anzuvertrauen, dass er gelegentlich gebeten wurde, zum Frühstück Sandwiches mit Erdnussbutter und Bananen zu servieren.
»Vielen Dank, Jordan.« Matthew nahm den großen Salon im Erdgeschoss in Augenschein, damit er sich nicht Hamishs Blick stellen musste. »Wie ich sehe, hast du dir einen neuen Hamilton zugelegt.« Er betrachtete wohlwollend das neue Landschaftsbild an der Wand gegenüber.
»Normalerweise bemerkst du meine Neuerwerbungen gar nicht.« Genau wie Matthew sprach Hamish ein fast reines Oxford-Englisch mit einem winzigen Anflug von Dialekt. In seinem Fall war es der verschliffene Slang der Straßen von Glasgow.
»Wo wir gerade von Neuerwerbungen sprechen, wie geht es Sweet William?« William war Hamishs neuer Liebhaber, ein so bezaubernder und unkomplizierter Mensch, dass Matthew ihn nach der englischen Bezeichnung für die Bartnelke benannt hatte. Irgendwann hatte Hamish den Kosenamen übernommen, und William hatte angefangen, die Floristen in der Stadt nach eingetopften Bartnelken abzuklappern, um sie seinen Freunden zu schenken.
»Der ist eingeschnappt«, antwortete Hamish mit einem leisen Lachen. »Ich hatte ihm ein ruhiges Wochenende zu Hause versprochen.«
»Du hättest nicht zusagen müssen, weißt du? Das wäre nicht nötig gewesen.« Matthew klang ebenfalls eingeschnappt.
»Ja, ich weiß. Aber wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen, und Cadzow ist um diese Jahreszeit sehr schön.«
Matthew sah Hamish finster und mit unverhohlenem Unglauben an.
»Mein Gott, du musst wirklich auf die Jagd gehen, habe ich recht?« Mehr brachte Hamish nicht heraus.
»Unbedingt«, antwortete der Vampir knapp.
»Haben wir noch Zeit für einen Drink, oder willst du sofort los?«
»Ich glaube, einen Drink schaffe ich gerade noch«, antwortete Matthew grollend.
»Exzellent. Ich habe eine Flasche Wein für dich da und einen Whisky für mich.« Gleich nachdem Matthew ihn im Morgengrauen angerufen hatte, hatte Hamish seinen Butler gebeten, etwas von dem guten Wein aus dem Keller zu holen. Er trank ungern allein, und Matthew rührte Whisky nicht an. »Dann kannst du mir vielleicht erzählen, warum du an diesem wunderschönen Septemberwochenende um jeden Preis jagen gehen musst.«
Hamish ging ihm über den glänzenden Boden voran und dann nach oben in die Bibliothek. Die im neunzehnten Jahrhundert angebrachte warm-braune Holzvertäfelung hatte die ursprüngliche Absicht des Architekten zunichtegemacht, hier einen luftigen, weitläufigen Raum einzurichten, in dem sich die Damen des achtzehnten Jahrhunderts die Zeit vertreiben konnten, während die Männer ihrem Sport nachgingen. Die originale weiße Decke mit ihren Stuckgirlanden und den geschäftigen Putten war geblieben und leuchtete wie ein Fanal gegen alles Moderne herab.
Die beiden Männer ließen sich in die Ledersessel vor dem Kamin sinken, in dem bereits ein Feuer flackerte, das der Herbstkälte die Schärfe nahm. Hamish zeigte Matthew die Weinflasche, und der Vampir zog wohlwollend die Brauen hoch. »Nicht schlecht.«
»Das will ich doch hoffen. Die Herren bei Berry Brothers and Rudd haben mir versichert, dass er ganz exzellent sein soll.« Hamish schenkte Matthew ein Glas ein und zog den Stöpsel aus seiner Whiskykaraffe. Die Gläser in der Hand, saßen die beiden Männer in kameradschaftlichem Schweigen vor dem Kamin.
»Tut mir leid, dass ich dich da hineinziehe«, begann Matthew. »Ich stecke in einer schwierigen Situation. Die Sache ist … kompliziert.«
Hamish lachte kurz. »Ist sie das bei dir nicht immer?«
Matthew hatte Hamish Osborne damals ins Herz geschlossen, weil der Dämon einerseits immer sofort zum Punkt kam und andererseits im Unterschied zu den meisten seiner Art ein kühler Denker und schwer aus der Fassung zu bringen war. Im Laufe der Jahre war der Vampir mit einer Reihe von Dämonen befreundet gewesen, die gleichermaßen begnadet wie verflucht gewesen waren. Mit Hamish gab es so gut wie nie Probleme. Es gab keine aus heiterem Himmel aufblitzenden Streitereien, keinen plötzlichen, unstillbaren Tatendrang, keine bedrohlichen Depressionen. Bei den Treffen mit Hamish wechselte sich einvernehmliches Schweigen mit scharfsinnigen Konversationen ab, die grundsätzlich von Hamishs heiterer Lebenssicht eingefärbt waren.
Auch was die Arbeit anging, war Hamish eine Ausnahme unter den Dämonen, denn er versuchte sich weder als Künstler noch als Musiker. Stattdessen besaß er eine natürliche Begabung für Finanzen – er wusste, wo es Geld zu verdienen gab, und entdeckte instinktiv gefährliche Schwachstellen in internationalen Finanzinstrumenten und Märkten. Er wandte seine typisch dämonische Kreativität nicht auf Sonaten, sondern auf Excel-Tabellen an und wusste die komplexen Wechselwirkungen im Wirtschaftsleben so bemerkenswert präzise zu deuten, dass Präsidenten, Potentaten und Premierminister in aller Welt seinen Rat suchten.
Die für einen Dämon so untypische Vorliebe für die Ökonomie faszinierte Matthew ebenso wie Hamishs ungezwungener Umgang mit den Menschen. Hamish war gern unter ihnen und fühlte sich von ihren Schwächen nicht belastet, sondern im Gegenteil stimulieren. Zurückführen ließ sich das auf seine Kindheit, die er bei einem Versicherungsmakler und einer Hausfrau verbracht hatte. Nachdem Matthew die unerschütterlichen Osbornes kennengelernt hatte, verstand er, warum Hamish sie so mochte.
Das Knistern des Feuers und der süße Whiskyduft begannen zu wirken, und der Vampir merkte, wie er sich entspannte. Das Weinglas locker in den Fingern haltend, setzte sich Matthew auf und schaute in die im Feuerschein blinkende rote Flüssigkeit.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er unsicher.
»Am Ende natürlich. Warum hast du zum Telefon gegriffen und mich angerufen?«
»Ich brauche Abstand von einer Hexe.«
Hamish sah seinen Freund aufmerksam an und bemerkte, wie aufgewühlt Matthew war. Irgendwie ahnte Hamish, dass die Hexe keine alte hakennasige Schabracke war.
»Was ist an dieser Hexe so besonders?«, fragte er ruhig.
Matthew sah ihn unter halb geschlossenen Lidern hervor an. »Alles.«
»O je. Du steckst wirklich tief drin, oder?« Hamishs weiche Stimme klang mitfühlend und auch ein wenig amüsiert.
Matthew lachte freudlos. »Könnte man so sagen, ja.«
»Hat diese Hexe einen Namen?«
»Diana. Sie ist Historikerin. Und Amerikanerin.«
»Die Göttin der Jagd«, Hamish nickte bedächtig. »Ist sie abgesehen von ihrem altertümlichen Namen eine gewöhnliche Hexe?«
»Nein«, antwortete Matthew sofort. »Gewöhnlich ist gar nichts an ihr.«
»Aha. Die Komplikationen.« Hamish sah seinen Freund prüfend an, ob er sich allmählich beruhigte, musste aber feststellen, dass Matthew auf einen Streit aus war.
»Sie ist eine Bishop.« Matthew wartete ab. Aus Erfahrung wusste er, dass sich der Dämon so gut wie jeden Hinweis selbst erschloss, selbst wenn er noch so obskur war.
Hamish durchwühlte und sortierte sein Wissen, bis er das Gesuchte gefunden hatte. »Doch nicht aus Salem, Massachusetts?«
Matthew nickte grimmig. »Sie ist die letzte Hexe aus dem Geschlecht der Bishops. Ihr Vater ist ein Proctor.«
Der Dämon pfiff leise durch die Zähne. »Eine doppelte Hexe aus einer berühmten magischen Sippe. Du machst wirklich keine halben Sachen, wie? Sie muss mächtig sein.«
»Ihre Mutter war es jedenfalls. Rebecca Bishop beherrschte schon mit dreizehn Zaubersprüche, die den meisten Hexen zeitlebens zu schwer fallen. Und schon als Kind verfügte sie über unglaubliche Fähigkeiten als Seherin.«
»Kennst du sie, Matt?« Hamish musste das fragen. Matthew hatte schon zu viele Leben geführt und die Wege mit zu vielen Menschen und Geschöpfen gekreuzt.
Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es wurde viel über sie geredet – und es gab viel Neid. Du weißt, wie Hexen sind.« Wie immer, wenn er über diese Spezies sprach, klang er leicht angewidert.
Hamish ignorierte seinen Seitenhieb auf die Hexen und sah Matthew über den Rand seines Glases hinweg aufmerksam an.
»Und Diana?«
»Sie behauptet, dass sie ihre Magie nicht einsetzt.«
In diesem kurzen Satz gab es zwei lose Fäden, an denen es zu ziehen galt. Hamish zupfte an dem einfacheren. »Wie, überhaupt nicht? Nicht einmal, um einen verlorenen Ohrring zu finden? Oder zum Haarefärben?« Aus Hamishs Stimme sprach Zweifel.
»Sie ist nicht der Typ für Ohrringe und gefärbte Haare. Lieber läuft sie fünf Kilometer und rudert anschließend in einem gefährlich winzigen Boot den Fluss hoch und runter.«
»Bei solchen Eltern kann ich kaum glauben, dass sie ihre Kräfte nicht einsetzt.« Hamish war gleichzeitig Pragmatiker und Träumer. Darum konnte er so gut mit anderer Leute Geld umgehen. »Und du glaubst ihr auch nicht, sonst würdest du nicht andeuten, dass sie lügt.« Damit hatte er auch am zweiten Faden gezogen.
»Sie behauptet, sie würde ihre Magie nur gelegentlich einsetzen – und nur für Kleinigkeiten.« Matthew verstummte kurz, fuhr sich so ruppig durch die Haare, dass sie sich aufstellten, und nahm dann einen Schluck Wein. »Allerdings habe ich sie beobachtet und weiß, dass sie ihre Kräfte viel öfter einsetzt. Ich kann es riechen.« Zum ersten Mal, seit er angekommen war, klang er offen und frei. »In ihrer Nähe riecht es wie ein elektrischer Sturm, der jeden Augenblick ausbrechen kann, wie ein Trockengewitter. Manchmal kann ich es sogar sehen. Wenn sie wütend wird oder sich in ihre Arbeit versenkt, beginnt sie zu schimmern.« Und wenn sie schläft, dachte er stirnrunzelnd. »Manchmal meine ich es sogar zu schmecken.«
»Sie schimmert?«
»Du würdest das nicht sehen, allerdings könntest du die Energie vielleicht auf andere Weise spüren. Das Chatoiement – das Hexenschimmern – ist sehr schwach. Selbst in meiner Jugendzeit brachten nur die allermächtigsten Hexen hin und wieder die Luft zum Flimmern. Heute findet man das kaum noch. Diana weiß nicht, dass sie schimmert, und sie hat keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.« Matthew ballte schaudernd die Faust.
Der Dämon sah auf die Uhr. Der Tag war noch jung, aber er wusste schon jetzt, warum sein Freund nach Schottland gekommen war.
Matthew Clairmont hatte sich verliebt.
Jordan trat wie üblich genau zum richtigen Zeitpunkt ins Zimmer. »Der Gillie hat den Jeep gebracht, Sir. Ich habe ihm erklärt, dass Sie ihn heute nicht brauchen würden.« Der Butler wusste, dass man keinen Jagdhelfer brauchte, um Wild aufzuspüren, wenn man einen Vampir im Haus hatte.
»Exzellent.« Hamish erhob sich und leerte sein Glas. Er hätte ein zweites gebrauchen können, aber er wusste, dass er einen klaren Kopf behalten musste.
Matthew sah auf. »Ich ziehe lieber ohne dich los, Hamish. Ich würde lieber alleine jagen.« Der Vampir jagte nicht gern mit Warmblütern – eine Kategorie, die Menschen, Dämonen und Hexen einschloss. Normalerweise machte er bei Hamish eine Ausnahme, aber heute wollte er sein Verlangen nach Diana Bishop lieber ungestört in den Griff bekommen.
»Wir gehen gar nicht jagen«, erklärte ihm Hamish mit einem boshaften Funkeln in den Augen. »Wir gehen auf die Pirsch.« Der Dämon hatte einen Plan.
Er würde seinen Freund beschäftigt halten, bis er sich öffnete und ihm freiwillig erzählte, was in Oxford los war, ohne dass Hamish ihm jedes Wort aus der Nase ziehen musste. »Komm mit, der Tag ist wunderschön. Es wird dir Spaß machen.«
Draußen kletterte Matthew grimmig in Hamishs verbeulten Jeep. Obwohl zu einem so eleganten schottischen Jagdhaus eigentlich ein Land Rover gehört hätte, fuhren die beiden in Cadzow lieber in dem alten Jeep herum. Matthew machte es nichts aus, dass man sich darin die Finger abfror, und Hamish amüsierte sich über das hypermaskuline Image, das ihnen der Wagen verlieh.
In den Hügeln rammte sich Hamish rücksichtslos durch die Gänge – der Vampir zuckte bei jedem geräuschvollen Schaltvorgang zusammen – und fuhr hoch in die Weidegebiete der Hirsche. Matthew erspähte auf dem nächsten Steilhang ein Rudel und ließ Hamish anhalten. Leise stieg er aus dem Jeep und kauerte sich sofort wie hypnotisiert neben den Vorderreifen.
Lächelnd gesellte sich Hamish zu ihm.
Der Dämon war schon öfter mit Matthew auf die Pirsch gegangen und wusste genau, was sein Freund brauchte. Der Vampir machte nicht jedes Mal Beute, obwohl Hamish sicher war, dass Matthew heute, wäre er allein gewesen, erst nach Einbruch der Dunkelheit und gesättigt zurückgekehrt wäre – während zwei Hirsche weniger auf den Hügeln gegrast hätten. Sein Freund war so sehr Jäger wie Fleischfresser. Es war die Jagd, durch die sich die Vampire definierten, nicht das Beutemachen oder die Art ihrer Beute. Manchmal, wenn Matthew keine Ruhe fand, zog er einfach los und verfolgte das Wild, ohne es zu töten.
Während der Vampir die Hirsche beobachtete, beobachtete der Dämon Matthew. Es gab Ärger in Oxford. Er konnte es spüren.
Während der nächsten Stunden saß Matthew reglos da. Dank seiner übermenschlich scharfen Sinne nahm er jede noch so kleine Bewegung wahr, konnte daraus auf die Gewohnheiten der Tiere schließen und genau abschätzen, wie sie auf einen knackenden Zweig oder einen aufflatternden Vogel reagieren würden. Der Vampir beobachtete sie hochkonzentriert, aber er zeigte keine Ungeduld. Für Matthew zählte allein der Moment, in dem die Beute erkannte, dass sie geschlagen war, und den Kampf aufgab.
Erst als das Licht schwächer wurde, stand er auf und nickte Hamish zu. Für den ersten Tag genügte es, und auch wenn er kein Tageslicht brauchte, um die Hirsche zu beobachten, wusste er doch, dass Hamish Licht brauchte, um den Jeep zurückzusteuern.
Als sie das Jagdhaus erreichten, war es bereits stockdunkel, und Jordan hatte alle Lichter angemacht, wodurch das auf einer gottverlassenen Anhöhe aufragende Gebäude noch lächerlicher wirkte.
»Das Schlösschen war von Anfang an ein Irrsinn«, meinte Matthew leichthin, aber dennoch stichelnd. »Robert Adam war völlig verrückt, diesen Auftrag anzunehmen.«
»Du hast mir oft genug erklärt, was du von meiner kleinen Geschmacksverirrung hältst«, erwiderte Hamish fröhlich. »Und es ist mir egal, ob du mehr von Architektur verstehst als ich oder ob du Adam für einen Verrückten hältst, weil er – wie nennst du es immer? – einen schlechten Witz – in die Wildnis von Lanarkshire gestellt hat. Ich liebe das Schlösschen, und nichts, was du sagst, kann etwas daran ändern.« Sie hatten dieses Gespräch schon unzählige Male geführt, seit Hamish damals verkündet hatte, dass er das Schlösschen – mitsamt Mobiliar, Jagdführer und Butler – einem Aristokraten abgekauft hatte, der für den Bau keine Verwendung und kein Geld für die Reparatur hatte. Matthew war entsetzt gewesen. Für Hamish hingegen war die Cadzow Lodge der festgemauerte Beweis, wie weit er sich über seine Glasgower Wurzeln erhoben hatte; inzwischen konnte er Geld für etwas ausgeben, das völlig nutzlos war, nur weil er eben wollte.
»Hmpf«, meinte Matthew finster.
Verdrossen ist besser als streitlustig, dachte Hamish. Er ging zur nächsten Stufe seines Planes über.
»Wir essen um acht«, kündigte er an. »Im Esszimmer.«
Matthew hasste das Esszimmer, das protzig, viel zu groß und zugig war. Vor allem aber störte den Vampir die verspielte und feminine Einrichtung des Raumes. Es war Hamishs Lieblingszimmer.
Matthew stöhnte. »Ich habe keinen Hunger.«
»Du bist völlig ausgezehrt«, erklärte Hamish scharf, mit einem Blick auf Matthews fahlen, spröden Teint. »Wann hast du das letzte Mal etwas zu dir genommen?«
»Vor ein paar Wochen …« Matthew zeigte mit einem Achselzucken, wie wenig ihn das interessierte. »Ich weiß nicht mehr.«
»Heute Abend gibt es Wein und Suppe. Morgen – da kannst du essen, was du willst. Möchtest du vor dem Abendessen lieber alleine sein, oder riskierst du eine Partie Billard gegen mich?« Hamish war ein extrem guter Billardspieler und noch besser beim Snooker, das er als Teenager gelernt hatte. Sein erstes Geld hatte er in den Billardhallen von Glasgow verdient, und er schlug fast jeden Gegner. Matthew weigerte sich, gegen ihn Snooker zu spielen, weil es, wie er Hamish erklärt hatte, keinen Spaß machte, immer nur zu verlieren. Der Vampir hatte versucht, Hamish stattdessen für Karambolage zu begeistern, jene alte französische Variante des Billardspiels, doch dabei hatte dann grundsätzlich Matthew gewonnen. English Billiard, eine Poolbillard-Variante mit drei Kugeln, war der Kompromiss.
Matthew konnte keiner Herausforderung widerstehen. »Ich ziehe mich nur kurz um, dann treffen wir uns im Salon.«
Der filzbespannte Billardtisch befand sich in einem Raum gegenüber der Bibliothek. Hamish stand schon in Pullover und Baumwollhose bereit, als Matthew im weißen Hemd und Jeans zu ihm stieß. Der Vampir trug ungern Weiß, weil er darin noch fahler und geisterhafter aussah, aber es war das einzige anständige Hemd, das er mitgenommen hatte. Er hatte für eine Jagdpartie, nicht für eine Dinnerparty gepackt.
Er griff nach seinem Queue und stellte sich ans Tischende. »Fertig?«
Hamish nickte. »Spielen wir eine Stunde, in Ordnung? Danach gehen wir nach unten und trinken etwas.«
Die beiden Männer beugten sich über ihre Queues. »Sei nicht so streng mit mir, Matthew«, murmelte Hamish, dann stießen sie die Kugeln an. Der Vampir schnaubte, als beide Kugeln ans andere Ende rollten, an die Bande prallten und wieder ein Stück zu ihnen zurückkamen.
»Ich nehme Weiß«, sagte Matthew, als die Kugeln zum Stillstand kamen und seine näher an der Bande liegen blieb. Er nahm die andere vom Filz und warf sie Hamish zu. Der Dämon setzte eine rote Kugel auf ihren Punkt und trat zurück.
Genau wie beim Jagen hatte Matthew keine Eile mit dem Punkten. Erst absolvierte er fünfzehn sogenannte Hazards, bei denen er die rote Kugel jedes Mal in einem anderen Loch versenkte. »Wenn du gestattest«, meinte er gedehnt und deutete auf den Tisch. Kommentarlos setzte der Dämon die gelbe Kugel auf den Filz.
Jetzt wechselte Matthew zwischen simplen Hazards und den komplizierteren Cannons, die eigentlich nicht seine Stärke waren. Dabei versuchte er mit demselben Stoß Hamishs gelbe Kugel und die rote Kugel zu treffen, was nicht nur Kraft, sondern auch Finesse erforderte.
»Wo hast du die Hexe gefunden?«, fragte Hamish beiläufig, nachdem Matthew mit einem Stoß beide Kugeln versenkt hatte.
Matthew legte sich die weiße Kugel zurecht und zielte. »In der Bodleian Library.«
Überrascht zog der Dämon die Brauen hoch. »In der Bodleian? Seit wann treibst du dich in Bibliotheken herum?«
Matthew beging ein Foul, die weiße Kugel sprang über die Bande und polterte auf den Boden. »Seit ich im Konzert war und dort gehört habe, wie sich zwei Hexen über eine Amerikanerin ausgelassen haben, die ein lange verloren geglaubtes Manuskript in die Finger bekommen hat«, erklärte er. »Mir wollte nicht in den Kopf, warum die Hexen so geiferten.« Wütend über seinen Fehler trat er vom Tisch zurück.
Hamish spielte schnell seine fünfzehn Hazards. Matthew setzte seine Kugel auf den Tisch und griff nach der Kreide, um Hamishs Punkte zu notieren.
»Also bist du in die Bibliothek spaziert und hast sie in ein Gespräch verwickelt, um mehr zu erfahren?« Der Dämon versenkte alle drei Kugeln mit einem einzigen Stoß.
»Ich habe mich auf die Suche nach ihr gemacht, ja.« Matthew sah zu, wie Hamish am anderen Ende des Tisches Position bezog. »Ich war neugierig.«
»Hat sie sich gefreut, dich zu sehen?«, fragte Hamish freundlich und kombinierte ein weiteres Mal. Er wusste, dass sich Vampire, Hexen und Dämonen nicht mischten. Seine Freundschaft mit Matthew war schon relativ ungewöhnlich, und Hamishs dämonische Freunde hielten ihn für verrückt, weil er einen Vampir so nahe an sich heranließ. In Nächten wie dieser beschlich ihn manchmal der Verdacht, dass sie recht haben könnten.
»Eher weniger. Anfangs hatte Diana Angst, auch wenn sie sich ohne mit der Wimper zu zucken meinem Blick stellte. Ihre Augen sind wirklich einzigartig – blau und golden und grün und grau«, sinnierte Matthew. »Und später hätte sie mich am liebsten verprügelt. Sie roch ausgesprochen wütend.«
Hamish verkniff sich ein Lachen. »Klingt wie eine vernünftige Reaktion auf eine Vampirattacke in der Bibliothek.« Mit der gelben Kugel schoss er die rote an, wobei er ihr absichtlich so viel Drall verlieh, dass sie weiterrollte und ein zweites Mal mit der roten zusammenprallte. »Verflucht«, stöhnte er auf. »Durchgestoßen.«
Matthew kehrte wieder an den Tisch zurück, schoss ein paar Hazards, probierte sich an ein, zwei Cannons.
»Habt ihr euch auch außerhalb der Bibliothek getroffen?«, fragte Hamish, als der Vampir die Fassung halbwegs wiedergewonnen hatte.
»Ehrlich gesagt sehe ich sie kaum, selbst in der Bibliothek. Ich sitze im einen Teil, sie in einem anderen. Aber ich war mit ihr frühstücken. Und in der Old Lodge, damit sie Amira kennenlernt.«
Hamish schaffte es nur mit Mühe, seinen Mund geschlossen zu halten. Matthew hatte schon viele Frauen kennengelernt, aber noch keine davon zur Old Lodge mitgenommen. Und was hatte es zu bedeuten, dass sie an entgegengesetzten Enden der Bibliothek saßen?
»Wäre es nicht einfacher, sich in der Bibliothek neben sie zu setzen, wenn du dich für sie interessierst?«
»Ich interessiere mich nicht für sie!« Matthews Queue rammte in die weiße Kugel. »Ich will das Manuskript. Seit mehr als hundert Jahren versuche ich es in die Finger zu bekommen. Sie hat es einfach auf den Bestellzettel geschrieben, und schon kam es aus dem Archiv angefahren.« Der Neid war ihm anzuhören.
»Was für ein Manuskript, Matt?« Hamish gab sich redlich Mühe, die Ruhe zu bewahren, aber der Wortwechsel war kaum noch auszuhalten. Matthew geizte mit Informationen wie ein alter Knauser mit seinen Pennys. Für die quicklebendigen Dämonen war es auch so schon eine Qual, mit Wesen zu kommunizieren, für die jede Zeiteinheit unter einem Jahrzehnt bedeutungslos war.
»Ein alchemistisches Buch, das früher Elias Ashmole gehört hat. Diana Bishop ist eine hoch angesehene Wissenschaftshistorikerin mit Schwerpunkt Alchemie.«
Schon wieder stieß Matthew zu fest zu. Hamish setzte die Kugeln auf die Ausgangsposition zurück und sammelte weitere Punkte, während sein Freund um Fassung rang. Schließlich tauchte Jordan auf und erklärte ihnen, dass unten die Drinks warteten.
»Wie steht’s?« Hamish warf einen kurzen Blick auf die Tafel mit dem Punktestand. Er wusste, dass er gewonnen hatte, aber ein Gentleman fragte trotzdem – das hatte Matthew ihm irgendwann erklärt.
»Du hast natürlich gewonnen.«
Matthew stakste aus dem Raum und donnerte deutlich schneller als jeder Mensch die Treppe hinunter. Jordan warf einen besorgten Blick auf die gebohnerten Stufen.
»Professor Clairmont hatte heute einen anstrengenden Tag, Jordan.«
»Man könnte den Eindruck bekommen«, murmelte der Butler.
»Bringen Sie uns lieber noch eine Flasche Roten. Es wird wahrscheinlich ein langer Abend.«
Sie nahmen ihre Drinks in dem Raum, der einst als Salon gedient hatte. Durch die Fenster sah man in den Garten, der immer noch in akkuraten klassischen Beeten angelegt war, deren Proportionen überhaupt nicht zu dem Bau passten. Sie waren zu protzig – sie hätten vor einen Palast, nicht vor ein kleines Lustschloss gehört.
Vor dem Kamin, mit einem Glas in der Hand, stieß Hamish endlich ins Herz des Mysteriums vor. »Erzähl mir mehr über das Manuskript, das diese Diana liest, Matthew. Was genau enthält es? Das Rezept für den Stein der Weisen, mit dem man Blei in Gold verwandeln kann? Oder Brauanweisungen für das Elixier des Lebens, mit dem sich sterbliches in unsterbliches Fleisch verwandeln lässt?«
Der Dämon verstummte, als Matthew zu ihm aufsah.
»Das ist nicht dein Ernst«, flüsterte Hamish schockiert. Der Stein der Weisen war doch nur eine Legende, genau wie der Heilige Gral oder Atlantis. Unmöglich konnte es ihn wirklich geben. Verspätet fiel ihm auf, dass es angeblich auch keine Dämonen, Vampire oder Hexen gab.
»Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«, fragte Matthew.
»Nein.« Der Dämon schauderte. Matthew war schon immer überzeugt gewesen, dass er eines Tages würde herausfinden können, was die Vampire immun gegen Tod und Verfall machte. Der Stein der Weisen passte nur zu gut zu diesem Traum.
»Es ist das verlorene Buch«, verkündete Matthew grimmig. »Ich weiß es genau.«
Wie die meisten nichtmenschlichen Geschöpfe kannte auch Hamish die alten Geschichten. In einer Version hatten die Hexen ein unermesslich kostbares Buch gestohlen, ein Buch, das die Geheimnisse der Unsterblichkeit enthielt. Einer anderen Fassung zufolge hatten die Vampire den Hexen ein uraltes Zauberbuch entrissen und es dann verloren. Manche meinten flüsternd, es sei überhaupt kein Zauberbuch, sondern eine Art Leitfaden, in dem die grundlegenden Wesenszüge der vier humanoiden Spezies auf Erden abgehandelt wurden.
Matthew hatte seine eigenen Theorien darüber, was das Buch enthalten könnte. Die Erklärung, warum Vampire so schwer zu töten waren, sowie Schilderungen der Frühgeschichte von Menschen und nichtmenschlichen Geschöpfen waren dabei bei Weitem der geringste Teil.
»Du glaubst wirklich, dieses alchemistische Manuskript ist das fragliche Buch?«, fragte Hamish. Als Matthew nickte, atmete er seufzend aus. »Kein Wunder, dass die Hexen getratscht haben. Woher wussten sie, dass Diana es gefunden hatte?«
Matthew brauste wütend auf. »Wer weiß das schon, und wen interessiert das? Die Probleme haben begonnen, als sie ihren Mund nicht halten konnten.«
Wieder einmal wurde Hamish daran erinnert, dass Matthew als Vampir Hexen absolut nicht ausstehen konnte.
»Ich war nämlich nicht der Einzige, der sie am Sonntag belauscht hat. Andere Vampire haben ebenfalls mitgehört. Und dann begannen die Dämonen zu spüren, dass sich hier etwas Interessantes abspielen könnte, und …
»Und jetzt wimmelt es in Oxford von Geschöpfen«, beendete der Dämon den Satz für ihn. »Was für ein Chaos. Beginnt nicht außerdem das neue Semester? Menschen werden in Scharen in die Stadt einfallen.«
»Das Schlimmste kommt noch.« Matthew sah ihn finster an. »Das Manuskript war nicht einfach verschollen. Es stand unter einem Bann, den Diana gebrochen hat. Dann hat sie es ins Archiv zurückgeschickt, und jetzt zeigt sie kein Interesse, es noch einmal abzurufen. Und ich bin nicht der Einzige, der darauf wartet, dass sie es tut.«
»Matthew.« Hamish war die Anspannung anzuhören. »Soll das heißen, dass du sie vor anderen Hexen beschützt?«
»Sie scheint gar nicht zu begreifen, wie groß ihre Macht ist. Damit setzt sie sich einem Risiko aus. Ich durfte die Hexen nicht an sie heranlassen.« Plötzlich wirkte Matthew beängstigend verletzlich.
»Oh Matt«, tadelte Hamish ihn kopfschüttelnd. »Du solltest dich nicht zwischen Diana und ihre eigenen Leute stellen. Damit schürst du nur noch mehr Unruhe. Außerdem«, fuhr er fort, »wird sich keine Hexe offen gegen eine Bishop stellen. Dafür ist ihre Familie zu alt und zu angesehen.«
Inzwischen töteten sich die Geschöpfe nicht mehr gegenseitig, außer in Notwehr. Matthew hatte Hamish erzählt, wie es früher gewesen war, als Blutfehde und Vendetta gewütet und die nichtmenschlichen Geschöpfe immer wieder die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen hatten.
»Die Dämonen sind unorganisiert, und die Vampire würden es nicht wagen, sich mir in den Weg zu stellen. Aber den Hexen kann man nicht trauen.« Matthew stand auf und ging mit seinem Weinglas an den Kamin.
»Lass die Finger von Diana Bishop«, riet Hamish ihm. »Außerdem wirst du das Manuskript sowieso nicht lesen können, falls es wirklich verhext ist.«
»Wenn sie mir hilft, schon«, meinte Matthew täuschend salopp, den Blick fest in die Flammen gerichtet.
»Matthew«, ermahnte ihn der Dämon in jenem Tonfall, mit dem er sonst seine Juniorpartner wissen ließ, dass sie sich auf dünnem Eis bewegten, »lass die Finger von dem Buch und von der Hexe.«
Der Vampir stellte sein Weinglas behutsam auf dem Kaminsims ab und wandte sich seinem Freund zu. »Ich glaube, das kann ich nicht, Hamish. Ich … begehre sie.« Er brauchte das Wort nur auszusprechen, schon packte ihn der Hunger wieder. Wenn sich sein Hunger auf ein Objekt gerichtet hatte, wenn er, so wie jetzt, nicht mehr zu stillen war, dann genügte es nicht mehr, irgendwelches Blut zu trinken. Dann verlangte sein Körper nach etwas Bestimmtem. Wenn er es nur schmecken könnte – wenn er Diana nur schmecken könnte –, wäre er sofort zufrieden, und das schmerzhafte Verlangen wäre gestillt.
Es überraschte Hamish nicht, dass sich sein Freund nach Diana Bishop verzehrte. Um sich zu paaren, musste ein Vampir ein anderes Wesen tiefer begehren als alles andere auf dieser Welt, und dieses Begehren wurzelte in instinktiver Lust. Hamish hatte den starken Verdacht, dass Matthew – entgegen seiner flammenden Beteuerungen, er werde nie jemanden finden, der ein solches Gefühl in ihm auslöste – sich bald paaren würde. »Dann hast du im Moment ein ganz anderes Problem als die Hexen oder Diana. Und es geht dabei nicht um ein uraltes Manuskript, das eventuell die Antworten auf deine Fragen enthält, eventuell aber auch nicht.« Hamish ließ seine Worte wirken, bevor er fortfuhr: »Dir ist klar, dass du sie jagst?«
Erleichtert, dass es damit ausgesprochen war, atmete der Vampir aus. »Ich weiß. Ich bin durch ihr Fenster eingestiegen, während sie geschlafen hat. Ich folge ihr, wenn sie joggen geht. Sie weist meine Hilfsangebote ab, und je öfter sie das tut, desto hungriger werde ich.« Er sah Hamish so verdattert an, dass der sich auf die Unterlippe beißen musste, um nicht zu lächeln. Matthew war es nicht gewöhnt, einen Korb zu bekommen. Betört von seinem einnehmenden Äußeren und seinem Charme taten die Frauen alles, was er von ihnen verlangte. Kein Wunder, dass er jetzt fasziniert war.
»Aber ich brauche Dianas Blut nicht – nicht körperlich. Ich werde diesem Verlangen nicht nachgeben. Es braucht kein Problem zu sein, dass ich mit ihr zusammen bin.« Unvermittelt fiel Matthews Miene in sich zusammen. »Was rede ich da? Wir können unmöglich zusammen sein. Wir würden Aufmerksamkeit erregen.«
»Nicht unbedingt. Wir haben relativ viel Zeit miteinander verbracht, ohne dass das irgendwen gestört hätte«, merkte Hamish an.
»Der Fall liegt hier anders, das weißt du genau«, wies Matthew ihn ungeduldig zurecht.
»Ach ja, ich vergaß.« Hamish wurde wütend. »Was wir Dämonen tun, interessiert natürlich kein Schwein. Aber ein Vampir und eine Hexe? Das ist wichtig. Ihr seid diejenigen, um die sich in dieser Welt alles dreht.«
»Hamish!«, protestierte Matthew. »Du weißt genau, dass ich nicht so denke.«
»Du verachtest uns Dämonen genauso wie alle Vampire, Matthew. Die Hexen übrigens auch, wenn ich das noch anfügen darf. Du solltest dir lange und genau überlegen, was du für andere Geschöpfe empfindest, bevor du mit dieser Hexe ins Bett gehst.«
»Ich habe nicht die Absicht, mit Diana ins Bett zu gehen«, erwiderte Matthew ätzend.
»Das Essen ist serviert.« Jordan hatte schon seit einer Weile unbeachtet in der Tür gewartet.
»Gott sei Dank«, schnaufte Hamish erleichtert und stand aus seinem Sessel auf. Mit Matthew war leichter umzugehen, wenn er seine Aufmerksamkeit aufteilen musste.
Wenig später saßen sie im Esszimmer am Ende des langen Tisches, an dem eine ganze Festgesellschaft Platz gefunden hätte. Hamish ließ sich den ersten von mehreren Gängen schmecken, während Matthew mit seinem Suppenlöffel spielte, bis sein Essen kalt geworden war. Der Vampir beugte sich über die Schüssel und schnüffelte.
»Pilze und Sherry?«, fragte er.
»Genau. Jordan wollte etwas Neues ausprobieren, und nachdem nichts hineinkommt, was du abstoßend finden würdest, ließ ich ihn gewähren.«
Normalerweise brauchte Matthew in der Cadzow Lodge kaum zusätzliche Nahrung, aber Jordan verstand es, die leckersten Suppen zu zaubern, und Hamish aß genauso ungern allein, wie er alleine trank.
»Bitte entschuldige, Hamish«, sagte Matthew, während er seinem Freund beim Essen zusah.
»Ich nehme deine Entschuldigung an, Matt«, erwiderte Hamish und ließ den Suppenlöffel auf halbem Weg zum Mund schweben. »Aber du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie schwer wir akzeptieren können, dass wir Dämonen oder Hexen sind. Bei euch Vampiren ist der Fall klar, da gibt es nichts zu diskutieren. Erst bist du kein Vampir, dann bist du einer. Es gibt keine Fragen, keinen Raum für Zweifel. Während wir Übrigen zagen, zusehen und zaudern müssen. Das macht den Dünkel der Vampire unerträglich.«
Matthew drehte den Löffelstiel zwischen den Fingern wie einen Tambourstock. »Hexen wissen, dass sie Hexen sind. In der Beziehung sind sie ganz und gar nicht wie Dämonen«, stellte er fest.
Hamish ließ den Löffel klappernd in den Teller fallen und nahm einen Schluck Wein. »Du weißt ganz genau, dass es nicht genügt, eine Hexe zum Vater oder zur Mutter zu haben. Du kannst trotzdem ein ganz gewöhnlicher Mensch werden. Oder aber du kannst aus Versehen deine Wiege in Brand setzen. Niemand weiß, wann oder wie sich deine Kräfte zeigen werden.« Im Gegensatz zu Matthew war Hamish mit einer Hexe befreundet. Janine machte ihm die Haare, und sie stellte eine eigene Hautlotion her, die wahre Wunder bewirkte. Er hatte den Verdacht, dass zu den Inhaltsstoffen auch ein paar Zaubersprüche zählten.
»Andererseits kommt es auch nicht so überraschend«, beharrte Matthew, schöpfte etwas Suppe auf seinen Löffel und schwenkte ihn langsam hin und her, um ihn noch weiter abzukühlen. »Diana kann auf eine mehrere Jahrhunderte alte Familiengeschichte zurückblicken. Das ist nicht mit dem zu vergleichen, was du als Teenager durchmachen musstest.«
»Ich hatte eine Höllenzeit«, bestätigte Hamish und ließ einige der dämonischen Jugendgeschichten, die er im Lauf der Jahre durchlebt hatte, an seinem inneren Auge vorbeiziehen.
Als Hamish zwölf Jahre alt war, war sein ganzes Leben an einem einzigen Nachmittag auf den Kopf gestellt worden. Im Lauf des langen schottischen Herbstes war ihm klar geworden, dass er wesentlich klüger war als alle seine Lehrer. Natürlich hegen die meisten Zwölfjährigen diesen Verdacht, aber Hamish war sich dieser Tatsache mit absoluter, beunruhigender Klarheit bewusst. Zuerst stellte er sich krank, um nicht zur Schule gehen zu müssen; als das nicht mehr funktionierte, gab er es auf, normal erscheinen zu wollen, und erledigte alle seine Aufgaben in rasender Geschwindigkeit. In seiner Not ließ der Schulrektor jemanden aus der mathematischen Fakultät der Universität kommen, der Hamishs verstörende Begabung untersuchen sollte, in wenigen Minuten Aufgaben zu lösen, die seine Schulkameraden über eine Woche beschäftigt hielten.
Jack Watson von der Universität Glasgow, ein junger Dämon mit roten Haaren und klugen blauen Augen, brauchte nur einen Blick auf den elfengleichen Hamish Osborne zu werfen, um zu vermuten, dass auch dieser ein Dämon war. Nachdem er Hamish zum Schein einer förmlichen Prüfung unterzogen hatte, bei der wie erwartet herauskam, dass Hamish ein mathematisches Wunderkind war, dessen Geist alle normalen Parameter sprengte, lud Watson ihn ein, die Vorlesungen an der Universität zu besuchen. Außerdem erklärte er dem Rektor, dass das Kind nicht in einer normalen Klasse unterrichtet werden könne, ohne sich zum Brandstifter oder in eine ähnlich destruktive Richtung zu entwickeln.
Anschließend besuchte Watson das bescheidene Heim der Osbornes und eröffnete der fassungslosen Familie, wie die Welt in Wahrheit aufgebaut war und welche Geschöpfe sie bevölkerten. Percy Osborne, der einer Familie von glaubensfesten Presbyterianern entstammte, verwahrte sich zunächst gegen die Vorstellung, dass es verschiedene übernatürliche oder übermenschliche Geschöpfe geben sollte, bis seine Frau ihn darauf hinwies, dass er im Glauben an Hexen großgezogen worden war – warum sollte es da nicht auch Vampire und Dämonen geben? Hamish weinte vor Erleichterung, weil er sich endlich nicht mehr so allein fühlte. Seine Mutter drückte ihn an ihre Brust und erklärte ihm, sie habe schon immer gewusst, dass er etwas Besonderes sei.
Während Watson noch vor dem elektrischen Kamin saß und mit ihrem Mann und ihrem Sohn Tee trank, nutzte Jessica Osborne die Gelegenheit, um einige weitere Aspekte in Hamishs Leben anzusprechen, die ihm möglicherweise das Gefühl gaben, anders als andere Kinder zu sein. Bei ein paar Schokoladenkeksen informierte sie ihren Sohn darüber, dass sie wisse, wie unwahrscheinlich eine Hochzeit mit dem Mädchen von nebenan sei, das so in ihn verschossen war. Jessica Osborne hatte gesehen, wie Hamish den älteren Bruder des Mädchens anhimmelte, einem strammen Kerl von fünfzehn Jahren, der besser Fußball spielen konnte als jeder andere im Viertel. Weder Percy noch Jack hatten irgendwie überrascht oder erschrocken auf diese Offenbarung reagiert.
»Trotzdem«, erklärte Matthew jetzt nach dem ersten Löffel lauwarmer Suppe, »muss Dianas Familie fest damit gerechnet haben, dass sie eine Hexe wird – und sie ist eine geworden, ob sie ihre Magie nun einsetzt oder nicht.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass das genauso schlimm ist, wie in einer Familie von ahnungslosen Menschen aufzuwachsen. Kannst du dir diesen Druck ausmalen? Ganz zu schweigen von dem grässlichen Gefühl, dass dein Leben nicht dir selbst gehört?« Hamish schauderte. »Da ist mir blinde Ignoranz doch lieber.«
»Wie hast du dich eigentlich gefühlt«, fragte Matthew zögerlich, »als du das erste Mal in dem Wissen aufgewacht bist, ein Dämon zu sein?« Normalerweise stellte der Vampir keine so persönlichen Fragen.
»Als wäre ich wiedergeboren worden«, sagte Hamish. »Ich war genauso überwältigt und konfus wie du, als du zum ersten Mal aufgewacht bist und dich nach Blut verzehrt hast, während du gleichzeitig hören konntest, wie jeder einzelne Grashalm wuchs. Alles sah anders aus. Alles fühlte sich anders an. Ständig musste ich grinsen wie ein Trottel, der im Lotto gewonnen hat, und die restliche Zeit saß ich heulend in meinem Zimmer. Aber ganz ehrlich, geglaubt – wirklich geglaubt, verstehst du? – habe ich es erst, als du mich ins Krankenhaus geschmuggelt hast.«
Matthews erstes Geburtstagsgeschenk für Hamish hatte aus einer Flasche Champagner und einem Ausflug ins John Radcliffe bestanden. Dort hatte Matthew seinen Freund in den Kernspintomografen geschoben und dem Dämonen dann eine Reihe von Fragen gestellt. Hinterher hatten sie, noch bevor Hamish das Operationshemd ausgezogen hatte, ein Glas Champagner getrunken und dabei Hamishs Scans mit denen eines hochintelligenten Gehirnchirurgen verglichen. Hamish hatte Matt die Scans immer wieder abspielen lassen und jedes Mal fasziniert beobachtet, wie sein Hirn aufleuchtete, als wäre es ein Flipperautomat, sobald er auch nur auf die einfachsten Fragen antwortete. Es war das schönste Geburtstagsgeschenk, das er je bekommen hatte.
»So wie du es schilderst, steht Diana ungefähr da, wo ich vor diesem Kernspin war«, erklärte Hamish ihm. »Sie weiß, dass sie eine Hexe ist. Aber sie hat trotzdem das Gefühl, dass sie eine Lüge lebt.«
»Weil sie genau das macht«, knurrte Matthew und nahm einen zweiten Löffel Suppe. »Diana versucht so zu tun, als sei sie ein Mensch.«
»Wäre es nicht interessant zu erfahren, warum? Und wie erträgst du überhaupt so jemanden in deiner Nähe? Du hasst Lügen.«
Matthew wirkte nachdenklich, reagierte aber nicht.
»Da ist noch etwas«, fuhr Hamish fort. »Für jemanden, der Lügen verabscheut, hütest du erstaunlich viele Geheimnisse. Wenn du diese Hexe brauchst, wozu auch immer, wirst du ihr Vertrauen gewinnen müssen. Und das kannst du nur, wenn du ihr Dinge erzählst, die du ihr lieber verschweigen würdest. Sie hat deinen Beschützerinstinkt geweckt, und den musst du jetzt bekämpfen.«
Während sich Matthew Hamishs Worte durch den Kopf gehen ließ, lenkte der das Gespräch auf die letzten katastrophalen Ereignisse in der Finanzwelt und auf die Regierung. Der Vampir beruhigte sich weiter und verlor sich in den komplizierten Verwicklungen von Wirtschaft und Politik.
»Ich nehme an, du hast von den Morden in Westminster gehört«, sagte Hamish, als sich Matthew endlich entspannt hatte.
»Habe ich. Jemand muss dem einen Riegel vorschieben.«
»Du?«, fragte Hamish.
»Das ist nicht mein Job – noch nicht.«
Hamish wusste, dass Matthew seine eigene Theorie zu den Morden hatte, die mit seinen wissenschaftlichen Forschungen zusammenhing. »Du glaubst immer noch, die Morde sind ein Warnzeichen, dass die Vampire aussterben?«
»Ja«, sagte Matthew nur.
Matthew war überzeugt, dass die nichtmenschlichen Geschöpfe langsam, aber sicher ausgelöscht wurden. Anfangs hatte Hamish die Hypothesen seines Freundes verworfen, aber inzwischen hatte er den Verdacht, dass Matthew recht haben könnte.
Nach dem Essen zogen sie sich ins Obergeschoss zurück. Der Dämon hatte einen der überflüssigen Salons in ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer unterteilt. Das Wohnzimmer wurde von einem großen, alten Schachbrett mit geschnitzten Elfenbein- und Ebenholzfiguren dominiert, das eigentlich in ein Museum und unter Glas gehört hätte statt in ein zugiges Jagdschlösschen. Genau wie der Gehirnscan war auch das Schachspiel ein Geschenk von Matthew.
Ihre Freundschaft hatte sich während langer Abende wie diesem vertieft, bei zahllosen Schachpartien und Diskussionen über ihre Arbeit. Eines Abends hatte Matthew Hamish von seinen Großtaten erzählt. Inzwischen wusste der Dämon so gut wie alles über Matthew Clairmont, während der Vampir seinerseits das einzige Geschöpf war, das sich nicht vor Hamishs mächtigem Intellekt fürchtete.
Hamish nahm, wie stets, hinter den schwarzen Figuren Platz.
»Haben wir die letzte Partie zu Ende gespielt?«, fragte Matthew in geheuchelter Überraschung angesichts des ordentlich aufgebauten Bretts.
»Ja. Du hast gewonnen«, erwiderte Hamish knapp und zauberte damit ein seltenes, breites Lächeln auf das Gesicht seines Freundes.
Die beiden begannen zu spielen, Matthew bedächtig, Hamish schnell und entschlossen, wenn er am Zug war. Bis auf das Knistern des Feuers und das Ticken der Uhr war es vollkommen still im Raum.
Nachdem sie vielleicht eine Stunde gespielt hatte, setzte Hamish den letzten Teil seines Planes um.
»Ich habe eine Frage.« Er sprach leise, weil er gleichzeitig darauf wartete, dass sein Freund den nächsten Zug machte. »Willst du die Hexe um ihrer selbst willen – oder weil sie dir mit ihrer Macht das Manuskript zugänglich machen könnte?«
»Ich will ihre Macht nicht!«, ereiferte sich Matthew und zog unklugerweise mit seinem Turm, der prompt von Hamish geschlagen wurde. Der Vampir senkte den Kopf und wirkte dadurch noch mehr wie ein Renaissance-Engel, der über einem himmlischen Mysterium brütet. »Jesus, ich weiß nicht, was ich will.«
Fast reglos saß Hamish da. »Ich glaube, du weißt es sehr wohl, Matt.«
Matthew zog mit dem Bauern, ohne etwas zu erwidern.
»Die anderen Geschöpfe in Oxford«, fuhr Hamish fort, »werden bald begreifen, dass du dich keineswegs nur für diesen alten Schinken interessierst – falls sie es nicht schon wissen. Worauf willst du wirklich hinaus?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte der Vampir.
»Liebe? Willst du sie kosten? Sie zu einer von euch machen?«
Matthew knurrte.
»Sehr eindrucksvoll«, merkte Hamish gelangweilt an.
»Mir ist vieles noch ein Rätsel, Hamish, aber drei Dinge weiß ich genau«, erklärte Matthew und griff nach dem Weinglas, das neben ihm auf dem Boden stand. »Ich werde dem Durst nach ihrem Blut nicht nachgeben, und ich will auch nicht ihre Macht kontrollieren. Und ich werde sie ganz bestimmt nicht zum Vampir machen.« Der Gedanke ließ ihn schaudern.
»Dann bleibt nur noch Liebe. Da hast du deine Antwort. Du weißt sehr wohl, was du willst.«
Matthew nahm einen großen Schluck. »Ich will, was ich nicht wollen soll, und ich begehre, was ich nie bekommen darf.«
»Du hast doch keine Angst, dass du ihr etwas antun könntest?«, fragte Hamish vorsichtig. »Du warst schon öfter mit warmblütigen Frauen zusammen, und du hast keiner von ihnen etwas angetan.«
Matthews schweres Weinglas knickte am Stiel ab. Der Kelch kippte zu Boden, und roter Wein ergoss sich über den Teppich. Zwischen dem Zeigefinger und Daumen des Vampirs sah Hamish zermahlenes Glas glitzern.
»Ach, Matt. Warum hast du mir das nicht erzählt?« Hamish zügelte seine Gesichtsmuskeln, um sicherzugehen, dass ihm der Schock nicht anzusehen war.
»Wie hätte ich das können?« Matthew starrte seine Hände an und zerrieb die Splitter zwischen den Fingerspitzen, bis sie rotschwarz glitzerten. »Du hast mir immer voll und ganz vertraut.«
»Wer war es?«
»Sie hieß Eleanor.« Matthew strauchelte über den Namen. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, ein fruchtloser Versuch, ihr Gesicht aus seinen Gedanken zu löschen. »Mein Bruder und ich hatten damals Streit. Inzwischen weiß ich nicht einmal mehr, worum es ging. Damals hätte ich ihn am liebsten mit blanken Händen ausgelöscht. Eleanor versuchte mich zur Vernunft zu bringen. Sie stellte sich zwischen uns und …« Seine Stimme versagte. Er griff sich an den Kopf, ohne erst die Blutspuren von seinen bereits verheilten Fingerspitzen zu wischen. »Ich habe sie so geliebt, und doch habe ich sie getötet.«
»Wann war das?«, flüsterte Hamish.
Matthew senkte die Hände und drehte sie hin und her, um seine langen, kräftigen Finger zu studieren. »Vor Jahrhunderten. Gestern. Was tut das zur Sache?«, fragte er mit dem für einen Vampir typischen Desinteresse an Zeiträumen.
»Es tut sehr wohl etwas zur Sache, falls du diesen Fehler begangen hast, als du noch ein frisch geprägter Vampir warst, der seine Instinkte und seinen Hunger noch nicht beherrschen konnte.«
»Aha. Dann tut es auch etwas zur Sache, dass ich noch eine Frau getötet habe, Cecilia Martin, und das erst vor gut hundert Jahren. Damals war ich bestimmt kein ›frisch geprägter‹ Vampir mehr.« Matthew sprang auf und trat ans Fenster. Am liebsten wäre er in die schwarze Nacht geflohen und verschwunden, um das Entsetzen in Hamishs Augen nicht sehen zu müssen.
»Sind es noch mehr?«, fragte Hamish scharf.
Matthew schüttelte den Kopf. »Zwei sind mehr als genug. Eine Dritte darf es nicht geben. Niemals.«
»Erzähl mir von Cecilia«, befahl Hamish und beugte sich in seinem Stuhl nach vorn.
»Sie war die Frau eines Bankiers«, erzählte Matthew stockend. »Ich sah sie in der Oper und verliebte mich in sie. Damals war jeder in Paris in die Frau eines anderen Mannes verliebt.« Sein Finger fuhr auf der Fensterscheibe die Umrisse eines Frauengesichtes nach. »Damals sah ich das nicht als große Herausforderung. Als ich damals nachts in ihr Haus eingebrochen bin, wollte ich sie nur einmal probieren. Aber sobald ich angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Und doch konnte ich sie nicht sterben lassen – sie gehörte mir, und ich wollte sie auf keinen Fall aufgeben. Ich hörte gerade noch rechtzeitig auf zu trinken. Dieu, wie hat sie es gehasst, ein Vampir zu sein. Irgendwann marschierte Cecilia in ein brennendes Haus, ohne dass ich sie daran hätte hindern können.«
Hamish zog die Stirn in Falten. »Dann hast du sie nicht umgebracht, Matt. Sie hat sich selbst umgebracht.«
»Aus reinem Egoismus und aus Angst habe mich von ihr genährt, bis sie auf der Schwelle des Todes stand, dann habe ich sie gezwungen, mein Blut zu trinken und sie damit ohne ihre Einwilligung in ein magisches Wesen verwandelt«, widersprach er aufgebracht. »Inwiefern habe ich sie nicht umgebracht? Ich habe ihr das Leben, die Persönlichkeit, die Lebensfreude geraubt – das ist Tod, Hamish.«
»Warum hast du mir nie davon erzählt?« Hamish gab sich Mühe, nicht enttäuscht zu sein, dass sein Freund ihm das verschwiegen hatte.
»Selbst Vampire empfinden Scham«, sagte Matthew gepresst. »Ich hasse mich für das, was ich diesen Frauen angetan habe – und zwar zu Recht.«
»Genau darum musst du aufhören, Geheimnisse zu horten, Matt. Sie fressen dich auf.« Hamish legte sich zurecht, was er sagen wollte, bevor er fortfuhr: »Du hattest nie vor, Eleanor und Cecilia umzubringen. Darum bist du auch kein Mörder.«
Matthew stemmte die Fingerspitzen gegen den weiß lackierten Fensterrahmen und ließ die Stirn gegen die kalte Scheibe sinken. Als er antwortete, klang seine Stimme tonlos und tot. »Nein, ich bin ein Monster. Eleanor hat mir damals vergeben. Cecilia nie.«
»Du bist kein Monster.« Matthews Tonfall machte Hamish Sorgen.
»Und selbst wenn nicht, bin ich trotzdem gefährlich.« Er drehte sich zu Hamish um. »Vor allem für Diana. Nicht einmal bei Eleanor habe ich etwas Ähnliches empfunden.« Schon der bloße Gedanke an Diana ließ den Durst zurückkehren und die Anspannung sich von seinem Herzen bis in seinen Unterleib ausbreiten.
»Komm wieder her und spiel die Partie zu Ende.« Hamishs Stimme war rau.
»Ich könnte gehen, Hamish«, sagte Matthew unsicher. »Falls du mich nicht mehr unter deinem Dach beherbergen möchtest.«
»Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte Hamish scharf. »Du gehst nirgendwohin.«
Matthew setzte sich wieder. »Ich begreife nicht, wie du das mit Eleanor und Cecilia wissen kannst, ohne mich zu hassen«, sagte er nach langem Schweigen.
»Ich wüsste nicht, was du tun könntest, damit ich dich hasse, Matthew. Ich liebe dich wie einen Bruder, und das wird sich bis zu meinem letzten Atemzug nicht ändern.«
»Danke«, sagte Matthew mit düsterem Gesicht. »Ich werde versuchen, mir deine Treue zu verdienen.«
»Versuch es nicht. Tu es einfach«, wehrte Hamish barsch ab. »Übrigens wirst du gleich deinen Läufer verlieren.«
Die beiden wandten sich mühsam wieder ihrem Spiel zu und brüteten immer noch über dem Brett, als Jordan in den frühen Morgenstunden einen Kaffee für Hamish und eine Flasche Port für Matthew servierte. Kommentarlos klaubte der Butler das zerbrochene Weinglas auf, und Hamish schickte ihn ins Bett.
Als Jordan gegangen war, warf Hamish einen kurzen Blick auf das Brett und setzte seinen letzten Zug. »Schachmatt.«
Matthew atmete tief aus, ließ sich zurücksinken und starrte auf das Schachbrett. Seine Königin war umringt von seinen eigenen Figuren – Bauern, ein Pferd und ein Turm. Am anderen Ende des Brettes stand verloren sein König mit einem einsamen schwarzen Bauern. Das Spiel war zu Ende, er hatte verloren.
»Es geht beim Schach nicht darum, die Königin zu beschützen«, sagte Hamish. »Warum kannst du dir nicht merken, dass der König die eine Figur ist, die du auf keinen Fall verlieren darfst?«
»Der König sitzt immer nur da und zieht höchstens ein Feld weiter. Die Königin kann sich so frei bewegen, dass ich lieber verliere, als sie ihrer Freiheit zu berauben, nehme ich an.«
Hamish fragte sich, ob er das Schachspiel meinte oder Diana. »Ist sie dir das wert, Matt?«, fragte er leise.
»Ja«, antwortete Matt ohne zu zögern. Er nahm die weiße Königin vom Brett und hielt sie zwischen zwei Fingern.
»Das dachte ich mir«, sagte Hamish. »Du wirst das im Moment bestimmt anders sehen, aber du kannst dich glücklich schätzen, dass du sie gefunden hast.«
In den Augen des Vampirs leuchtete etwas auf, und sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Aber kann sie sich auch glücklich schätzen? Ist es ein Glück für sie, wenn ich ihr nachjage?«
»Das hängt allein von dir ab. Vergiss nur nicht – keine Geheimnisse mehr. Nicht, wenn du sie liebst.«
Matthew blickte in das heitere Gesicht seiner Königin und schloss beschützend die Finger um die kleine geschnitzte Figur.
Er hielt sie immer noch in der Hand, als die Sonne aufging und Hamish längst zu Bett gegangen war.