31

Diana, es ist Zeit zum Aufwachen. Leise, aber eindringlich flüsterte meine Mutter.

Zu erschöpft, um ihr zu antworten, zog ich die bunte Flickendecke über meinen Kopf und hoffte, dass sie mich nicht finden würde. Ich rollte mich ein und fragte mich im nächsten Moment, warum mir alles wehtat.

Wach auf, Schlafmützchen. Schonungslos packten die Finger meines Vaters den Stoff. Für einen Moment wurden die Schmerzen von unbändiger Freude überlagert. Er spielte einen Bären und brummte gefährlich. Glückselig kreischend krampfte ich die Finger in die Decke, aber sobald er einmal anzog, wehte eisige Luft über mich hinweg.

Etwas stimmte nicht. Ich öffnete ein Auge und erwartete die bunten Poster und Stofftiere zu sehen, die mein Zimmer in Cambridge schmückten. Aber mein Schlafzimmer hatte feuchte, graue Wände.

Mein Vater, unzählige Fältchen um die Augen, lächelte mich an. Wie üblich lockten sich seine Haare an den Spitzen und hätten gekämmt gehört, und sein Kragen saß schief. Ich liebte ihn trotzdem und versuchte die Arme um seinen Hals zu schlingen, aber irgendwie wollten sie mir nicht gehorchen. Er zog mich stattdessen sanft zu sich her und umhüllte mich wie ein Schutzwall mit seiner substanzlosen Gestalt.

Was führt Sie denn hierher, Miss Bishop? Das hatte er immer gesagt, wenn ich in sein Arbeitszimmer geschlichen kam oder spätabends unten aufgetaucht war, um mir eine weitere Gutenachtgeschichte zu erbetteln.

»Ich bin so müde.«

Obwohl er durchsichtig war, roch sein Hemd irgendwie nach kaltem Zigarettenrauch und nach den Schokoladebonbons, die er in seinen Taschen stecken hatte.

Ich weiß, sagte mein Vater, und das Lächeln in seinen Augen erlosch. Aber du kannst nicht länger schlafen.

Du musst aufwachen. Jetzt spürte ich die Hände meiner Mutter, die mich vom Schoß meines Vaters zu ziehen versuchten.

»Erst will ich das Ende der Geschichte hören«, bettelte ich. »Und lass die schlimmen Stellen aus.«

So funktioniert das nicht. Meine Mutter schüttelte den Kopf, und mein Vater hob mich traurig in ihre Arme.

»Aber ich fühle mich nicht gut.« Meine Kinderstimme bettelte um eine Sonderbehandlung.

Das Seufzen meiner Mutter brach sich an den Felswänden. Die schlimmen Stellen kann ich nicht auslassen. Du musst dich ihnen stellen. Kannst du das, kleine Hexe?

Ich ließ mir durch den Kopf gehen, was von mir erwartet würde, und nickte dann.

Wo waren wir stehengeblieben?, fragte meine Mutter und nahm neben dem geisterhaften Mönch in der Mitte des Verlieses Platz. Erschrocken wollte er von ihr wegrutschen. Mein Vater lächelte hinter vorgehaltener Hand und sah meine Mutter so an, wie Matthew mich ansah.

Ich weiß es wieder, sagte sie. Diana wurde ganz allein in einen dunklen Raum gesperrt. Stunde um Stunde saß sie dort und fragte sich, ob sie je wieder hinauskommen würde. Dann hörte sie jemanden an ihr Fenster klopfen. Es war der Prinz. »Hexen haben mich hier drin eingesperrt!«, rief Diana. Der Prinz versuchte das Fenster einzuschlagen, aber das bestand aus magischem Glas und bekam nicht einmal einen Sprung. Dann rannte der Prinz zur Tür und versuchte sie zu öffnen, aber die hatte ein Zauberschloss. Er versuchte die ganze Tür aus dem Rahmen zu reißen, aber das Holz war so dick, dass es sich nicht einmal rührte.

»War der Prinz denn nicht stark?«, fragte ich leicht verärgert, dass er an einer so einfachen Aufgabe scheitern sollte.

Sehr stark, widersprach meine Mutter in tiefem Ernst, aber er war eben kein Hexer. Diana schaute sich um, ob sie noch etwas fand, womit es der Prinz versuchen könnte. Schließlich entdeckte sie ein winziges Loch im Dach. Es war gerade so groß, dass eine Hexe wie sie hindurchpasste. Diana befahl dem Prinzen, er solle hinauffliegen und sie herausheben. Aber der Prinz konnte nicht fliegen.

»Weil er kein Hexer war«, wiederholte ich. Der Mönch bekreuzigte sich jedes Mal, wenn einer von uns das Wort magisch oder Hexer aussprach.

Ganz genau, bestätigte meine Mutter. Da fiel Diana ein, dass sie früher selbst geflogen war. Sie sah an sich herab und entdeckte den Rand eines silbernen Bandes. Das Band war fest um sie gewickelt, aber als sie an seinem Ende zupfte, fiel es von ihr ab. Diana warf es hoch in die Luft. Danach brauchte ihr Körper nur noch dem Band in den Himmel zu folgen. Als sie an das Loch im Dach kam, drückte sie die Arme zusammen, streckte sie vor und flog hinaus in die Nachtluft. »Ich wusste, dass du das kannst«, sagte der Prinz.

»Und danach heirateten sie, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, schloss ich entschieden.

Das Lächeln meiner Mutter war bittersüß. Ja, Diana. Sie schenkte meinem Vater einen tiefen Blick, einen jener Blicke, die Kinder erst verstehen, wenn sie älter sind.

Ich seufzte glücklich, und plötzlich machte es mir nicht mehr so viel aus, dass mein Rücken in Flammen stand und dass ich an diesem merkwürdigen Ort unter lauter Leuten war, durch die man hindurchsehen konnte.

Es wird Zeit, sagte meine Mutter zu meinem Vater. Er nickte.

Über mir traf mit einem ohrenbetäubenden Krachen schweres Holz auf alten Stein.

»Diana?« Es war Matthew. Er klang gehetzt. Als ich seine Angst hörte, durchschossen mich gleichzeitig tiefe Erleichterung und Adrenalin.

»Matthew!« Mein Rufkam als dumpfes Krächzen aus meinem Mund.

»Ich komme nach unten.« Matthews Antwort hallte durch die Finsternis und brachte meinen Kopf zum Dröhnen. Mein Schädel pochte, und auf meiner Wange klebte etwas. Ich zerrieb die klebrige Masse zwischen meinen Fingern, aber es war zu dunkel, als dass ich feststellen konnte, was es war.

»Nein«, hielt ihn eine tiefere, rauere Stimme zurück. »Du kommst zwar hinunter, aber ich werde euch nicht wieder heraufbekommen. Und wir müssen uns beeilen, Matthew. Sie werden sie bald holen kommen.«

Ich sah auf, wer da oben sprach, aber ich konnte nur einen hellen Ring erkennen.

»Diana, hör mir zu.« Matthews Stimme dröhnte nicht mehr ganz so laut. »Du musst fliegen. Schaffst du das?«

Meine Mutter nickte aufmunternd. Es ist Zeit aufzuwachen und zur Hexe zu werden. Du brauchst keine Geheimnisse mehr zu bewahren.

»Ich glaube schon.« Ich versuchte aufzustehen. Mein rechter Knöchel knickte unter mir ein, und ich fiel auf mein Knie. »Ist Satu ganz bestimmt weg?«

»Hier oben ist niemand außer mir und meinem Bruder Baldwin. Flieg hoch, dann bringen wir dich von hier weg.« Der andere Mann murmelte etwas, und Matthew antwortete wütend.

Ich wusste nicht, wer Baldwin war, und ich hatte für einen Tag genug neue Leute kennengelernt. Nach dem, was Satu mir erzählt hatte, fühlte ich mich nicht einmal bei Matthew völlig sicher. Ich suchte nach einem Versteck.

Du kannst dich nicht vor Matthew verstecken, sagte meine Mutter und warf meinem Vater einen wehmütigen Blick zu. Er wird dich immer finden, und zwar überall. Du kannst ihm vertrauen. Er ist der, auf den wir gewartet haben.

Der Arm meines Vaters legte sich um sie, und ich musste daran denken, wie ich mich in Matthews Armen gefühlt hatte. Jemand, der mich so gehalten hatte, konnte mich unmöglich hintergehen.

»Diana, bitte versuche es.« Ich hörte das Flehen in Matthews Stimme.

Um fliegen zu können, brauchte ich ein silbernes Band. Aber es war keines um mich gewickelt. Weil ich nicht wusste, was ich jetzt tun sollte, suchte ich im Halblicht nach meinen Eltern. Sie wirkten inzwischen viel blasser.

Willst du nicht fliegen?, fragte meine Mutter.

Die Magie liegt im Herzen, Diana, sagte mein Vater. Vergiss das nicht.

Ich schloss die Augen und stellte mir ein Band vor. Das eine Ende nahm ich fest zwischen die Finger, dann warf ich den Rest in Richtung des weißen Ringes, der in der Dunkelheit flackerte. Das Band rollte sich ab, schoss durch das Loch und riss meinen Körper mit hoch.

Meine Mutter lächelte, und mein Vater sah mir genauso stolz zu wie damals, als er die Stützräder von meinem ersten Fahrrad abmontiert hatte. Matthew beugte sich nach unten, und neben ihm erkannte ich ein zweites Gesicht, das seinem Bruder gehören musste. Beide waren von einer Schar Geister umgeben, die fassungslos darüber wirkten, dass es jemand nach all den Jahren lebend aus diesem Verlies schaffte.

»Gott sei Dank«, hauchte Matthew und streckte mir die langen, weißen Finger entgegen. »Nimm meine Hand.«

Sobald er mich festhielt, kehrte das Gewicht in meinen Körper zurück.

»Mein Arm!«, schrie ich auf, als die Muskeln gespannt wurden und die Wunde an meinem Unterarm wieder aufplatzte.

Unterstützt von einer zweiten, fremden Hand packte mich Matthew an der Schulter. Zu zweit zogen sie mich aus der Oubliette, und im nächsten Moment wurde ich gegen Matthews Brust gedrückt. Die Finger in seinen Pullover gekrallt, klammerte ich mich an ihm fest.

»Ich wusste, dass du das schaffst«, murmelte er zutiefst erleichtert, genau wie der Prinz in der Geschichte meiner Mutter.

»Dafür ist jetzt keine Zeit!« Matthews Bruder rannte bereits den Gang zur Tür hinunter.

Matthew nahm mich an den Schultern und besah sich kurz meine Verletzungen. Seine Nasenflügel bebten, als er das getrocknete Blut roch. »Kannst du gehen?«, fragte er leise.

»Nimm sie auf den Arm, und schaff sie hier heraus, sonst hast du gleich ganz andere Probleme als ein bisschen Blut!«, rief uns der andere Vampir zu.

Matthew wuchtete mich hoch wie einen Sack Mehl und begann zu rennen, die Arme fest um meinen Rücken gespannt. Ich biss mir auf die Lippe und schloss die Augen, weil mich der unter uns dahinfliegende Boden zu sehr an den Flug mit Satu erinnerte. Ein Schwall kühler Luft verriet mir, dass wir ins Freie kamen. Ich atmete tief ein und begann sofort zu schlottern.

Matthew rannte noch schneller und trug mich zu einem Hubschrauber, der verrückterweise auf einer ungeteerten Straße vor dem Schloss wartete. Den Körper schützend über mich gebeugt, sprang Matthew durch die offene Tür des Hubschraubers. Sein Bruder folgte ihm, und die Lichter der Cockpitinstrumente setzten grünliche Lichtpunkte in sein kupferrotes Haar.

Als Baldwin sich niederließ, strich mein Fuß über seinen Schenkel, woraufhin er mir einen Blick zuwarf, in dem sich Hass und Neugier mischten. Sein Gesicht war mir aus der Vision vertraut, die ich in Matthews Arbeitszimmer gehabt hatte: erst erhellt von den Lichtern, die sich in der Rüstung spiegelten, dann, als er einen Finger auf die Siegel der Lazarusritter gelegt hatte. »Ich dachte, du wärst tot.« Ich kuschelte mich an Matthews Brust.

Baldwin sah mich mit großen Augen an. »Los!«, schrie er dem Piloten zu, und wir hoben ab.

Sobald wir in der Luft schwebten, musste ich wieder an Satu denken, und das Zittern wurde noch heftiger.

»Sie steht unter Schock«, sagte Matthew. »Kann das Ding nicht schneller fliegen, Baldwin?«

»Setz sie k. o.«, befahl Baldwin ungeduldig.

»Ich habe nichts dabei, um sie zu betäuben.«

»O doch, das hast du.« Die Augen seines Bruders glitzerten. »Soll ich das für dich übernehmen?«

Matthew sah mich an und versuchte zu lächeln. Mein Schlottern ließ ein wenig nach, aber jedes Mal, wenn der Hubschrauber im Wind schwankte, wurden die Erinnerungen an Satu wieder wach.

»Bei den Göttern, Matthew, sie hat Todesangst«, sagte Baldwin zornig. »Jetzt mach schon.«

Matthew biss in seine Lippe, bis ein Blutstropfen auf der glatten Haut perlte. Dann senkte er den Kopf, um mich zu küssen.

»Nein.« Ich wand mich, um seinem Mund zu entkommen. »Ich weiß, was du da tust. Satu hat es mir erzählt. Du benutzt dein Blut, um mich zu betäuben.«

»Du stehst unter Schock, Diana. Etwas anderes habe ich nicht da. Lass dir von mir helfen.« Aus seinem Gesicht sprach nackte Angst. Ich hob die Hand und tupfte den Blutstropfen mit meiner Fingerspitze ab.

»Nein. Ich werde das selbst tun.« Die Hexen würden sich nicht länger das Maul darüber zerreißen, dass ich Matthew willenlos ausgeliefert war. Ich leckte die salzige Flüssigkeit von meiner tauben Fingerspitze. Meine Lippen und meine Zunge kitzelten kurz, dann waren die Nerven betäubt.

Als ich wieder erwachte, spürte ich frische Luft auf meinen Wangen und roch Marthes Kräuter. Wir befanden uns im Garten von Sept-Tours. Matthews Arme lagen unter meinem schmerzenden Rücken, und er drückte meinen Kopf an seine Halsbeuge. Ich bewegte mich und sah mich um.

»Wir sind zu Hause«, flüsterte er und marschierte weiter auf die Lichter des Châteaus zu.

»Ysabeau und Marthe.« Ich versuchte den Kopf zu heben. »Ihnen ist doch nichts zugestoßen?«

»Es geht ihnen gut«, erwiderte Matthew und hielt mich noch fester.

Wir traten in den gleißend hell erleuchteten Gang zur Küche. Das Licht brannte mir so in den Augen, dass ich den Kopf abwandte, bis der Schmerz abgeklungen war. Eine meiner Pupillen schien weiter geöffnet zu sein als die andere, weshalb ich das eine Auge halb zudrückte, damit beide gleich viel Licht einfingen. Ich machte eine Gruppe von Vampiren aus, die sich vor mir und Matthew im Korridor versammelt hatten. Baldwin wirkte neugierig, Ysabeau zornig, Marthe grimmig und bekümmert. Ysabeau machte einen Schritt auf uns zu, und Matthew knurrte.

»Matthew«, setzte sie vorsichtig an und richtete den bekümmerten Blick mütterlich fest auf mich. »Wir müssen ihre Familie anrufen. Wo ist dein Handy?«

Sein Griff wurde fester. Mein Kopf war viel zu schwer für meinen Hals. Ich ließ ihn wieder gegen Matthews Schulter sinken.

»Es steckt wahrscheinlich in seiner Tasche, aber er wird die Hexe bestimmt nicht ablegen, um es herauszuholen. Und er wird dich auch nicht so nahe herankommen lassen, dass du es dir holen kannst.« Baldwin reichte Ysabeau sein Handy. »Nimm das hier.«

Baldwins Blick tastete meinen zerschundenen Körper so aufmerksam ab, dass es sich anfühlte, als würden Eispacks auf meine Haut gedrückt und wieder weggenommen. »Sie sieht aus, als käme sie aus der Schlacht.« Ich hörte die widerwillige Anerkennung in seiner Stimme.

Marthe sagte etwas auf Okzitanisch, und Matthews Bruder nickte.

»Ôc«, sagte er und sah mich anerkennend an.

»Diesmal nicht, Baldwin«, knurrte Matthew.

»Die Nummer, Matthew.« Ysabeaus knappe Bemerkung lenkte ihren Sohn ab. Er ratterte sie herunter, und seine Mutter drückte die entsprechenden Tasten.

»Es geht mir gut«, krächzte ich. »Setz mich ab, Matthew.«

»Nein, hier ist Ysabeau de Clermont. Diana ist bei uns.«

Es wurde wieder still, während Ysabeaus Eiszapfenblicke über mich hinwegzuckten. »Sie ist verletzt, aber nicht lebensbedrohlich. Trotzdem sollte Matthew sie nach Hause bringen. Zu Ihnen.«

»Nein. Sie wird mir folgen. Satu darf Sarah und Em nichts tun«, widersprach ich und versuchte mich aus Matthews Griff zu befreien.

»Matthew«, knurrte Baldwin, »lass sie von Marthe verpflegen, oder sorg dafür, dass sie still bleibt.«

»Halte dich da raus, Baldwin«, fuhr Matthew ihn an. Seine kühlen Lippen berührten meine Wangen, und mein Puls ging sofort langsamer. Er senkte die Stimme zu einem Murmeln. »Wir werden nichts tun, was du nicht willst.«

»Wir können sie vor Vampiren beschützen.« Ysabeaus Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Aber nicht vor Hexen. Wir müssen sie zu jemandem bringen, der das kann.« Das Gespräch verhallte, und ein grauer Nebel senkte sich wie ein Vorhang über mich.

Diesmal kam ich oben in Matthews Turm zu mir. Jede einzelne Kerze brannte, und im Kamin loderte ein Feuer. Es war fast warm hier, trotzdem zitterte ich unter dem Adrenalin und dem Schock. Matthew hockte auf dem Boden, hatte mich zwischen seinen Knien abgesetzt und untersuchte meinen rechten Unterarm. Ein langer Riss in meinem blutgetränkten Pullover zeigte, wo Satu mich aufgeschlitzt hatte. Ein frischer roter Fleck leckte in die dunkleren Stellen.

Marthe und Ysabeau standen in der Tür wie zwei wachsame Falken.

»Ich kann mich selbst um meine Frau kümmern, Maman«, sagte Matthew.

»Natürlich, Matthew«, murmelte Ysabeau in ihrem typischen scheinbar gehorsamen Tonfall.

Matthew riss den Ärmel bis zum Bund auf, um die Wunde freizulegen, und fluchte. »Bring mir meine Tasche, Marthe.«

»Nein«, widersprach sie mit fester Stimme. »Sie ist völlig verdreckt, Matthew.«

»Lass sie erst baden«, pflichtete Ysabeau Marthe bei. »Ihr ist eiskalt, außerdem kannst du ihre Verletzungen kaum erkennen. Damit hilfst du ihr nicht, mein Sohn.«

»Kein Bad«, widersprach er entschieden.

»Warum denn nicht?«, fragte Ysabeau ungeduldig. Sie deutete zur Treppe hin, und Marthe verschwand.

»Das Wasser wäre mit ihrem Blut getränkt«, erklärte er gepresst. »Baldwin würde es riechen.«

»Wir sind hier nicht in Jerusalem, Matthew«, sagte Ysabeau. »Er hat diesen Turm noch nie betreten, seit er erbaut wurde.«

»Was war in Jerusalem?« Ich tastete nach der Stelle, an der sonst Matthews silberner Sarg hing.

»Meine Geliebte, ich muss mir deinen Rücken ansehen.«

»Okay«, hauchte ich benebelt. Mein Geist machte sich auf die Suche nach einem Apfelbaum und der Stimme meiner Mutter.

»Leg dich für mich auf den Bauch.«

Noch allzu deutlich spürte ich an Brust und Beinen die kalten Steine der Burg, wo Satu mich an den Boden gezwungen hatte. »Nein, Matthew. Du glaubst, dass ich etwas vor dir geheimhalte, aber ich weiß nichts über meine Magie. Satu sagte …«

Matthew fluchte. »Hier ist keine Hexe, und deine Magie interessiert mich im Augenblick nicht.« Seine kalte Hand hielt meine kraftvoll und beschützend. »Beug dich einfach nach vorn über meine Hand. Ich halte dich.«

Auf seinem Schenkel sitzend, beugte ich mich vor und ließ meine Brust auf unseren verschränkten Händen ruhen. Dadurch dehnte sich die Haut auf meinem Rücken höllisch, trotzdem war das immer noch besser als die Alternative. Ich spürte, wie Matthew erstarrte.

»Deine Fleecejacke klebt an deiner Haut. So kann ich kaum etwas erkennen. Wir werden dich doch in die Badewanne stecken müssen, damit wir sie abziehen können. Kannst du Wasser einlassen, Ysabeau?«

Seine Mutter verschwand ohne ein weiteres Wort, und gleich darauf war das Rauschen des Wassers zu hören.

»Nicht zu heiß«, rief er ihr leise hinterher.

»Was war damals in Jerusalem?«, fragte ich wieder.

»Später«, sagte er und richtete mich behutsam wieder auf.

»Wir sollten keine Geheimnisse mehr voreinander haben, Matthew. Erzähl es ihr, und mach schnell.« Ysabeaus Stimme drang scharf aus der Badezimmertür. »Sie ist deine Frau und hat ein Recht, es zu erfahren.«

»Es muss etwas Schreckliches gewesen sein, sonst hättest du nicht den Lazarussarg getragen.« Ich drückte leicht auf die Stelle über seinem Herzen.

Matthew sah mich kurz verzweifelt an, dann erzählte er mir die Geschichte. Sie brach in kurzen Stakkatosätzen aus ihm heraus. »In Jerusalem habe ich eine Frau getötet. Sie stand zwischen Baldwin und mir. Es gab ein großes Blutvergießen. Ich habe sie geliebt, und sie …«

Er hatte noch jemanden getötet, aber einen Menschen, keine Hexe. Ich legte einen Finger auf seine Lippen und brachte ihn zum Schweigen. »Das reicht vorerst. Und es ist schon so lange her.« Ich hatte wieder zu zittern begonnen und hätte keine weiteren Enthüllungen ertragen.

Matthew hob meine linke Hand an seine Lippen und drückte einen festen Kuss auf meine Fingerknöchel. Seine Augen verrieten mir, was er nicht aussprechen konnte. Schließlich gab er meine Hand wieder frei und sagte: »Wenn du dich wegen Baldwin sorgst, machen wir es anders. Wir können das Fleece mit Kompressen durchtränken, bis es sich löst, oder du könntest duschen.«

Wenn ich nur daran dachte, dass Wasser auf meinen Rücken prasseln oder dass jemand Kompressen darauf drücken könnte, riskierte ich lieber, dass Baldwin durstig werden könnte. »Ich würde lieber baden.«

Matthew senkte mich voll bekleidet und mitsamt meinen Laufschuhen in das lauwarme Wasser. Aufrecht in der Wanne sitzend, damit mein Rücken das Email nicht berührte, begann ich, während das Wasser langsam das Fleece durchweichte, ganz bewusst loszulassen, bis sich meine unter Wasser tanzenden und zuckenden Beine beruhigten. Jedem Muskel und jeder Nervenfaser musste ich einzeln befehlen, sich zu entspannen, und einige davon verweigerten hartnäckig den Gehorsam.

Während ich einweichte, verarztete Matthew mein Gesicht und betastete behutsam meinen Wangenknochen. Bekümmert sah er mich an und rief leise nach Marthe. Sie erschien mit einem großen schwarzen Arztkoffer in der Hand. Matthew holte eine kleine Taschenlampe heraus und leuchtete mir, die Lippen fest zusammengepresst, prüfend in die Augen.

»Ich bin mit dem Gesicht auf den Boden geschlagen.« Ich zuckte zusammen. »Ist etwas gebrochen?«

»Ich glaube nicht, mon cœur, das sind wohl nur schwere Blutergüsse.«

Marthe riss ein Päckchen auf, und eine Alkoholschwade umwehte meine Nase. Als Matthew das Verbandspäckchen auf die klebrige Stelle an meiner Wange hielt, krallte ich mich am Wannenrand fest, Tränen schossen in meine Augen. Als er das Pad wieder wegnahm, war es hellrot verfärbt.

»Ich habe mich an einem Stein aufgeschnitten.« Ich sagte das möglichst sachlich, um die Erinnerungen an Satu zu verdrängen, die mit dem Schmerz zurückgekehrt waren.

Matthews kühle Finger fuhren die brennende Wunde bis zu der Stelle nach, an der sie unter meinen Haaren verschwand. »Das ist nicht tief. Du musst nicht genäht werden.« Er griff nach einem Tiegel und schmierte etwas Salbe auf meine Haut. Sie roch nach Minze und Gartenkräutern. »Bist du allergisch gegen irgendwelche Medikamente?«, fragte er, als er damit fertig war.

Ich schüttelte den Kopf.

Wieder rief er nach Marthe, die mit einem Arm voller Handtücher angelaufen kam. Er ratterte eine Liste von Medikamenten herunter, und Marthe zog nickend einen klirrenden Schlüsselbund aus ihrer Tasche. Nur eines der Medikamente klang vertraut.

»Morphin?« Mein Puls begann zu rasen.

»Das wird den Schmerz lindern. Die anderen Medikamente sind gegen Schwellungen und Infektionen.«

Das Bad hatte meine Angst ein wenig besänftigt und den Schock abgemildert, dafür wurden die Schmerzen immer schlimmer. Die Aussicht, sie zu verbannen, war verlockend, darum erklärte ich mich widerwillig einverstanden, die Medikamente zu nehmen, wenn ich dafür aus der Wanne durfte. Im rostroten Wasser zu sitzen war nicht besonders angenehm.

Doch bevor ich herausklettern durfte, bestand Matthew darauf, meinen rechten Fuß zu untersuchen. Er hob ihn aus dem Wasser und drückte die Schuhsohle gegen seine Schulter. Sofort schnappte ich nach Luft.

»Ysabeau. Kannst du bitte herkommen?«

Genau wie Marthe wartete Ysabeau geduldig im Schlafzimmer für den Fall, dass ihr Sohn sie brauchen sollte. Als sie hereinkam, wies Matthew sie an, sich hinter mich zu stellen, während er vorsichtig die wassergetränkten Schuhbänder aufschnitt und den Schuh von meinem Fuß zu lösen versuchte. Ysabeau hielt mich an den Schultern fest, um zu verhindern, dass ich vor Schmerz aus der Wanne sprang.

Ich weinte, bis Matthew seine Untersuchung abgeschlossen hatte  – selbst nachdem er es aufgegeben hatte, den Schuh ausziehen zu wollen, und ihn stattdessen aufriss wie ein Schneider, der feines Tuch auftrennt. Auch die Socke riss er auf und danach den Saum meiner Leggings, bevor er den Stoff zurückschälte, um den Knöchel freizulegen. Um den Fuß zog sich ein Ring, als hätte mir jemand Fußschellen angelegt, die sich in die Haut gebrannt und schwarze Blasen mit merkwürdigen weißen Flecken dazwischen zurückgelassen hatten.

Matthew sah auf, und ich sah den Zorn in seinem Blick. »Wie hat sie das gemacht?«

»Satu hat mich kopfüber aufgehängt. Sie wollte feststellen, ob ich fliegen kann.«

Vorsichtig nahm Ysabeau meinen Fuß in die Hand. Matthew kniete sich neben die Wanne, das schwarze Haar straff aus der Stirn gestrichen und mit klatschnassen, blutigen Anziehsachen. Er drehte mein Gesicht zu sich hin und betrachtete mich mit einer Mischung aus wütendem Beschützerinstinkt und Stolz.

»Du bist im August geboren, nicht wahr? Im Sternzeichen des Löwen?« Plötzlich klang er rein französisch, sein Oxford-Akzent hatte sich in Luft aufgelöst.

Ich nickte.

»Dann werde ich dich fortan meine Löwin nennen müssen, denn nur eine Löwin kann so kämpfen wie du. Aber selbst la lionne braucht Schutz.« Sein Blick zuckte zu meinem rechten Arm. Ich umklammerte den Wannenrand so fest, dass die Wunde wieder zu bluten begonnen hatte. »Dein Knöchel ist verstaucht, aber nicht ernsthaft verletzt. Ich werde ihn später verbinden. Erst will ich deinen Rücken und deinen Arm versorgen.«

Matthew hob mich aus der Wanne, stellte mich ab und warnte mich, den rechten Fuß möglichst nicht zu belasten. Marthe und Ysabeau stützten mich, bis er mir die Leggings und die Unterwäsche vom Leib geschnitten hatte. Die Vampire behandelten alle körperlichen Dinge mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es mir eigenartig wenig ausmachte, praktisch nackt vor ihnen zu stehen. Matthew hob meinen durchtränkten Pullover vorn an und enthüllte einen dunkellila Streifen, der sich quer über meinen Unterleib zog.

»Mein Gott«, sagte er und legte einen Finger auf das fleckige Fleisch über meinem Schambein. »Wie zum Teufel hat sie das angestellt?«

»Die Nerven sind mit Satu durchgegangen.« Meine Zähne begannen wieder zu klappern, sobald ich mich daran erinnerte, wie ich nach dem scharfen Schmerz durch die Luft geflogen war. Matthew steckte das Handtuch um meine Taille fest.

»Ziehen wir den Pullover aus«, beschloss er grimmig. Er trat hinter mich, und gleich darauf spürte ich kaltes Metall an meinem Rücken.

»Was machst du da?« Ich drehte den Kopf und versuchte etwas zu erkennen. Nachdem Satu mich stundenlang auf dem Bauch hatte liegen lassen, hielt ich es nicht aus, dass jemand hinter mir stand  – selbst wenn es Matthew war. Das Schlottern verstärkte sich.

»Hör auf, Matthew«, drängte Ysabeau. »Sie erträgt das nicht.«

Eine Schere fiel klappernd zu Boden.

»Schon gut.« Matthew drückte seinen Körper liebevoll gegen meinen. Dann verschränkte er die Arme vor meiner Brust und hüllte mich komplett ein. »Ich schneide ihn von vorne auf.«

Als das Zittern nachgelassen hatte, kam er nach vorn und schnitt mir den Stoff vom Körper. Der kalte Luftzug an meinem Rücken verriet mir, dass ohnehin kaum etwas von dem Pullover übrig war. Er durchtrennte meinen BH und hob dann den Pullover von vorne ab.

Ysabeau schnappte nach Luft, als die letzten Fetzen von meinem Rücken abfielen.

»Maria, Deu maire«, hauchte Marthe entsetzt.

»Was ist denn? Was hat sie getan?« Der ganze Raum schien zu schwanken wie ein Kronleuchter bei einem Erdbeben. Matthew drehte mich zu seiner Mutter um. Ihr Gesicht war von Trauer und Mitleid gezeichnet.

»La sorcière est morte«, sagte Matthew leise.

Er plante bereits, die nächste Hexe zu töten. Meine Adern vereisten, und an den Rändern meines Blickfeldes wurde es schwarz.

Matthews Hände hielten mich aufrecht. »Bleib bei uns, Diana.«

»Musstest du Gillian töten?« Ich schluchzte.

»Ja.« Die Antwort kam knapp und tonlos.

»Und warum musste ich es von jemand anderem erfahren? Satu hat mir erzählt, dass du in meinem Apartment warst  – dass du mich mit deinem Blut betäubt hast. Warum, Matthew? Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Weil ich Angst hatte, dich zu verlieren. Du weißt so wenig über mich, Diana. Diese Verschwiegenheit, dieser Instinkt, alle um mich herum zu beschützen  – und notfalls auch dafür zu töten. Das bin ich.«

Mit nichts als einem Handtuch um die Hüften drehte ich mich zu ihm um. Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und meine Gefühle schwankten zwischen Angst und Zorn und etwas noch Düstererem. »Du willst also auch Satu töten?«

»Ja.« Er versuchte sich nicht zu rechtfertigen und nannte keine Gründe, doch ich sah den mühsam unterdrückten Zorn in seinen Augen. Kalt und grau tasteten sie mein Gesicht ab. »Du bist viel mutiger als ich. Das habe ich dir schon einmal erklärt. Willst du sehen, was sie dir angetan hat?« Matthew packte mich an den Ellbogen.

Ich dachte kurz nach und nickte dann.

Ysabeau protestierte in einem Schwall Okzitanisch, doch Matthew brachte sie mit einem Zischen zum Verstummen.

»Sie hat es überlebt, als es ihr angetan wurde, Maman. Es zu sehen, kann unmöglich schlimmer sein.«

Ysabeau und Marthe gingen nach unten, um zwei Spiegel zu holen, während Matthew meinen Rumpf ganz vorsichtig mit dem Handtuch abtupfte.

»Bleib bei mir«, wiederholte er jedes Mal, wenn ich vor dem rauen Stoff zurückzuweichen versuchte.

Die Frauen kehrten mit einem goldgerahmten Spiegel aus dem Salon sowie mit einem hohen Standspiegel zurück, den nur ein Vampir in den Turm hatte tragen können. Matthew stellte den größeren Spiegel hinter mir auf, während Ysabeau und Marthe den zweiten leicht angewinkelt vor mich hinhielten, sodass ich meinen Rücken und auch Matthew darin sehen konnte.

Nur dass das unmöglich mein Rücken sein konnte. Er gehörte jemand anderem  – jemandem, der gepeitscht und versengt worden war, bis nur noch rote und blaue und schwarze Flecken zu sehen waren. Dazwischen erkannte ich merkwürdige Zeichen  – Kreise und Symbole. Die Erinnerung an das Feuer flammte entlang der Wunden wieder auf.

»Satu hat gesagt, sie würde mich öffnen«, flüsterte ich wie hypnotisiert. »Aber ich habe meine Geheimnisse bewahrt, Mama, so wie du es wolltest.«

Ich sah noch im Spiegel, wie Matthew mich aufzufangen versuchte, dann hüllte mich die Dunkelheit ein.

Ich erwachte neben dem Kamin im Schlafzimmer. Mein Unterleib war immer noch in ein Handtuch gewickelt, und ich hockte vornübergebeugt auf der Kante eines Sessels mit Damastbezug, während mein Oberkörper auf einigen Kissen ruhte, die auf einem zweiten damastbezogenen Sessel aufgestapelt worden waren. Ich sah nur Füße und spürte gleichzeitig, wie jemand meinen Rücken einsalbte. Es war Marthe, deren kräftiger Griff sich deutlich von Matthews kühlen Fingern unterschied.

»Matthew?«, krächzte ich und drehte den Kopf zur Seite, um Ausschau nach ihm zu halten.

Sein Gesicht erschien in meinem Blickfeld. »Ja, meine Süße?«

»Wo sind die Schmerzen hin?«

»Magie«, sagte er und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.

»Morphin«, erkannte ich langsam, weil mir die Medikamentenliste eingefallen war, die er Marthe gegeben hatte.

»Das habe ich doch gesagt. Jeder, der einmal Schmerzen gelitten hat, weiß, dass Morphin und Magie dasselbe sind. Gut, dass du wach bist, dann können wir dich endlich verbinden.« Er warf Marthe eine Mullbinde zu und erklärte mir, dass damit die Schwellung unterdrückt und meine Haut geschützt würde.

Die beiden wickelten Kilometer von klinischen Verbänden um meinen Leib. Dank der Drogen verfolgte ich den Vorgang mit einem eigenwillig distanzierten Gefühl. Das sich allerdings sofort verlor, als Matthew in seinem Medizinkoffer zu kramen begann und etwas von Nähen redete. Als Kind hatte ich mir einmal beim Hinfallen eine lange Gabel zum Marshmallow-Grillen ins Bein gerammt. Auch damals war ich genäht worden und hatte daraufhin monatelang unter Albträumen gelitten. Ich schilderte Matthew meine Ängste, aber er ließ sich nicht erweichen.

»Der Schnitt an deinem Arm ist zu tief, Diana. Er muss genäht werden, sonst heilt er nicht richtig.«

Hinterher zogen mich die Frauen an, während Matthew mit zittrigen Fingern nach seinem Weinglas griff. Weil ich nichts mitgenommen hatte, was sich vorn schließen ließ, verschwand Marthe noch einmal und kehrte mit einem Arm voll Anziehsachen zurück, die Matthew gehörten. Sie streiften mir eines seiner eleganten Baumwollhemden über. Ich verlor mich darin, aber der Stoff schmiegte sich seidig an meine Haut. Dann legte Marthe vorsichtig eine schwarze Kaschmirjacke mit lederbezogenen Knöpfen  – ebenfalls von Matthew  – über meine Schultern und schob mir eine meiner schwarzen Stretchhosen über die Hüften. Zuletzt bettete mich Matthew behutsam in ein Kissennest auf dem Sofa.

»Zieh dich um«, befahl Marthe ihm und schob ihn in Richtung Bad.

Matthew duschte und kam in einer frischen Hose aus dem Bad. Nachdem er sich vor dem Kamin die Haare trocken gerubbelt hatte, zog er den Rest seiner Sachen an.

»Kommst du zurecht, wenn ich kurz nach unten gehe?«, fragte er. »Marthe und Ysabeau bleiben so lange bei dir.«

Nachdem er gegangen war, saß Ysabeau wie erstarrt da und murmelte nur hin und wieder etwas in einer Sprache, die weder Okzitanisch noch Französisch war, während Marthe mich umhätschelte und tröstete. Bis Matthew wieder heraufkam, hatte sie fast alle unbrauchbaren Anziehsachen und blutigen Handtücher aus dem Raum geschafft. Fallon und Hector begleiteten ihn mit heraushängenden Zungen.

Ysabeau kniff die Augen zusammen. »Deine Hunde haben in meinem Haus nichts zu suchen.«

Fallon und Hector sahen aufmerksam von Ysabeau auf Matthew. Matthew schnippte mit den Fingern und deutete auf den Boden. Die Hunde ließen sich gehorsam nieder, die wachsamen Gesichter mir zugewandt.

»Sie bleiben bei Diana, bis wir abreisen«, verkündete er mit fester Stimme. Seine Mutter seufzte zwar, widersprach aber nicht.

Matthew hob meine Füße hoch, rutschte mit seinem Körper darunter und strich mit den Handflächen leicht über meine Beine. Marthe stellte ein Weinglas vor ihm ab und drückte mir einen Becher Tee in die Hand. Dann zog sie sich zurück, gefolgt von Ysabeau, und ließ uns mit den wachsamen Hunden allein.

Meine Gedanken begannen zu fliegen, beflügelt durch das Morphin und die hypnotische Berührung durch Matthews Finger. Ich durchforstete meine Erinnerungen und versuchte zu trennen, was real gewesen war und was ich mir eingebildet hatte. Hatte ich in der Oubliette tatsächlich den Geist meiner Mutter gesehen, oder war das nur eine Erinnerung an die Zeit vor ihrer Reise nach Afrika gewesen?

»Was ist, ma lionne?«, fragte Matthew besorgt. »Hast du Schmerzen?«

»Nein. Ich denke nur nach.« Ich konzentrierte mich auf sein Gesicht und kämpfte mich durch den Nebel an sein sicheres Ufer. »Wo hat sie mich hingebracht?«

»Nach La Pierre. Eine alte Burg, in der seit Ewigkeiten niemand mehr wohnt.«

»Ich habe Gerbert getroffen.« Mein Gehirn spielte Kästchenspringen und wollte auf keinen Fall zu lange auf einer Stelle verweilen.

Matthews Finger kamen zur Ruhe. »Er war dort?«

»Nur zu Anfang. Er und Domenico haben uns in Empfang genommen, aber Satu schickte beide fort.«

»Ich verstehe. Hat er dich berührt?« Matthews Körper spannte sich an.

»An der Wange.« Mich schauderte. »Er hatte das Manuskript schon einmal in Händen, Matthew, und zwar schon vor vielen Jahren. Gerbert prahlte damit, dass er es aus Spanien hergebracht hätte. Schon damals war es offenbar verhext. Er hat sich eine Hexe hörig gemacht, weil er hoffte, sie könnte den Zauber lösen.«

»Willst du mir erzählen, was passiert ist?«

Noch wollte ich nicht darüber reden und war kurz davor, ihm das zu sagen, aber dann sprudelte alles aus mir heraus. Als ich schilderte, wie Satu mich zu öffnen versucht hatte, weil sie die Magie in mir zu finden hoffte, stand Matthew auf und ersetzte die Kissen, die meinen Rücken stützten, durch seinen Körper, indem er mich längs zwischen seine Beine legte.

Er hielt mich fest, solange ich redete, als mir die Stimme versagte und während ich weinte. Was er auch empfand, als ich ihm eröffnete, was Satu mir über ihn verraten hatte, er behielt es eisern für sich. Selbst als ich ihm erzählte, wie meine Mutter unter einem Apfelbaum gesessen hatte, dessen Wurzeln sich über den Steinboden in der Burg ausgebreitet hatten, drängte er kein einziges Mal nach weiteren Einzelheiten, obwohl ihm bestimmt hundert Fragen auf der Zunge brannten.

Ich erzählte ihm nicht alles  – meinen Vater ließ ich weg, genau wie die lebhaften Erinnerungen an die Gutenachtgeschichten und daran, wie ich in Madison durch die Felder hinter Sarahs Haus gelaufen war. Aber es war ein Anfang, und alles Weitere würde sich im Lauf der Zeit ergeben.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte ich, als ich fertig war. »Wir dürfen nicht zulassen, dass die Kongregation Sarah oder Em etwas antut  – oder Marthe und Ysabeau.«

»Das liegt allein bei dir«, antwortete Matthew langsam. »Ich könnte es verstehen, wenn du genug hast.« Ich drehte den Kopf, um ihn anzusehen, aber er wich meinem Blick aus und starrte betrübt aus dem Fenster in die Dunkelheit.

»Du hast mir erklärt, wir wären bis an unser Lebensende miteinander verbunden.«

»Nichts kann meine Gefühle für dich ändern, aber du bist kein Vampir. Was dir heute passiert ist …« Matthew verstummte und setzte neu an. »Ich würde es verstehen, wenn du deine Meinung über alles  – über unsere Beziehung  – geändert hättest.«

»Nicht einmal Satu konnte mich dazu bringen, meine Meinung zu ändern. Und sie hat alles versucht. Meine Mutter klang so überzeugt, als sie mir erklärte, dass du derjenige bist, auf den ich gewartet habe. Nur deshalb konnte ich plötzlich fliegen.« Das stimmte nicht ganz  – meine Mutter hatte gesagt, Matthew sei derjenige, auf den wir gewartet hatten. Aber nachdem das keinen Sinn ergab, behielt ich es für mich.

»Bist du sicher?« Matthew hob mein Kinn an und sah mir eindringlich in die Augen.

»Hundertprozentig.«

Sein Gesicht wirkte nicht mehr ganz so betrübt. Er beugte sich vor, um mich zu küssen, wich aber im letzten Moment zurück.

»Meine Lippen sind der einzige Körperteil, der mir nicht wehtut.« Außerdem musste ich mich vergewissern, dass es auf der Welt Geschöpfe gab, die mich berührten, ohne dass sie mir dabei wehtaten.

Sanft drückte er seinen Mund auf meinen, und ich roch seinen würzigen Nelkenatem. Sein Kuss vertrieb die Erinnerung an La Pierre, und ich konnte ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen in seinen Armen ruhen. Doch dann schreckte ich wieder auf, weil ich unbedingt erfahren musste, was als Nächstes passieren würde.

»Und… was jetzt?«, fragte ich noch einmal.

»Ysabeau hat recht. Wir sollten dich zu deiner Familie bringen. Vampire können dir nicht beibringen, wie du deine Magie nutzen kannst, und diese Hexen werden dich bestimmt nicht in Frieden lassen.«

»Und wann?« Plötzlich genoss ich es eigenartig, alle Entscheidungen ihm zu überlassen.

Ich spürte, wie Matthew leise unter mir zusammenzuckte, was mir zeigte, wie sehr ihn meine Fügsamkeit überraschte. »Wir fliegen zusammen mit Baldwin im Helikopter nach Lyon. Sein Flugzeug steht aufgetankt zum Start bereit. Satu und die anderen Hexen aus der Kongregation werden nicht sofort hier auftauchen, aber irgendwann werden sie kommen«, prophezeite er grimmig.

»Und Ysabeau und Marthe werden ohne dich in Sept-Tours sicher sein?«

Ich spürte, wie Matthew bebend lachte. »Sie haben praktisch in jedem bewaffneten Konflikt der Geschichte mitgemischt. Ein paar Vampire auf der Jagd und ein paar neugierige Hexen können ihnen keine Angst einjagen. Allerdings muss ich noch etwas erledigen, bevor wir losfliegen. Glaubst du, du kannst schlafen, wenn Marthe bei dir wacht?«

»Ich muss meine Sachen packen.«

»Das übernimmt Marthe. Ysabeau kann ihr helfen, wenn dir das recht ist.«

Ich nickte. Irgendwie fand ich den Gedanken, dass Ysabeau bei mir im Zimmer sein würde, eigenartig beruhigend.

Zärtlich legte Matthew mich wieder auf den Kissen ab. Dann rief er leise nach Marthe und Ysabeau und schickte die Hunde mit einer wortlosen Geste an die Tür, wo sie links und rechts Position bezogen wie die steinernen Löwen vor der New York Public Library.

Die beiden Frauen huschten leise durchs Zimmer, und ihr dezentes Geraschel und Gemurmel wiegte mich schließlich in den Schlaf. Als ich Stunden später erwachte, war meine alte Reisetasche gepackt und stand am Kamin bereit. Marthe beugte sich gerade darüber und stopfte eine Dose hinein.

»Was ist das?« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen.

»Der Tee. Eine Tasse täglich. Nicht vergessen.«

»Nein, Marthe.« Mein Kopf sackte ins Kissen zurück. »Danke. Für alles.«

Marthe strich mir mit ihren knorrigen Händen über die Stirn. »Er liebt Sie. Das wissen Sie doch?« Sie klang noch ruppiger als sonst.

»Ich weiß, Marthe. Ich liebe ihn auch.«

Hector und Fallon hoben die Köpfe, weil sie ein Geräusch auf der Treppe bemerkt hatten, das zu leise war, als dass ich es hätte hören können. Matthews dunkle Silhouette erschien. Er kam ans Sofa, musterte mich prüfend und nickte zufrieden, nachdem er meinen Puls gefühlt hatte. Dann hob er mich aus den Kissen, als wäre ich federleicht, und trug mich die Treppe hinab, wobei ich dank des Morphins nur ein unangenehmes Ziehen im Rücken spürte. Hector und Fallon bildeten die Nachhut unserer kleinen Prozession.

Sein Arbeitszimmer war dunkel bis auf das Kaminfeuer, das die Bücher und Objekte mit tanzenden Schatten überzog. Sein Blick zuckte kurz zu dem kleinen Holzturm, als wollte er still von Lucas und Blanca Abschied nehmen.

»Wir kommen zurück, sobald wir können«, versprach ich.

Matthew lächelte, aber seine Augen blieben ernst.

Baldwin wartete in der Halle auf uns. Hector und Fallon strichen um Matthews Beine, als wollten sie alle anderen auf Abstand halten. Er schickte sie weg, damit sich Ysabeau zu uns gesellen konnte.

Sie legte ihre kalten Hände auf meine Schultern. »Sei tapfer, meine Tochter, aber hör auf Matthew«, riet sie mir und küsste mich dann auf beide Wangen.

»Es tut mir leid, dass ich so viel Ärger über euer Haus gebracht habe.«

»Hein, dieses Haus hat Schlimmeres erlebt«, erwiderte sie und wandte sich dann Baldwin zu.

»Lass es mich wissen, falls du etwas brauchst, Ysabeau.« Baldwin strich mit den Lippen über ihre Wange.

»Natürlich, Baldwin. Fliegt vorsichtig«, murmelte sie, während er schon auf dem Weg nach draußen war.

»In Vaters Arbeitszimmer liegen sieben Briefe«, erklärte ihr Matthew schnell und fast flüsternd, nachdem sein Bruder gegangen war. »Alain wird sie holen kommen. Er weiß, was zu tun ist.« Ysabeau nickte, und in ihren Augen glänzte es feucht. »So fängt es also wieder an«, flüsterte sie. »Dein Vater wäre stolz auf dich, Matthew.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm und hob seine Taschen auf.

Wir zogen in einem Aufmarsch von Vampiren, Hunden und einer Hexe über den Rasen des Châteaus. Sobald wir auftauchten, begannen sich die Rotorblätter des Hubschraubers zu drehen. Matthew fasste mich an der Taille, hob mich in die Kabine und kletterte dann hinter mir hinein.

Wir hoben ab und schwebten ein paar Sekunden über den erleuchteten Mauern des Châteaus, bevor wir nach Osten abdrehten, wo sich die Lichter von Lyon gegen den dunklen Morgenhimmel abzeichneten.