29

Die Augen meiner Entführerin waren strahlend blau, saßen leicht angeschnitten über hohen, starken Wangenknochen und wurden von einem Schopf platinblonder Haare umrahmt. Sie trug einen dicken, handgestrickten Rollkragenpullover und eng anliegende Jeans. Kein schwarzes Gewand, auch kein Besen, trotzdem war sie  – unverkennbar  – eine Hexe.

Mit einem verächtlichen Fingerschnippen erstickte sie meinen Schrei, bevor er sich Luft machen konnte. Dann schwenkte sie den Arm nach links und transportierte uns zum ersten Mal, seit sie mich aus dem Garten von Sept-Tours gepflückt hatte, eher waagerecht als senkrecht durch die Lüfte.

Matthew würde aufwachen und feststellen, dass ich verschwunden war. Er würde sich nie verzeihen, eingeschlafen zu sein, und mir nie verzeihen, dass ich allein in den Garten gegangen war. Wie blöd von dir, schimpfte ich mich.

»Das war es wirklich, Diana Bishop«, bestätigte die Hexe mit eigenartigem Akzent.

Ich knallte die imaginären Türen hinter meinen Augen zu, mit denen ich mich schon immer gegen die beiläufigen Invasionsversuche von Dämonen oder Hexen abgeschottet hatte.

Sie stieß ein silbernes Lachen aus, bei dem mir das Mark gefror. Verängstigt und mehr als hundert Meter über der Auvergne schwebend leerte ich so gut ich konnte meinen Geist, damit sie nichts von Belang vorfinden würde, wenn sie meine wackligen Verteidigungsmauern durchbrochen hatte. Dann ließ sie mich fallen.

Während mir der Boden entgegenstürzte, ordneten sich all meine Gedanken um ein einziges Wort  – Matthew.

Die Hexe packte mich, gerade als ich den Erdboden riechen konnte. »Du bist zu leicht zu tragen für eine, die nicht fliegen kann. Warum kannst du es trotzdem nicht?«

Ich ging im Geist sämtliche englischen Könige und Königinnen durch, um nichts Verfängliches zu denken.

Sie seufzte. »Ich bin nicht deine Feindin, Diana. Wir sind beide Hexen.«

Der Wind wechselte, als die Hexe von Sept-Tours weg in Richtung Südwest abdrehte. Schon bald hatte ich die Orientierung verloren. Der Lichtersee in der Ferne war möglicherweise Lyon, aber wir hielten nicht darauf zu. Stattdessen drangen wir immer tiefer in die Berge vor  – die ganz und gar nicht wie die Gipfel aussahen, die Matthew mir benannt hatte.

Schließlich hielten wir im Sinkflug auf eine Art Krater zu, der durch gähnend tiefe Schluchten und dichte, urwüchsige Wälder von der Umgebung abgeschnitten war. Es stellte sich heraus, dass es die Ruine einer mittelalterlichen Burg mit hohen Mauern und dicken, tief in der Erde verankerten Fundamenten war. Bäume wuchsen in den ausgehöhlten, längst verlassenen Gebäuden, die sich in den Schatten des Gemäuers kauerten. An der ganzen Burg gab es keine einzige elegante Linie, keinen einzigen Lichtblick. Sie erfüllte nur einen einzigen Zweck  – alle fernzuhalten, die hier eindringen wollten. Die holprigen Waldwege quer durchs Gebirge bildeten die einzige Verbindung zwischen der Burg und dem Rest der Welt. Mir rutschte das Herz in die Hose.

Die Hexe schwenkte die Beine nach unten und bog die Zehen abwärts, und als ich es ihr nicht nachtat, zwang sie meine Füße mit einem weiteren Fingerschnippen in die gleiche Position. Die Knöchel beschwerten sich über den unsichtbaren Druck. Wir glitten an den Überresten der grauen Ziegeldächer entlang, ohne sie zu berühren, und sanken auf einen kleinen Innenhof zu. Plötzlich stellten sich meine Füße waagerecht und knallten so hart auf das Steinpflaster, dass der Aufprall bis in den Rücken zu spüren war.

»Mit der Zeit wirst du lernen, sanfter zu landen«, stellte die Hexe ungerührt fest.

Mir wollte nicht in den Kopf, wie schnell sich meine Situation verändert hatte. Gerade noch, so kam es mir vor, hatte ich verträumt und zufrieden mit Matthew im Bett gelegen. Jetzt stand ich mit einer unbekannten Hexe in einer finsteren Burg.

Dann lösten sich zwei bleiche Gestalten aus dem Schatten, und meine Verwirrung steigerte sich zu blankem Entsetzen. Eine davon war Domenico Michele. Sein Begleiter war mir unbekannt, aber an der eisigen Berührung seines Blickes erkannte ich, dass auch er ein Vampir war. Eine Weihrauch- und Schwefelschwade verriet mir: Dies war Gerbert von Aurillac, der Vampir-Papst.

Rein körperlich wirkte Gerbert wenig einschüchternd, aber in ihm glühte eine Bosheit, die mich instinktiv zurückweichen ließ. Spuren dieser Düsternis fanden sich auch in den leuchtenden braunen Augen, die in tiefen Höhlen über so kantig hervorstehenden Wangenknochen saßen, dass die Haut darüber bis zum Zerreißen gespannt schien. Die Nase war leicht gebogen und zeigte auf dünne Lippen, die zu einem grausamen Lächeln verzogen waren. Unter dem bohrenden Blick dieser finsteren Augen verblasste die Bedrohung, die Peter Knox dargestellt hatte.

»Danke, dass du mir diesen Ort überlassen hast, Gerbert«, sagte die Hexe schmeichlerisch, ohne von meiner Seite zu weichen. »Du hast recht  – hier wird mich niemand stören.«

»Es war mir ein Vergnügen, Satu. Darf ich einen Blick auf deine Hexe werfen?«, fragte Gerbert leise und ging dabei abwechselnd nach links und rechts, als suche er nach dem besten Blickwinkel, um eine Trophäe in Augenschein zu nehmen. »Nachdem sie mit de Clermont zusammen war, ist schwer abzuschätzen, wo ihr Geruch beginnt und seiner endet.«

Sobald Matthews Name fiel, zog die Hexe die Brauen zusammen. »Diana Bishop ist jetzt in meiner Obhut. Deine Anwesenheit wird hier nicht mehr gebraucht.«

Ohne mich auch nur einmal aus den Augen zu lassen, kam Gerbert mit kleinen, abgemessenen Schritten auf uns zu, die ihn nur noch gefährlicher wirken ließen. »Ein wirklich eigenartiges Buch, nicht wahr, Diana? Vor tausend Jahren habe ich es einem großen Hexer in Toledo abgenommen. Als ich es nach Frankreich brachte, lag bereits ein mehrfacher Zauber darauf.«

»Und obwohl du dich mit Magie beschäftigt hast, konntest du seine Geheimnisse nicht enthüllen.« Ich hörte die Herablassung, mit der die Hexe antwortete. »Das Manuskript ist heute noch genauso verhext wie damals. Überlass das uns.«

Wieder machte er einen Schritt auf mich zu. »Der Name meiner Hexe war deinem ganz ähnlich  – Meridiana. Natürlich wollte sie mir nicht helfen, die Geheimnisse des Manuskripts zu entschlüsseln. Aber mein Blut fesselte sie an mich.« Inzwischen war er mir so nahe, dass mich die von ihm ausstrahlende Kälte frösteln ließ. »Jedes Mal, wenn ich von ihrem Blut trank, ging etwas von ihrem magischen Gespür in mich über, zusammen mit Fragmenten ihres Wissens. Allerdings blieb beides frustrierend oberflächlich. Darum konnte ich nicht von ihr ablassen. Sie wurde dabei immer schwächer und leichter zu kontrollieren.« Gerberts Finger berührte mein Gesicht. »Meridianas Augen waren beinahe wie deine. Was hast du gesehen, Diana? Wirst du es mit mir teilen?«

»Es reicht, Gerbert.« Satus Stimme knisterte warnend, und Domenico reagierte mit einem leisen Knurren.

»Mach dir keine Hoffnungen, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, Diana. Erst werden dich die Hexen an die Kandare nehmen. Dann wird die Kongregation beschließen, was mit dir geschehen soll.« Gerberts Augen bohrten sich in meine, und sein Finger strich fast liebkosend über meine Wange. »Und danach gehörst du mir. Vorerst«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung zu Satu hin, »gehört sie dir.«

Die Vampire zogen sich zurück. Domenico drehte sich noch einmal um, als wollte er nicht gehen. Satu wartete mit leerem Blick, bis Metall auf Holz und Stein schlug und anzeigte, dass sie die Burg verlassen hatten. Ihre blauen Augen erwachten wieder, und sie sah mich an. Mit einer kleinen Geste löste sie den Bannspruch, der mich zum Schweigen verdammt hatte.

»Wer bist du?«, krächzte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte.

»Ich heiße Satu Järvinen«, sagte sie, während sie mich langsam umkreiste, eine Hand hinter sich herziehend. Mit ihrer Geste weckte sie eine tief verschüttete Erinnerung an eine andere Hand, die sich genauso bewegt hatte. Einmal hatte Sarah in unserem Garten in Madison einen ähnlichen Kreis gezogen, als sie einen verirrten Hund zu binden versucht hatte, aber die Hände in meinem Geist waren nicht ihre.

Sarahs Talente kamen bei Weitem nicht an die dieser Hexe heran. Dass Satu eine mächtige Hexe war, hatte ich schon daran erkannt, wie sie flog. Aber sie verstand auch mit Zaubersprüchen umzugehen. Im Moment fesselte sie mich, ohne auch nur ein Wort zu sagen, mit magischen Spinnwebenfäden, die sich über den ganzen Hof erstreckten. Jede Hoffnung, ich könnte ihr entfliehen, verflüchtigte sich.

»Warum hast du mich entführt?«, fragte ich, um sie von ihrem Werk abzulenken.

»Wir haben versucht, dir vor Augen zu führen, wie gefährlich Clairmont ist. Als Hexen wollten wir eigentlich nicht so weit gehen, aber du wolltest ja nicht hören.« Satus Worte schienen von Herzen zu kommen, ihre Stimme war warm. »An Mabon wolltest du nicht mit uns feiern, und auch Peter Knox hast du abgewiesen. Jeden Tag hat sich dieser Vampir näher an dich herangemacht. Aber jetzt bist du vor ihm sicher.«

In mir schrillten alle Alarmglocken.

»Du kannst nichts dafür«, fuhr Satu fort und legte dabei die Finger auf meine Schulter. Meine Haut begann zu kribbeln, und die Hexe lächelte. »Vampire sind so charmant und so verführerisch. Er hat dich hörig gemacht, so wie Gerbert Meridiana hörig machte. Wir geben dir keine Schuld daran, Diana. Du hattest eine so behütete Kindheit. Du konntest ihn nicht als das erkennen, was er ist.«

»Ich bin Matthew nicht hörig«, widersprach ich.

»Bist du ganz sicher?«, fragte sie freundlich. »Du hast nie einen Tropfen seines Blutes gekostet?«

»Natürlich nicht!« Vampirblut war eine mächtige, lebensverändernde Substanz.

»Du erinnerst dich nicht zufällig an einen konzentrierten salzigen Geschmack? Oder an ungewöhnliche Müdigkeit? Du bist nie in Tiefschlaf gefallen, wenn er in deiner Nähe war und du eigentlich wach bleiben wolltest?«

Auf dem Flug nach Frankreich hatte Matthew seine Fingerspitzen erst an seine Lippen und dann an meine gelegt. Damals hatte ich Salz geschmeckt. Und als ich wieder wach geworden war, waren wir in Frankreich gewesen. Meine Gewissheit geriet ins Wanken.

»Ich verstehe. Er hat dich also doch von seinem Blut kosten lassen.« Satu schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gut, Diana. Wir dachten schon, dass das passiert sein könnte, nachdem er dir an Mabon bis zu deinem College gefolgt und durch dein Fenster geklettert war.«

»Was redest du da?« Mir gefror das Blut in den Adern. Matthew würde mich keinesfalls von seinem Blut kosten lassen. Und er würde keinesfalls in mein Territorium eindringen. Falls er es doch getan hatte, musste er einen guten Grund dafür gehabt haben, und den hätte er mir verraten.

»Als ihr euch das erste Mal begegnet seid, ist dir Clairmont in dein Apartment gefolgt. Er ist durch ein offenes Fenster eingestiegen und stundenlang in deinen Räumen geblieben. Bist du nicht aufgewacht? Wenn nicht, dann hat er dich bestimmt von seinem Blut kosten lassen, damit du weiterschläfst. Wie sollte das sonst zu erklären sein?«

Ich war mit einem starken Nelkengeschmack im Mund aufgewacht. Ich verschloss die Augen vor der Erinnerung und vor dem Schmerz, den sie mit sich brachte.

»Eure Beziehung ist nichts als ein kunstvoller Betrug, Diana. Matthew Clairmont will nur eines von dir: das verlorene Manuskript. Alles, was der Vampir getan hat, jede Lüge, die er dir dabei erzählt hat, war allein darauf ausgerichtet.«

»Nein.« Das war unmöglich. Gestern Nacht hatte er mich bestimmt nicht angelogen. Nicht als wir uns in den Armen gelegen hatten.

»Doch. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber du hast uns keine Wahl gelassen. Wir haben euch zu trennen versucht, aber du bist so stur.«

Genau wie mein Vater, dachte ich. Ich kniff die Augen zusammen. »Woher weiß ich, dass du mich nicht anlügst?«

»Hexen können einander nicht belügen. Schließlich sind wir Schwestern.«

»Schwestern?«, wiederholte ich mit frisch erwachtem Misstrauen. »Du bist genau wie Gillian  – die sich als Schwester ausgibt, während sie mich in Wahrheit aushorchen und mich von Matthew trennen will.«

»Also weißt du das mit Gillian«, sagte Satu traurig.

»Ich weiß, dass sie mich beobachtet hat.«

»Weißt du auch, dass sie tot ist?« Plötzlich lag Gift in Satus Stimme.

»Was?« Der Boden schien unter mir wegzukippen, und ich spürte, wie ich unaufhaltsam in die Tiefe schlitterte.

»Clairmont hat sie getötet. Darum wollte er dich so schnell aus Oxford wegbringen. Ein weiterer Mord an einem unschuldigen Opfer, der trotz aller Bemühungen in die Presse kam. Wie lautete die Schlagzeile noch…? Ach ja: ›Junge amerikanische Gelehrte stirbt auf Forschungsreise im Ausland‹.« Satus Mund verzog sich zu einem bösartigen Lächeln.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Matthew würde sie bestimmt nicht umbringen.«

»Ich versichere dir, dass er es getan hat. Bestimmt hat er sie zuerst ausgehorcht. Offenbar haben die Vampire noch immer nicht gelernt, dass es nichts bringt, den Boten umzubringen.«

»Das Bild meiner Eltern.« Ich traute Matthew zu, dass er jeden töten würde, der mir dieses Bild geschickt hatte.

»Es war äußerst ungeschickt von Peter, dir dieses Bild zu schicken, und äußerst unbedacht, es von Gillian überbringen zu lassen«, fuhr Satu fort. »Allerdings ist Clairmont zu klug, um Beweise zu hinterlassen. Er ließ es wie einen Selbstmord aussehen und lehnte ihren Leichnam wie eine Visitenkarte an Peters Zimmertür im Randolph Hotel.«

Eine Freundin war Gillian Chamberlain nicht gewesen, aber das Wissen, dass sie nie wieder über ihren in Glas eingefassten Papyrusfragmenten brüten würde, verunsicherte mich mehr, als ich erwartet hätte.

Und Matthew hatte sie getötet. Mir schwirrte der Kopf. Wie konnte Matthew behaupten, dass er mich liebte, und mir gleichzeitig so etwas vorenthalten? Geheimnisse waren eines, aber ein Mord  – selbst unter dem Deckmantel von Rache und Vergeltung  – war etwas anderes. Immer wieder hatte er mich gewarnt, dass ich ihm nicht trauen konnte. Ich hatte ihm nicht geglaubt und seine Mahnungen ignoriert. Hatte auch das zu seinem Plan gehört, war auch das nur eine Strategie gewesen, damit ich ihm vertraute?

»Du musst dir von mir helfen lassen.« Satus Stimme war wieder sanft geworden. »Die Sache ist außer Kontrolle geraten, und du schwebst in Gefahr. Ich kann dir beibringen, deine Kräfte zu benutzen. Dann wirst du dich vor Clairmont und anderen Vampiren schützen können. Eines Tages wirst du eine große Hexe sein, genau wie deine Mutter. Du kannst mir vertrauen, Diana. Wir sind deine Familie.«

»Familie«, murmelte ich betäubt.

»Deine Mutter und dein Vater hätten bestimmt nicht gewollt, dass du in die Fänge eines Vampirs fällst«, erklärte mir Satu, als wäre ich ein Kind. »Sie wussten, wie wichtig es ist, das Band zwischen uns Hexen zu bewahren.«

»Was hast du gesagt?« Schlagartig hörte das Schwirren auf. Stattdessen schien ich plötzlich wieder ganz klar denken zu können, und meine Haut kribbelte von Kopf bis Fuß, so als würden tausend Hexen mich anstarren. Ich drohte etwas zu vergessen, das mit meinen Eltern zu tun hatte und das alles, was Satu erzählte, als Lüge entlarvte.

Ein eigenartiges Geräusch bohrte sich in meine Ohren. Ein Schleifen und Knarren, so als würde jemand dicke Seile über Stein ziehen. Ich senkte den Kopf und sah kräftige braune Wurzeln, die sich über den Boden schlängelten. Alle krochen auf mich zu.

Satu schien sie gar nicht zu bemerken. »Deine Eltern hätten gewollt, dass du deiner Verantwortung als Bishop und Hexe gerecht wirst.«

»Meine Eltern?« Mühsam hob ich den Blick vom Boden und versuchte mich auf Satus Worte zu konzentrieren.

»Du bist mir und deinen Hexenschwestern Treue und Gefolgschaft schuldig, nicht Matthew Clairmont. Denk an deine Mutter und deinen Vater. Stell dir vor, was sie von dieser Beziehung halten würden, wenn sie davon wüssten.«

Eine Vorahnung fuhr mit kaltem Finger mein Rückgrat entlang, und alle Instinkte warnten mich, dass diese Hexe gefährlich war. Inzwischen hatten die Wurzeln meine Füße erreicht. Als würden sie meine Notlage spüren, änderten sie unvermittelt die Richtung und bohrten sich um mich herum zwischen die Pflastersteine, um sich unter den Fundamenten der Burg zu einem festen, unsichtbaren Netz zu verweben.

»Gillian hat mir erzählt, dass meine Eltern von Hexen umgebracht wurden«, sagte ich. »Willst du das etwa abstreiten? Erzähl mir die Wahrheit über das, was in Nigeria passiert ist.«

Satu blieb still. Ich nahm das als Geständnis.

»Wie ich mir dachte«, sagte ich bitter.

Sie bewegte kurz ihr Handgelenk, und im nächsten Moment lag ich rücklings auf dem Boden, die Füße in der Luft, und wurde von unsichtbaren Händen über die glatten Pflastersteine des eisigkalten Hofes in einen gähnend leeren Raum mit hohen Fenstern und halb abgedecktem Dach geschleift.

Ysabeau hatte recht gehabt. Dass ich verdrängt hatte, wer ich war und nicht gelernt hatte, mich zu verteidigen, hatte mich in ernste Schwierigkeiten gebracht.

»Wieder einmal weigerst du dich, Vernunft anzunehmen. Ich möchte dir nicht wehtun, Diana, aber ich werde es tun, wenn ich dir nicht anders begreiflich machen kann, wie ernst die Situation ist. Du musst Matthew Clairmont aufgeben und uns zeigen, wie du es angestellt hast, das Manuskript abzurufen.«

»Ich werde meinen Ehemann niemals aufgeben, und ich werde niemandem von euch zeigen, wie er an das Manuskript kommen kann. Es gehört uns nicht.«

Kaum hatte ich das gesagt, drohte mir ein unerträglicher Schmerz den Schädel zu spalten, während gleichzeitig ein Schrei die Luft durchschnitt, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine Kakofonie grauenvoller Laute folgte. Sie waren so schrecklich, dass ich in die Knie ging und die Arme über den Kopf schlug.

Satus Augen verengten sich zu Schlitzen, und im nächsten Moment lag ich wieder rücklings auf dem kalten Stein. »Uns? Du wagst es, dich als Hexe zu bezeichnen, nachdem du gerade aus dem Bett eines Vampirs gekrochen bist?«

»Ich bin eine Hexe«, erwiderte ich scharf, überrascht, wie sehr mich ihre Zurückweisung schmerzte.

»Du bist eine Schande, genau wie Stephen«, zischte Satu. »Eigensinnig, streitsüchtig, unnahbar. Und voller Geheimnisse.«

»Ganz recht, Satu, ich bin wie mein Vater. Er hätte dir kein Wort verraten. Und genausowenig werde ich das tun.«

»Und wie du reden wirst. Wenn ein Vampir die Geheimnisse einer Hexe ergründen will, kann er das nur tropfenweise tun.« Um zu zeigen, wie sie das meinte, schnippte Satu mit den Fingern zu meinem rechten Unterarm hin. Eine andere Hexenhand hatte vor langer, langer Zeit schnippend auf eine Wunde in meinem Knie gedeutet, und diese Geste hatte die Wunde schneller verschlossen, als es jedes Pflaster vermocht hätte. Jetzt schnitt das Schnippen wie ein unsichtbares Messer durch meine Haut. Rote Tropfen sickerten aus der Wunde. Hypnotisiert sah Satu zu, wie das Blut zu fließen begann.

Ich deckte mit der Hand den Schnitt ab und drückte mit aller Kraft auf die Wunde. Sie schmerzte überraschend stark, und ich merkte, wie nackte Angst in mir aufstieg.

Nein, sagte eine vertraute, feste Stimme. Du darfst dem Schmerz nicht nachgeben. Ich begann um meine Selbstbeherrschung zu ringen.

»Als Hexe habe ich andere Möglichkeiten, dir alles zu entreißen, was du verheimlichen willst. Ich werde dich öffnen, Diana, bis ich jedes Geheimnis kenne, das du hütest«, versprach Satu. »Wir werden schon sehen, ob du dann immer noch so eigensinnig bist.«

Mir wich das Blut aus dem Kopf, und mir wurde schwindlig. Die vertraute Stimme meldete sich wieder und flüsterte meinen Namen. Vor wem hüten wir unsere Geheimnisse, Diana?

Vor allen, antwortete ich lautlos und wie von selbst, als würde mir diese Frage jeden Tag gestellt. Hinter den unzureichenden Barrieren, die zeit meines Lebens genügt hatten, damit keine neugierige Hexe in meine Gedanken eindrang, schlossen sich mit einem tiefen Schlag unvergleichlich stabilere Tore.

Satu lächelte, und ihre Augen begannen zu sprühen, als sie meinen neuen Verteidigungswall entdeckte. »Damit wäre das erste Geheimnis gelüftet. Mal sehen, was du sonst noch kannst, außer deinen Geist zu beschützen.«

Die Hexe murmelte ein paar Worte, und mein Körper wurde herumgewirbelt und mit dem Gesicht nach unten auf den Boden geschleudert. Der Aufprall jagte mir die Luft aus der Lunge. Ein Flammenkreis leckte mit abstoßend grünen Flammen aus dem kalten Stein.

Etwas glühend Heißes versengte meinen Rücken. Die Hitze schoss wie ein Komet von einer Schulter zu anderen, wanderte dann abwärts zur Taille und wendete dort, bevor sie an ihren Ausgangspunkt zurückkehrte. Satus Magie fesselte mich an den Boden, damit ich mich der Hitze nicht entwinden konnte. Mir wurde schwindlig vor Schmerz, aber bevor mich die Ohnmacht erlösen konnte, hielt Satu inne. Sobald sich die Schwärze aufhellte, setzte der Schmerz wieder ein.

In diesem Moment begriff ich, dass sie mich öffnete, genau wie sie versprochen hatte, und mir wurde übel. Sie zog einen magischen Kreis – auf meinem Rücken.

Du musst jetzt sehr, sehr tapfer sein.

Durch einen Nebel von Schmerzen folgte ich den verschlungenen Wurzeln, die den Boden der Halle bedeckten, in Richtung der vertrauten Stimme. Meine Mutter saß, knapp außerhalb des grünen Flammenringes, unter einem Apfelbaum.

»Mama«, rief ich schwach und streckte die Hand nach ihr aus. Aber Satus Magie war zu stark.

Die Augen meiner Mutter  – dunkler als in meiner Erinnerung, aber meinen so ähnlich  – ließen mich nicht los. In einer Schweigegeste legte sie einen geisterhaften Finger an die Lippen. Ich nutzte meine letzten Kräfte für ein begrüßendes Nicken. Mein letzter zusammenhängender Gedanke galt Matthew.

Danach spürte ich nichts mehr außer Schmerz und Angst und dem dumpfen Bedürfnis, die Augen zu schließen und ewig zu schlafen.

Vermutlich vergingen mehrere Stunden, bevor mich Satu verärgert durch den Raum schleuderte. Mein Rücken brannte höllisch nach ihrem Zauber, und immer wieder hatte sie meinen verletzten Unterarm geöffnet. Irgendwann hatte sie mich sogar kopfüber in der Luft zappeln lassen und mich verhöhnt, weil ich nicht fliegen und ihr entkommen konnte. Doch allen Bemühungen zum Trotz verstand sie meine Magie genauso wenig wie am Anfang.

Sie schrie vor Wut auf, marschierte mit klackernden Absätzen auf dem Steinboden auf und ab und plante neue Attacken. Ich stützte mich auf die Ellbogen und versuchte ihren nächsten Angriff vorherzuahnen.

Halt durch. Sei tapfer. Meine Mutter saß immer noch mit tränennassem Gesicht unter dem Apfelbaum. Wie in einem fernen Echo hörte ich Ysabeau zu Marthe sagen, dass ich mutiger sei, als sie geglaubt hätte, und Matthew flüsterte »tapferes Mädchen« in mein Ohr. Ich rang mir mit letzter Kraft ein Lächeln ab, weil ich nicht wollte, dass meine Mutter weinte. Mein Lächeln machte Satu noch wütender.

»Warum setzt du deine Kräfte nicht ein, um dich zu beschützen? Ich weiß, dass du sie hast!«, kreischte sie. Satu nahm beide Hände vor die Brust und stieß sie dann unter einem Wortschwall nach vorn. In meinem Unterleib explodierte ein reißender Schmerz, um den sich mein ganzer Körper zusammenkrampfte. Unwillkürlich musste ich an den ausgeweideten Körper meines Vaters denken, dem man die Gedärme herausgerissen und um seinen Leichnam herum ausgebreitet hatte.

Das kommt als Nächstes. Das Wissen war eigenartig erleichternd.

Mit dem nächsten Spruch schleuderte mich Satu über den Boden der verfallenen Halle. Vergeblich streckte ich die Hände über den Kopf, um mich abzubremsen, während ich über die unebenen Pflastersteine und holprigen Wurzeln rumpelte. Einmal krümmten sich meine Finger, als könnten sie über die ganze Auvergne reichen und Matthew wachrütteln.

So hatte der Leichnam meiner Mutter ausgesehen, als er in einem magischen Kreis in Nigeria gelegen hatte. Ich atmete scharf aus und schrie.

Diana, hör mir gut zu. Du wirst dich schrecklich allein fühlen. Unter dem sanften Zureden meiner Mutter wurde ich wieder zum Kind und saß an einem längst vergangenen Augustnachmittag auf der Schaukel im Garten unseres Hauses in Cambridge. Die Luft roch frisch und grün nach gemähtem Gras und nach dem Maiglöckchenduft meiner Mutter. Kannst du tapfer bleiben, obwohl du allein bist? Kannst du das für mich tun?

Jetzt wehte keine linde Augustbrise über meine Haut. Stattdessen schrammte rauer Stein über meine Wange, als ich ihr zunickte.

Satu drehte mich um, und die spitzen Steine schnitten in meinen Rücken.

»Wir tun das nicht gern, Schwester«, erklärte sie bedauernd, »aber uns bleibt nichts anderes übrig. Wenn du Clairmont erst vergessen hast, wirst du verstehen und mir verzeihen.«

Das glaubst auch nur du, dachte ich. Wenn er dich nicht umbringt, werde ich dich bis an dein Lebensende verfolgen, sobald ich hier weg bin.

Mit ein paar geflüsterten Worten ließ Satu mich in der Luft schweben und transportierte mich dann mittels genau dosierter Windstöße aus der Halle und über eine geschwungene Treppe in die Tiefen der Burg. Sie lenkte mich durch die uralten Verliese. Etwas raschelte hinter mir, und ich drehte den Kopf, um festzustellen, was das war.

Geister  – Dutzende von Geistern  – folgten uns traurig und ängstlich in einer gespenstischen Trauerprozession. Trotz ihrer Kräfte schien Satu die Toten um uns herum nicht zu sehen, so wie sie auch meine Mutter nicht gesehen hatte.

Die Hexe versuchte mit den Händen einen schweren Holzriegel am Boden anzuheben. Ich schloss die Augen und wartete still auf den Sturz. Stattdessen packte mich Satu am Schopf und zog mein Gesicht über ein dunkles Loch. Eine so ekelhaft nach Tod stinkende Schwade stieg daraus auf, dass die Geister stöhnend zurückwichen.

»Weißt du, was das ist, Diana?«

Zu verängstigt und erschöpft, um auch nur ein Wort herauszubringen, wich ich zurück und schüttelte den Kopf.

»Das hier nennt man eine Oubliette.« Das Wort raschelte von Geist zu Geist weiter. Eine hagere Frau mit uraltem Gesicht begann zu weinen. »Oubliettes sind Kerker, in denen die Gefangenen vergessen wurden. Menschen, die in eine Oubliette gestoßen werden, werden erst verrückt und verhungern dann  – falls sie den Aufprall überleben. Es geht sehr tief hinunter. Ohne Hilfe von oben kommen sie nie wieder heraus, und diese Hilfe kommt nie.«

Der Geist eines jungen Mannes mit einer tiefen Wunde quer über die Brust bestätigte Satus Erklärung mit einem Nicken. Fall nicht, Mädchen, sagte er bekümmert.

»Aber wir werden dich nicht vergessen. Ich gehe Verstärkung holen. Einer Hexe aus der Kongregation magst du noch widerstehen, aber keinesfalls allen dreien. Das war bei deinen Eltern nicht anders.« Sie verstärkte ihren Griff, und wir segelten gute zwanzig Meter abwärts zum Grund des Kerkers. Dabei drangen wir so tief in den Berg vor, dass die Felswände ihre Farbe und Struktur änderten.

»Bitte«, bettelte ich, als Satu mich absetzte. »Lass mich nicht hier unten allein. Ich habe keine Geheimnisse, ich weiß nicht, wie ich meine Magie einsetzen kann oder wie ich das Manuskript wieder heraufbeschwören könnte.«

»Du bist Rebecca Bishops Tochter«, sagte Satu. »Du besitzt viele Kräfte  – das fühle ich  –, und wir werden dafür sorgen, dass sie freigesetzt werden. Wenn deine Mutter hier wäre, würde sie einfach wegfliegen.« Satu sah erst nach oben in die Schwärze über uns und dann auf meinen Knöchel. »Aber du bist nicht wirklich die Tochter deiner Mutter, oder? Nicht so, dass es etwas zu bedeuten hätte.«

Satu ging in die Knie, hob die Arme und stieß sich leicht vom Steinboden des Verlieses ab. Im nächsten Moment schoss sie aufwärts und verschwand in einem weißblauen Nebel. Hoch über mir klappte die hölzerne Falltür zu.

Hier unten würde mich Matthew nie finden. Inzwischen war jede Spur längst verflogen und unsere Fährte in alle vier Winde verweht. Wenn ich nicht warten wollte, bis mich Satu, Peter Knox und eine unbekannte dritte Hexe aus diesem Verlies zerrten, würde ich mich selbst befreien müssen.

Ich stand auf, legte das ganze Gewicht auf einen Fuß, ging in die Knie, hob die Arme an und stieß mich genau wie Satu vom Boden ab. Nichts geschah. Ich schloss die Augen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, wie ich im Salon getanzt hatte, weil ich hoffte, dass mich das wieder schweben lassen würde. Stattdessen dachte ich ausschließlich an Matthew und daran, wie viel er vor mir geheimgehalten hatte. Mir stockte der Atem, ich begann zu schluchzen, und dann zwang mich die modrige Luft in meinem Verlies vor Husten in die Knie.

Ich schlief ein wenig, aber die Geister waren schwer zu ignorieren, nachdem sie erst zu schnattern begonnen hatten. Immerhin erhellten sie mein Verlies ein wenig. Bei jeder Bewegung hinterließen sie in der Luft einen schimmernden Fleck, der ihren bisherigen mit ihrem neuen Aufenthaltsort verband. Mir gegenüber saß eine junge Frau in schmutzigen Lumpen, die leise vor sich hin summte und mit leeren Augen in meine Richtung schaute. In der Mitte des Kerkers beugten sich ein Mönch, ein Ritter in voller Rüstung und ein Musketier über ein noch tieferes Loch, aus dem ein Hauch so völliger Verlorenheit aufstieg, dass ich mich nicht einmal in die Nähe wagte. Der Mönch sprach murmelnd die Totenmesse, während der Musketier immer wieder den Arm in die Grube reckte, als hätte er etwas darin verloren.

Angst, Schmerz und Kälte setzten meinem Geist mehr und mehr zu, bis er sich zu verschließen begann. Die Stirn in angestrengte Falten gelegt, rief ich mir die letzten Passagen ins Gedächtnis, die ich in der Aurora Consurgens gelesen hatte, und wiederholte sie laut, um nicht verrückt zu werden.

»Ich bin es, die zwischen allen Elementen schlichtet, die alle miteinander versöhnt«, murmelte ich mit steifen Lippen. »Ich mache feucht, was trocken wurde, und was feucht ist, mache ich trocken. Ich verhärte, was weich wurde, und erweiche, was hart ist. So wie ich das Ende bin, ist mein Geliebter der Anfang. Ich umfasse das gesamte Werk der Schöpfung, und alles Wissen liegt in mir verborgen.« An der Wand neben mir schimmerte etwas. Ein weiterer Geist kam mich begrüßen, doch ich schloss die Augen, zu müde, um mich noch für ihn zu interessieren, und vertiefte mich wieder in meine Rezitation.

»Wer wagt es, mich von meiner Liebe zu trennen? Niemand, denn unsere Liebe ist stark wie der Tod.«

Meine Mutter unterbrach mich. Willst du nicht versuchen zu schlafen, kleine Hexe?

Hinter den geschlossenen Lidern sah ich mein Schlafzimmer unter dem Dach des Hauses in Madison. Es waren nur noch ein paar Tage bis zur Reise meiner Eltern nach Afrika, und ich sollte bei Sarah bleiben, während sie weg waren.

»Ich bin noch gar nicht müde«, antwortete ich. Ich klang eigensinnig und kindisch. Ich schlug die Augen auf. Die Geister umringten den matten Schein im Dunkel zu meiner Rechten.

Meine Mutter saß dort, gegen die feuchten Steinmauern des Verlieses gelehnt, und streckte mir die Arme entgegen. Ich rutschte zu ihr hin, mit angehaltenem Atem, so sehr fürchtete ich, dass sie wieder verschwinden könnte. Sie empfing mich mit einem Lächeln, und ich sah die nicht vergossenen Tränen in ihren Augen glänzen. Die geisterhaften Arme und Finger meiner Mutter zuckten hin und her, als ich mich an ihren vertrauten Körper kuschelte.

Soll ich dir eine Geschichte erzählen?

»Deine Hände habe ich gesehen, als Satu mich verhexen wollte.«

Ihr sanftes Lachen bewirkte, dass sich die kalten Steine unter mir weniger hart anfühlten. Du warst sehr tapfer.

»Ich bin so müde«, seufzte ich.

Dann ist es Zeit für deine Geschichte. Es war einmal, begann sie, eine kleine Hexe namens Diana. Als sie noch ganz klein war, wickelte eine gute Fee, die gleichzeitig ihre Patin war, sie in unsichtbare Bänder in allen Regenbogenfarben.

Ich kannte diese Geschichte aus meiner Kindheit, als ich lila und rosa Pyjamas mit Sternenmuster getragen hatte und meine Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten waren, die sich über meinen Rücken schlängelten. Wogen von Erinnerungen fluteten in Räume meines Geistes, die seit dem Tod meiner Eltern leer und verlassen dagelegen hatten.

»Warum hat die gute Fee sie eingewickelt?«, fragte ich mit Kinderstimme.

Weil Diana so gern zauberte und es auch sehr gut konnte. Aber ihre Feenpatin wusste, dass die anderen Hexen neidisch auf ihre Kräfte werden würden. »Wenn du so weit bist«, erklärte ihr die gute Fee, »wirst du diese Bänder abschütteln. Bis dahin wirst du nicht fliegen und auch nicht zaubern können.«

»Das ist ungerecht!«, protestierte ich, wie es Siebenjährige gern tun. »Bestraf doch die anderen Hexen und nicht mich!«

Die Welt ist ungerecht, nicht wahr?, fragte meine Mutter.

Ich schüttelte trübsinnig den Kopf.

Sosehr sich Diana auch bemühte, sie konnte die Bänder nicht abschütteln. Im Lauf der Zeit vergaß das Mädchen sie völlig. Und ihre Magie auch.

»Ich würde meine Magie nie vergessen«, widersprach ich.

Meine Mutter zog die Stirn in Falten. O doch, das hast du, flüsterte sie leise. Dann setzte sie ihre Geschichte fort. Viele Jahre später traf Diana einen wunderschönen Prinzen, der in den Schatten zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang lebte.

Das war meine Lieblingsstelle gewesen. Erinnerungen an andere Abende überschwemmten mich. Manchmal hatte ich nach seinem Namen gefragt, oder ich hatte behauptet, ich sei nicht an einem blöden Prinzen interessiert. Meistens hatte ich mich allerdings gefragt, warum jemand mit einer Hexe zusammen sein wollte, die nicht zaubern konnte.

Der Prinz liebte Diana, auch wenn sie scheinbar nicht fliegen konnte. Er sah die Bänder, die sie fesselten und die niemand sonst sehen konnte. Er fragte sich, wozu sie wohl gut seien und was passieren würde, wenn er sie abnähme. Aber der Prinz hielt es für unhöflich, sie zu erwähnen. Ich nickte mit meinem siebenjährigen Kopf, beeindruckt vom Einfühlungsvermögen des Prinzen, und mein viel älterer Kopf rummste gegen die Steinwand. Trotzdem fragte er sich, warum eine Hexe nicht fliegen wollte, wenn sie es doch konnte.

Dann, sagte meine Mutter und strich mein Haar glatt, kamen drei Hexen in den Ort. Auch sie konnten die Bänder sehen und vermuteten deshalb, dass Diana noch mächtiger war als sie. Sie brachten sie fort in ein düsteres Schloss. Aber die Bänder wollten sich nicht lösen, sosehr die Hexen auch daran zogen und zerrten. Also schlossen die Hexen Diana in einen Raum ein und hofften, dass sie die Bänder vor lauter Angst selbst lösen würde.

»War Diana ganz allein?«

Ganz allein, bestätigte meine Mutter.

»Ich glaube, die Geschichte gefällt mir nicht«, beschwerte ich mich.

Wirst du dann schlafen?

Ich zog meine Kinderdecke hoch, eine Steppdecke aus bunten rechteckigen Flicken, die Sarah vor meinem Besuch in einem Kaufhaus in Syracuse gekauft hatte, und rutschte auf den Boden des Verlieses hinab. Meine Mutter schob mich auf den Steinen zurecht.

»Mama?«

Ja, Diana?

»Ich habe es so gemacht, wie du mir gesagt hast. Ich habe meine Geheimnisse bewahrt  – vor allen.«

Ich weiß, dass das schwer war.

»Hast du auch Geheimnisse?« In meinem Kopf rannte ich wie ein Reh durch ein Feld, und meine Mutter folgte mir.

Natürlich, sagte sie, streckte die Hand aus und schnippte mit den Fingern, woraufhin ich durch die Luft schoss und in ihren Armen landete.

»Verrätst du mir eines davon?«

Aber ja. Ihr Mund war meinem Ohr so nahe, dass ihre Lippen mich kitzelten. Du. Du bist mein größtes Geheimnis.

»Aber ich bin doch hier bei dir!«, quietschte ich, wand mich aus ihren Armen und rannte auf den Apfelbaum zu. »Wie kann ich ein Geheimnis sein, wenn ich hier bei dir bin?«

Meine Mutter legte den Finger auf die Lippen und lächelte.

Magie.