41
Am Tag vor Halloween spürte ich ein leises Flattern in der Magengegend. Ich griff nach Matthew, der neben mir im Bett lag.
»Ich bin nervös.«
Er klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und zog mich an seine Brust. »Ich weiß. Du warst schon nervös, bevor du die Augen aufgeschlagen hast.«
Im Haus herrschte bereits geschäftiges Treiben. Unten im Arbeitszimmer spuckte Sarahs Drucker eine Seite nach der anderen aus. Der Fernseher lief, und ich hörte den Trockner protestierend unter der nächsten Wäscheladung aufstöhnen. Ich brauchte nur kurz zu schnuppern, um zu erkennen, dass Sarah und Em schon die Kaffeemaschine angeworfen hatten, und weiter hinten im Flur heulte ein Föhn.
»Sind alle anderen schon aufgestanden?« Ich gab mir Mühe, meinen Magen zu beruhigen.
»Ich glaube schon.« Er lächelte, aber ich entdeckte einen besorgten Schatten in seinem Blick.
Unten briet Sarah auf Bestellung Eier, während Em Bleche mit frisch gebackenen Muffins aus dem Ofen zog. Nathaniel zupfte eines nach dem anderen vom Blech und stopfte sie sich in den Mund.
»Wo ist Hamish?«, fragte Matthew.
»In meinem Büro, wo er meinen Drucker blockiert.« Sarah sah ihn vielsagend an und wandte sich dann wieder ihrer Pfanne zu.
Marcus stand von seinem Scrabblespiel auf und kam in die Küche, um seinen Vater zu einem Spaziergang abzuholen. Im Hinausgehen nahm er sich eine Handvoll Nüsse und schnupperte mit einem frustrierten Stöhnen an den Muffins.
»Was ist denn los?«, fragte ich leise.
»Hamish spielt den Anwalt«, erwiderte Sophie und bestrich einen Muffin mit Butter. »Er meint, es gäbe noch ein paar Papiere zu unterschreiben.«
Am späten Vormittag rief Hamish uns ins Esszimmer. Wir streunten mit unseren Weingläsern und Teebechern hinein. Er sah aus, als hätte er kein Auge zugetan. Überall auf dem Tisch waren korrekte Papierstapel angeordnet, außerdem sah ich schwarze Wachsstäbe und zwei Siegel mit dem Zeichen der Lazarusritter – ein kleines und ein großes. Das Herz plumpste mir in die Magengrube und sprang von dort aus direkt in meinen Hals.
»Sollen wir uns hinsetzen?«, fragte Em. Sie hatte eine frische Kanne Kaffee mitgebracht und schenkte Hamishs Becher voll.
»Danke, Em«, sagte Hamish erleichtert. Am Kopfende des Tisches standen zwei Stühle. Er winkte Matthew und mich dorthin und griff dann nach dem ersten Papierstapel. »Gestern Nachmittag sind wir eine Reihe von praktischen Problemen durchgegangen, die sich aus unserer gegenwärtigen Situation ergeben.«
»Nicht ganz so offiziös, bitte, Hamish«, sagte Matthew, und ich spürte seine Hand auf meinem Rücken. Hamish sah ihn finster an und fuhr fort.
»Diana und Matthew werden wie geplant an Halloween zeitwandern. Vergesst alles andere, was Matthew euch aufgetragen hat.« Es bereitete Hamish sichtbares Vergnügen, diesen Teil seiner Botschaft zu verkünden. »Wir sind übereingekommen, dass es das Beste wäre, wenn alle … für eine Weile verschwinden. Von diesem Augenblick an steht bei jedem von uns das Leben auf Stopp.«
Hamish legte ein Dokument vor mich hin. »Dies ist eine Anwaltsvollmacht, Diana, die mich – oder den jeweiligen Seneschall – ermächtigt, als Anwalt für Sie tätig zu werden.«
Die Vollmacht verlieh der abstrakten Vorstellung, durch die Zeit zu reisen, etwas Endgültiges, das sie bis dahin nicht gehabt hatte. Matthew zückte einen Füllfederhalter.
»Hier«, sagte er und legte ihn vor mich hin.
Die Feder war meine Hand nicht gewohnt und kratzte, als ich meine Unterschrift auf die getüpfelte Linie setzte. Dann nahm Matthew mir den Füllfederhalter ab und tropfte einen schwarzen Wachsklecks unten auf die Seite, in den er dann sein persönliches Siegel drückte.
Hamish griff nach dem nächsten Stapel. »Diese Briefe musst du ebenfalls unterschreiben. In einem teilst du den Organisatoren der Konferenz im November mit, dass du deinen Vortrag leider nicht halten kannst. In einem anderen bittest du für das ganze nächste Jahr um eine Beurlaubung aus medizinischen Gründen. Dein Arzt – ein gewisser Dr. Marcus Whitmore – hat dir ein Attest geschrieben. Falls du bis April nicht zurück bist, schicke ich diesen Brief nach Yale.«
Ich las die Briefe genau durch und verabschiedete mich mit einer Unterschrift aus meinem Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Hamish stützte sich an der Tischkante ab. Ganz eindeutig holte er zu einer längeren Ansprache aus. »Wir können unmöglich wissen, wann Matthew und Diana zurückkommen werden.« Er sagte nicht »ob«, doch das Wort schwebte auch so im Raum. »Immer wenn ein Mitglied der Firma oder der Familie de Clermont eine längere Reise unternehmen oder vorübergehend untertauchen muss, ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Angelegenheiten geregelt sind. Diana, du hast kein Testament.«
»Nein.« Mein Kopf war wie leergefegt. »Aber ich habe nicht viel zu vererben – nicht einmal ein Auto.«
Hamish richtete sich auf. »Das stimmt nicht ganz, oder, Matthew?«
»Gib es mir«, sagte Matthew widerstrebend. Hamish reichte ihm ein dickes Dokument. »Das hier wurde bei meinem letzten Besuch in Oxford aufgesetzt.«
»Vor La Pierre«, sagte ich, ohne die Seiten zu berühren.
Matthew nickte. »Im Wesentlichen handelt es sich um unseren Ehevertrag. Darin wird dir unwiderruflich ein Drittel meines gesamten Besitzes übertragen. Diese Güter würden dir gehören, selbst wenn du mich verlassen solltest.«
Er hatte ihn aufgesetzt, bevor er heimgekehrt war – bevor wir nach Vampirbrauch vermählt waren.
»Ich werde dich nicht verlassen, und ich will das hier nicht.«
»Du weißt nicht einmal, was es ist«, sagte Matthew und legte die Papiere vor mich hin.
Es war zu viel auf einmal. Atemberaubende Geldsummen, ein Stadthaus in einem exklusiven Londoner Viertel, eine Wohnung in Paris, eine Villa am Rand von Rom, die Old Lodge, ein Haus in Jerusalem, weitere Häuser in Städten wie Venedig und Sevilla, Flugzeuge, Autos – mir schwirrte der Kopf.
»Ich habe einen festen Job.« Ich schob die Papiere von mir weg. »Das ist absolut überflüssig.«
»Trotzdem gehört es dir«, widersprach Matthew barsch.
Hamish wartete ab, bis ich die Fassung wiedergefunden hatte, bevor er die nächste Bombe platzen ließ. »Falls Sarah sterben würde, würdest du auch dieses Haus erben, wobei Emily allerdings lebenslanges Wohnrecht hätte. Und du bist Matthews Alleinerbin. Du hast also durchaus Besitz – und ich muss wissen, wie du darüber verfügen willst.«
»Ich werde nicht darüber sprechen.« Dazu war die Erinnerung an Satu und Juliette noch zu frisch, und ich fühlte mich dem Tod entschieden zu nah. Ich stand auf und wollte schon aus dem Zimmer, aber Matthew packte mich an der Hand und hielt mich fest.
»Du musst das erledigen, mon cœur. Wir können das nicht Marcus und Sarah aufbürden.«
Ich setzte mich wieder hin und überlegte still, was ich mit dem unvorstellbaren Vermögen anfangen sollte und mit dem halb baufälligen Bauernhaus, das mir eines Tages vielleicht gehören würde.
»Meine Güter sollen gleichmäßig unter unseren Kindern aufgeteilt werden«, beschloss ich dann. »Und das umfasst sämtliche Kinder Matthews – Vampire und unsere biologischen Kinder, Kinder, die er selbst gemacht hat und die wir möglicherweise eines Tages gemeinsam haben werden. Sie werden auch das Haus der Bishops bekommen, wenn Em nicht mehr hier leben will.«
»Ich werde dafür Sorge tragen«, versicherte mir Hamish.
Damit blieben nur noch drei Dokumente auf dem Tisch, die in drei verschlossenen Umschlägen lagen. Zwei trugen Matthews Siegel. Um den dritten war eine schwarz-silberne Kordel geschlungen, deren Knoten ebenfalls mit Siegelwachs gesichert war. An der Kordel hing eine schwarze Scheibe von der Größe einer Untertasse, in die das Großsiegel der Lazarusritter eingeprägt war.
»Schließlich müssen wir noch die Angelegenheiten der Bruderschaft regeln. Als Matthews Vater die Lazarusritter gründete, sollten sie vor allem jene schützen, die sich nicht selbst schützen konnten. Obwohl uns die meisten vergessen haben, gibt es uns immer noch. Und es muss uns auch weiterhin geben, selbst wenn Matthew nicht mehr bei uns ist. Morgen wird Matthew, bevor Marcus das Haus verlässt, offiziell sein Amt in unserem Orden niederlegen und seinen Sohn zum Großmeister ernennen.«
Hamish überreichte Matthew die beiden Umschläge mit seinem persönlichen Siegel. Dann gab er Nathaniel den Umschlag mit dem großen Siegel. Miriam fielen fast die Augen aus dem Kopf.
»Sobald Marcus sein neues Amt antritt, was er sofort tun wird«, sagte Hamish mit strengem Blick auf Marcus, »wird er Nathaniel anrufen, der sich einverstanden erklärt hat, der Firma als einer der acht Provinzmeister beizutreten. Sobald Nathaniel das Siegel an seiner Ernennungsurkunde bricht, wird er zum Lazarusritter.«
»Du kannst nicht lauter Dämonen wie Hamish und Nathaniel zu Mitgliedern der Bruderschaft ernennen! Wie soll Nathaniel mit uns kämpfen?« Miriam war fassungslos.
»Hiermit«, sagte Nathaniel und ließ seine Finger in der Luft zappeln. »Ich kenne mich mit Computern aus, und ich kann definitiv meinen Teil beitragen.« Plötzlich klang er fast wütend, und er warf Sophie einen zornigen Blick zu. »Niemand wird meiner Frau oder Tochter das antun, was Diana angetan wurde.«
Alle schwiegen verblüfft.
»Das ist noch nicht alles.« Hamish zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und verschränkte die Finger.
»Miriam glaubt, dass es Krieg geben wird. Ich bin da anderer Meinung. Der Krieg hat längst begonnen.«
Alle Augen im Raum richteten sich auf Hamish. Es war offensichtlich, warum ihn so viele gern in der Regierung gesehen hätten – und warum Matthew ihn zu seinem Stellvertreter ernannt hatte. Er war der geborene Anführer.
»Wir in diesem Raum wissen genau, warum ein solcher Krieg geführt wird. Zum einen geht es um Diana, denn wir wissen, wie wenig Skrupel die Kongregation hat, wenn es darum geht, die Kräfte zu ergründen, die sie geerbt hat. Es geht auch um Ashmole 782 und unsere Befürchtung, dass die Geheimnisse des Buches für alle Zeiten verlorengehen könnten, wenn es in die Hände der Hexen fällt. Und es geht um unsere gemeinsame Überzeugung, dass niemand das Recht haben sollte, zwei Wesen zu erklären, dass sie einander nicht lieben dürfen.«
Hamish sah sich kurz um, um sicherzugehen, dass ihm alle zuhörten, dann fuhr er fort: »Es wird nicht lange dauern, bis die Menschen diesen Konflikt bemerken werden. Sie werden gezwungen sein anzuerkennen, dass Dämonen, Vampire und Hexen unter ihnen leben. Wenn das geschieht, werden wir nicht nur dem Namen nach, sondern ganz real Sophies Konventikel bilden müssen. Es wird Opfer, Hysterie und Chaos geben. Und es wird allein unsere Aufgabe sein – die des Konventikels und der Lazarusritter –, den Menschen die Ereignisse begreiflich zu machen und dafür zu sorgen, dass die Verluste und die Zerstörungen nicht ausufern.«
»Ysabeau erwartet dich in Sept-Tours.« Matthew sagte das ganz ruhig. »Die Burg ist vielleicht die einzige Grenze, die andere Vampire nicht zu überschreiten wagen. Sarah und Emily werden die Hexen so weit wie möglich in Schach halten. Dabei sollte ihnen der Name Bishop helfen. Und die Lazarusritter werden Sophie und ihr Baby beschützen.«
»Wir teilen uns also auf«, Sarah nickte Matthew zu, »und sammeln uns dann wieder im Haus der de Clermonts. Und danach werden wir überlegen, wie wir weiter vorgehen. Gemeinsam.«
»Unter Marcus’ Führung.« Matthew erhob sein halbvolles Weinglas. »Auf Marcus, Nathaniel und Hamish. Ehre und langes Leben.«
»Diese Worte habe ich ewig nicht mehr gehört«, sagte Miriam leise.
Sichtlich ungern standen Marcus und Nathaniel im Mittelpunkt und schienen sich noch nicht mit ihrer neuen Verantwortung angefreundet zu haben. Hamish sah einfach nur müde aus.
Nachdem wir den drei Männern zugeprostet hatten – die allesamt viel zu jung aussahen, um sich Gedanken über ein langes Leben zu machen –, trieb Em uns zum Mittagessen in die Küche. Sie baute ein Festmahl auf der Kochinsel auf, und wir vertrieben uns die Zeit im Familienzimmer, weil jeder den Augenblick hinauszögern wollte, an dem wir uns würden verabschieden müssen.
Schließlich wurde es Zeit für Sophies und Nathaniels Abreise. Marcus verstaute die wenigen Habseligkeiten des Pärchens im Kofferraum seines kleinen blauen Sportwagens. Marcus und Nathaniel standen beisammen und hatten die zwei blonden Schöpfe vertraulich zusammengesteckt, während sich Sophie von Sarah und Em verabschiedete. Schließlich drehte sie sich zu mir um. Ich war in die Wohnstube abgeschoben worden, damit mich niemand versehentlich berührte.
»Das ist kein richtiger Abschied«, erklärte sie mir von der anderen Seite des Flures aus.
Mein drittes Auge ging auf, und in den blinkenden Sonnenstrahlen auf dem Geländer sah ich mich in einer von Sophies überschwänglichen Umarmungen gefangen.
»Nein«, sagte ich überrascht und tröstete mich mit meiner Vision.
Sophie nickte, als hätte auch sie kurz in die Zukunft geblickt. »Siehst du, ich habe es dir doch gesagt. Vielleicht wird das Baby schon da sein, wenn du zurückkommst. Vergiss nicht, du wirst ihre Patin.«
Während sich Sophie und Nathaniel von allen verabschiedeten, hatten Matthew und Miriam sämtliche Kürbisse entlang der Zufahrt aufgebaut. Mit einer Drehung des Handgelenks und ein paar gemurmelten Worten brachte Sarah sie zum Leuchten. Es würde erst in ein paar Stunden dunkel werden, aber so konnte Sophie wenigstens einen Eindruck davon mitnehmen, wie sie in der Halloweennacht aussehen würden. Sie klatschte in die Hände und hüpfte dann die Stufen hinab, um sich erst Matthew und danach Miriam in die Arme zu werfen. Ihre letzte Umarmung war Marcus vorbehalten, der ihr ein paar leise Worte zumurmelte, bevor er sie auf dem tiefen Beifahrersitz Platz nehmen ließ.
»Danke für das Auto«, sagte Sophie und strich bewundernd über das Wurzelholz des Armaturenbretts. »Früher ist Nathaniel wie ein Irrer gefahren, aber inzwischen fährt er wegen des Babys nur noch wie eine alte Frau.«
»Fahrt vorsichtig!«, ermahnte Matthew die beiden fest und väterlich. »Und ruft uns an, wenn ihr zu Hause angekommen seid.«
Wir winkten ihnen nach. Sobald sie außer Sichtweite waren, löschte Sarah das Licht in den Kürbissen wieder. Während der Rest der Familie ins Haus zurücktrottete, schloss Matthew mich in die Arme.
»Ich wär dann so weit, Diana.« Hamish war auf die Veranda getreten. Er hatte schon die Jacke angezogen und alles für seine Abreise nach New York vorbereitet, von wo aus er nach London zurückkehren würde.
Ich unterschrieb die beiden Kopien des Testaments, und Em und Sarah unterzeichneten als Zeugen. Eine Kopie rollte Hamish zusammen und schob sie in einen Metallzylinder. Dann fädelte er eine schwarz-silberne Kordel durch die beiden Enden der Röhre und verschloss sie durch ein Wachssiegel mit Matthews Wappen.
Matthew wartete neben dem schwarzen Mietwagen, bis sich Hamish erst höflich von Miriam verabschiedet und dann Em und Sarah einen Abschiedskuss gegeben hatte, nicht ohne sie einzuladen, auf dem Weg nach Sept-Tours bei ihm Station zu machen.
»Rufen Sie mich an, falls Sie irgendwas brauchen sollten«, erklärte er Sarah, nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Sie haben meine Telefonnummer.« Dann wandte er sich an mich.
»Adieu, Hamish.« Ich erwiderte seine Küsse erst auf die linke, dann auf die rechte Wange. »Danke für alles, was Sie getan haben, um Matthew zu beruhigen.«
»Das ist mein Job.« Hamishs fröhliche Antwort klang gezwungen. Dann senkte er die Stimme. »Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Sie werden nicht um Hilfe rufen können, falls es nötig sein sollte.«
»Es wird nicht nötig sein«, versicherte ich ihm.
Ein paar Minuten später brummte der Motor des Wagens auf, dann war auch Hamish abgefahren, und wir sahen nur noch die roten Hecklampen durch die Dämmerung leuchten.
Dem Haus gefiel die plötzliche Leere in seinem Innern gar nicht, und es begann die Möbel herumzuschubsen und leise zu stöhnen, sobald jemand einen Raum betrat oder verließ.
»Sie werden mir fehlen«, gestand Em beim Essenmachen. Das Haus knarrte mitfühlend.
»Geh schon«, sagte Sarah zu mir und nahm Em das Messer aus der Hand. »Bring Matthew nach Sept-Tours und wieder her, während wir den Salat anrichten.«
Nach längerer Diskussion hatten wir beschlossen, zu dem Abend zurückzuwandern, an dem ich seine Ausgabe von Darwins Ursprung gefunden hatte.
Aber Matthew nach Sept-Tours zu transportieren war anspruchsvoller, als ich erwartet hatte. In beiden Armen hielt ich Dinge, die mir helfen sollten, den Weg zu finden – einer seiner Stifte und zwei Bücher aus seinem Arbeitszimmer –, sodass sich Matthew an meiner Taille festhalten musste. Und dann hingen wir fest.
Unsichtbare Hände schienen meinen Fuß in der Luft zu halten und zu verhindern, dass ich ihn in Sept-Tours absetzte. Je weiter wir in die Vergangenheit zurückreisten, desto dicker wurden die Stränge rund um meine Füße. Und die Zeit zerrte in knorrigen, gewundenen Ranken an Matthew.
Schließlich schafften wir es in Matthews Arbeitszimmer. Der Raum sah genauso aus, wie wir ihn verlassen hatten, im Kamin brannte ein Feuer, und auf dem Tisch wartete eine ungeöffnete Flasche Wein.
Vor Erschöpfung zitternd ließ ich die Bücher und den Stift auf das Sofa fallen.
»Was ist denn los?«, fragte Matthew.
»Es war, als würden immer mehr Schichten von Vergangenheit aufeinanderstoßen, bis es fast unmöglich war, sie zu durchdringen. Ich hatte Angst, dass du mich loslassen könntest.«
»Für mich war es nicht anders als sonst«, sagte Matthew. »Es hat ein bisschen länger gedauert, aber das habe ich bei diesem zeitlichen und räumlichen Abstand erwartet.«
Er schenkte uns beiden Wein ein, dann besprachen wir, ob wir nach unten gehen sollten oder nicht. Schließlich siegte unser Bedürfnis, Ysabeau und Marthe wiederzusehen. Matthew fiel noch ein, dass ich meinen blauen Pullover getragen hatte. Weil der hohe Kragen meinen Verband überdecken würde, ging ich nach oben, um mich umzuziehen.
Als ich wieder herunterkam, breitete sich ein genüssliches, wohlwollendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Genauso schön wie damals«, sagte er und gab mir einen innigen Kuss. »Vielleicht noch schöner.«
»Nimm dich in Acht«, warnte ich ihn lachend. »Damals war dir noch nicht klar, dass du mich liebst.«
»O doch, das war mir durchaus klar«, sagte er und küsste mich wieder. »Ich hatte es dir nur noch nicht verraten.«
Die Frauen saßen genau dort, wo wir sie erwarteten, Marthe mit einem Krimi, Ysabeau mit ihrer Zeitung. Das Gespräch lief vielleicht ein bisschen anders ab als damals, aber das schien nichts auszumachen. Die meisten Schwierigkeiten hatte ich damit, Matthew mit seiner Mutter tanzen zu sehen. Die bittersüße Miene, als er sie in seinen Armen drehte, war neu, und beim ersten Mal hatte er sie eindeutig nicht in einer bärigen Umarmung an seine Brust gedrückt, als der Tanz zu Ende ging. Als er mich auf die Tanzfläche zog, drückte ich mitfühlend seine Hand.
»Danke dafür«, flüsterte er mir ins Ohr und ließ mich eine Pirouette drehen. Dann setzte er einen weichen Kuss auf meinen Hals. Das war beim ersten Mal ganz gewiss nicht passiert.
Genau wie damals beendete Matthew den Abend damit, dass er verkündete, er würde mich ins Bett bringen. Als wir den beiden diesmal gute Nacht wünschten, wussten wir, dass es ein Abschied war. Unsere Rückreise verlief ähnlich wie die Hinreise, wirkte aber weniger beängstigend, weil wir schon mit den Umständen vertraut waren. Ich bekam kein Herzklopfen mehr und drohte auch nicht die Orientierung zu verlieren, als sich die Zeit unserem Weg entgegenstemmte, sondern konzentrierte mich ausschließlich auf die vertrauten Rituale der Essenszubereitung im Haus der Bishops. Als wir zurückkamen, blieb noch reichlich Zeit, um den Salat anzumachen.
Beim Essen beglückten Sarah und Em die Vampire mit Anekdoten aus meiner Jugendzeit. Als meinen Tanten die Geschichten ausgingen, zog Matthew Marcus mit seinen katastrophalen Immobilienspekulationen im neunzehnten Jahrhundert auf, mit den enormen Summen, die er im zwanzigsten Jahrhundert in neue, nie zur Reife gelangte Technologien investiert hatte, und mit seiner unverbesserlichen Schwäche für rothaarige Frauen.
»Du warst mir vom ersten Moment an sympathisch.« Sarah strich sich über den wirren roten Schopf und schenkte ihm Whisky nach.
Der Morgen an Halloween war hell und klar. In diesem bewaldeten Winkel konnte es jederzeit schneien, aber zumindest sah es dieses Jahr nicht danach aus. Matthew und Marcus gingen länger spazieren als sonst, und ich blieb mit Sarah und Em bei Kaffee und Tee sitzen.
Als das Telefon klingelte, schreckten wir alle auf. Sarah ging an den Apparat, und aus dem, was sie sagte, hörten wir heraus, dass sie nicht mit diesem Anruf gerechnet hatte.
Schließlich legte sie auf und kam an den Tisch im Familienzimmer zurück, der inzwischen wieder groß genug für uns alle war. »Das war Faye. Sie ist mit Janet bei den Hunters. In ihrem Wohnmobil. Sie wollen wissen, ob wir sie auf ihrer Herbstreise begleiten möchten. Sie fahren erst nach Arizona, dann nach Seattle.«
»Die Göttin hatte einfach viel zu tun in letzter Zeit«, sagte Em lächelnd. Tagelang hatten die beiden ergebnislos daran getüftelt, wie sie sich aus Madison verziehen konnten, ohne damit eine Gerüchtelawine loszutreten. »Ich vermute, damit ist die Sache klar. Wir fahren mit und reisen danach weiter zu Ysabeau.«
Wir luden Tüten mit Essen und anderen Vorräten in Sarahs verbeulten alten Wagen. Als er so voll war, dass man im Rückspiegel fast nichts mehr sah, begannen sie uns Befehle zu erteilen.
»Das Zuckerzeug steht auf der Anrichte«, wies Em mich an. »Und mein Kostüm hängt hinten an der Tür zur Rezeptur. Es passt dir bestimmt. Vergiss die Strümpfe nicht. Die Kinder lieben die Strümpfe.«
»Ich vergesse sie bestimmt nicht«, versicherte ich ihr. »Und auch nicht den Hut, obwohl der absolut lächerlich aussieht.«
»Natürlich setzt du den Hut auf!«, entrüstete sich Sarah. »Das ist Tradition. Überzeugt euch, dass das Feuer aus ist, bevor ihr verschwindet. Tabitha braucht um Punkt vier ihr Essen. Wenn sie nichts bekommt, fängt sie an zu spucken.«
»Wir haben alles unter Kontrolle. Du hast deine Liste dagelassen«, sagte ich und klopfte ihr auf die Schulter.
»Kannst du bei den Hunters anrufen und uns Bescheid sagen, wenn Miriam und Marcus abgefahren sind?«, fragte Em.
»Hier. Nimm das.« Matthew reichte ihnen mit einem schiefem Grinsen sein Handy. »Ruft Marcus selbst an. Wo wir hingehen, gibt es sowieso keinen Empfang.«
»Bist du sicher?«, fragte Em zweifelnd. Für uns alle war Matthews Handy so etwas wie ein zusätzliches Körperteil, und es war eigenartig, ihn ohne zu sehen.
»Absolut. Die meisten Daten habe ich gelöscht, aber ich habe ein paar Kontaktnummern für euch draufgelassen. Setzt euch mit Ysabeau oder Hamish in Verbindung, sobald ihr euch Sorgen macht oder etwas schrägläuft. Sie werden euch abholen lassen, ganz gleich, wo ihr auch seid.«
»Sie haben Hubschrauber«, murmelte ich Em zu und hakte mich bei ihr ein.
Marcus’ Handy läutete. »Nathaniel«, sagte er nach einem Blick aufs Display. Dann trat er in einer Geste, die ich nur zu gut von seinem Vater kannte, einen Schritt zurück, bevor er den Anruf annahm.
Matthew beobachtete seinen Sohn mit einem wehmütigen Lächeln. »Die beiden werden sich allen möglichen Ärger aufhalsen, aber wenigstens wird sich Marcus nicht so allein fühlen.«
»Es geht ihnen gut.« Marcus hatte sich uns wieder zugewandt und trennte die Verbindung. In einer weiteren Geste, die mich an Matthew erinnerte, fuhr er sich lächelnd mit den Händen durchs Haar. »Ich sollte mich jetzt verabschieden.«
Em hielt Marcus lange in den Armen, und ihre Augen wurden feucht dabei. »Ruf uns auch an«, befahl sie ihm streng. »Wir wollen wissen, ob ihr beide wohlauf seid.«
»Passt gut auf euch auf.« Sarah kniff die Augen zusammen und drückte ihn an ihre Brust. »Und zweifelt nicht an euch.«
Miriam gab sich beim Abschied ganz gefasst, ich hingegen ganz und gar nicht.
»Wir sind so stolz auf dich«, sagte Em, nahm mein Gesicht in beide Hände und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Deine Eltern wären es auch. Gebt aufeinander Acht.«
»Das werden wir«, versicherte ich ihr und wischte mir die Tränen weg.
Sarah ergriff meine Hände. »Hör auf deine Lehrer – wer sie auch sein werden. Sag nie nein, bevor du sie angehört hast.« Ich nickte. »Du besitzt von Natur aus mehr Fähigkeiten als jede Hexe, die mir bisher begegnet ist – vielleicht mehr als jede Hexe seit vielen, vielen Jahren«, fuhr Sarah fort. »Ich bin froh, dass du sie nicht vergeudest. Die Magie ist ein Geschenk, Diana, genau wie die Liebe.« Sie wandte sich an Matthew. »Ich vertraue dir etwas sehr, sehr Kostbares an. Enttäusch mich nicht.«
»Bestimmt nicht, Sarah«, versprach Matthew.
Sie nahm unsere Küsse entgegen und stürmte dann die Stufen hinab zu dem wartenden Wagen.
»Sarah gehen solche Abschiede immer zu Herzen«, erklärte Em. »Wir sprechen uns morgen, Marcus.« Sie setzte sich auf den Fahrersitz und winkte uns über die Schulter hinweg zu. Der Wagen sprang stotternd an, rumpelte dann über die Schlaglöcher in der Zufahrt und bog schließlich ab in Richtung Ort.
Als wir ins Haus zurückkamen, erwarteten Miriam und Marcus uns mit ihren Reisetaschen im Flur.
»Wir fanden, ihr beide solltet noch etwas Zeit für euch haben«, sagte Miriam und reichte Marcus ihre Reisetasche. »Außerdem hasse ich lange Abschiede.« Sie sah sich um. »Na schön«, erklärte sie dann geschäftig und eilte die Verandastufen hinunter. »Wir sehen uns, wenn ihr zurückkommt.«
Matthew sah Miriam kopfschüttelnd nach, verschwand dann ins Esszimmer und kehrte mit einem Umschlag zurück. »Nimm den«, sagte er barsch zu Marcus.
»Ich wollte nie Großmeister werden«, sagte Marcus.
»Glaubst du, ich wollte das? Das war damals der Traum meines Vaters. Philippe hat mir damals das Versprechen abgenommen, dass ich die Bruderschaft nicht in Baldwins Hände legen würde. Ich bitte dich um dasselbe.«
»Ich verspreche es dir.« Marcus nahm den Umschlag entgegen. »Dennoch wünschte ich, ihr müsstet nicht fort.«
»Es tut mir leid, Marcus.« Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter und legte die warmen Finger auf sein kaltes Fleisch.
»Was?« Er schenkte mir ein strahlendes und aufrichtiges Lächeln. »Dass du meinen Vater glücklich gemacht hast?«
»Dass ich dich in diese Lage gebracht und ein solches Chaos hinterlassen habe.«
»Ich fürchte mich nicht vor dem Krieg, falls du das meinst. Dass ich in Matthews Fußstapfen treten soll, macht mir viel mehr Sorgen.« Marcus brach das Siegel. Mit diesem täuschend belanglosen Knacken wurde er zum Großmeister der Lazarusritter.
»Je suis à votre commande, seigneur«, murmelte Matthew und neigte den Kopf. Baldwin hatte auf dem Flughafen La Guardia die gleichen Worte gesagt. Aber sie klangen ganz anders, wenn sie aufrichtig gemeint waren.
»Dann befehle ich dir, in dein Amt zurückzukehren und die Lazarusritter wieder zu übernehmen«, sagte Marcus mit rauer Stimme, »bevor ich den Karren völlig in den Dreck fahre. Ich bin kein Franzose, und ich bin ganz bestimmt kein Ritter.«
»Du hast mehr als nur einen Tropfen französisches Blut in dir, und du bist der Einzige, dem ich diese Aufgabe zutraue. Außerdem kannst du dich auf deinen berühmten amerikanischen Charme verlassen. Und möglicherweise gefällt es dir irgendwann sogar ganz gut, Großmeister zu sein.«
Marcus schnaubte und drückte auf seinem Handy die Acht. »Es ist vollbracht«, sagte er kurz in den Hörer. Beide wechselten ein paar Worte.« Danke.«
»Nathaniel hat seine Position angenommen«, murmelte Matthew, und ich sah seine Mundwinkel zucken. »Sein Französisch ist überraschend gut.«
Marcus blickte seinen Vater finster an, trat ein paar Schritte beiseite, um ungestört mit dem Dämon zu sprechen, und kam danach zu uns zurück.
Vater und Sohn tauschten einen langen Blick aus, eine Hand fasste einen Ellbogen, eine andere Hand legte sich auf den Rücken – ein Muster des Abschieds, das sich aus Hunderten ähnlicher Abschiede herausgebildet hatte. Für mich gab es einen hingehauchten Kuss, ein gemurmeltes »Mach’s gut«, und dann war auch Marcus weg.
Ich griff nach Matthews Hand.
Wir waren allein.