18

Hoheitsvoll und eisig stand Ysabeau in der Tür ihres riesigen Châteaus und sah mit bohrendem Blick ihrem Vampirsohn entgegen, der neben mir die Treppe erklomm.

Matthew beugte sich gute dreißig Zentimeter nach unten, um sie sacht auf beide Wangen zu küssen. »Sollen wir hineinkommen, oder willst du uns lieber hier draußen empfangen?«

Seine Mutter trat beiseite, um uns vorbeizulassen. Ich spürte ihren wutentbrannten Blick und roch etwas, das mich an Sarsaparilla-Soda und Karamell erinnerte. Der kurze, düstere Gang, den wir durchschritten, war nicht allzu einladend mit Hellebarden geschmückt, die genau auf den Kopf des Besuchers zielten. Dahinter gelangten wir in einen Raum mit hoher Decke und Wandgemälden, der eindeutig von einem fantasievollen Künstler des neunzehnten Jahrhunderts ausgemalt worden war, um an ein Mittelalter zu erinnern, das es so nie gegeben hatte. Löwen, Lilien, Muscheln und eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss, zierten die weißen Wände. Am anderen Ende stieg eine Wendeltreppe in einen der Türme auf.

Drinnen traf mich Ysabeaus Blick in seiner ganzen Wucht. Matthews Mutter strahlte jene furchteinflößende Eleganz aus, die den Französinnen anscheinend angeboren ist. Genau wie ihr Sohn  – der irritierenderweise etwas älter aussah als sie  – beschränkte sie sich bei ihrer Kleidung auf monochrome Farbtöne, die sie nicht ganz so gespenstisch bleich aussehen ließen. Ysabeaus bevorzugte Farben lagen zwischen hellem Creme und weichem Braun. Jeder Zentimeter ihrer Garderobe wirkte schlicht und teuer, von den Spitzen der weichen, sandbraunen Lederschuhe aufwärts bis zu den Topasen, die ihre Ohren zierten. Splitter von verblüffend kaltem Smaragd umgaben die dunklen Pupillen, und die hoch angesetzten schrägen Wangenknochen verliehen ihrem ansonsten makellosen Antlitz mit der blendend weißen Haut etwas Eigenes. Ihr Haar hatte die Farbe und Textur von Honig und lag wie ein goldenes Seidenknäuel in einem schweren, tief angesetzten Knoten in ihrem Nacken.

»Das war ausgesprochen unüberlegt, Matthew.« Ihr Akzent ließ seinen Namen weicher, altertümlicher klingen. Wie alle Vampire hatte sie eine verführerische, melodische Stimme. In Ysabeaus Fall klang sie tief und rein wie fernes Glockengeläut.

»Angst, dass man über uns reden könnte, Maman? Ich dachte, du wärest stolz darauf, eine Radikale zu sein.« Matthew klang gleichzeitig nachsichtig und ungeduldig. Er warf die Schlüssel auf einen nahen Tisch. Sie schlitterten über die blank polierte Fläche und landeten klirrend am Fuß einer chinesischen Porzellanschale.

»Ich war nie eine Radikale!« Ysabeau klang schockiert. »Veränderungen werden eindeutig überschätzt.«

Sie drehte sich um und musterte mich von Kopf bis Fuß. Ihr perfekt geformter Mund wurde zum Strich.

Was sie sah, gefiel ihr gar nicht  – und das war kein Wunder. Ich versuchte mich mit ihren Augen zu sehen  – das sandhelle Haar, das weder besonders dicht noch anschmiegsam aussah, die Sommersprossen von den vielen Stunden im Freien, die Nase, die viel zu weit aus dem restlichen Gesicht vorragte. Meine Augen waren mein größter Pluspunkt, aber mein mangelndes Modegespür konnten sie wohl kaum wettmachen. Neben ihrer eleganten Erscheinung und dem stets makellosen Matthew kam ich mir vor wie eine linkische Landmaus  – und sah wohl auch so aus. Ich zupfte mit der freien Hand am Saum meiner Jacke, erleichtert, dass meine Fingerspitzen ausnahmsweise nicht elektrisch leuchteten, und hoffte gleichzeitig, dass das phantomhafte »Schimmern«, das Matthew erwähnt hatte, ebenfalls verschwunden war.

»Maman, das ist Diana Bishop. Diana, meine Mutter. Ysabeau de Clermont.« Die Silben rollten von seiner Zunge.

Ysabeaus Nasenflügel bebten empfindlich. »Ich mag es nicht, wie Hexen riechen.« Ihr Englisch war makellos, ihr eiskalter Blick lag fest auf mir. »Sie riecht süß und widerlich grün. Wie der Frühling.«

Matthew reagierte mit einer mir unverständlichen Tirade, die sich anhörte wie eine Kreuzung aus Französisch, Spanisch und Latein. Er wurde nicht laut, aber der Groll in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Ça suffit«, gab Ysabeau in gut verständlichem Französisch zurück und zog dabei die Hand über ihre Kehle. Ich schluckte schwer und griff automatisch an meinen Jackenkragen.

»Diana.« Ysabeau sprach den Namen mit französischem i und Betonung auf der ersten statt auf der zweiten Silbe aus. Dann streckte sie mir eine weiße, kalte Hand hin, und ich ergriff ihre Finger. Matthew nahm meine linke Hand in seine, und für einen kurzen Moment bildeten wir eine merkwürdige Kette aus zwei Vampiren und einer Hexe. »Encantada.«

»Sie freut sich, dich kennenzulernen«, übersetzte Matthew für mich und warf seiner Mutter einen warnenden Blick zu.

»Ja, ja«, sagte Ysabeau ungeduldig und wandte sich wieder ihrem Sohn zu. »Natürlich spricht sie nur Englisch und modernes Französisch. Die heutigen Warmblüter genießen eine so schrecklich schlechte Erziehung.«

Eine stämmige alte Frau mit schneeweißer Haut und massigem, viel zu schwarzem Haar, das in kleinen Zöpfen um ihren Kopf geschlungen war, trat mit ausgebreiteten Armen in die Eingangshalle. »Matthew!«, rief sie aus. »Cossi anatz?«

»Va plan, mercés. E tu?« Matthew schloss sie in die Arme und küsste sie auf beide Wangen.

»Aital, aital«, erwiderte sie und umfasste grimassierend ihren Ellbogen.

Matthew murmelte etwas Mitfühlendes, und Ysabeau flehte still die Decke an, sie von diesem emotionalen Spektakel zu erlösen.

»Marthe, das ist meine Freundin Diana«, sagte er und zog mich nach vorn.

Marthe war ebenfalls ein Vampir, und einer der ältesten, die ich je gesehen hatte. Offenbar war sie schon über sechzig gewesen, als sie wiedergeboren wurde, und obwohl ihr Haar so dunkel war, war ihr das Alter deutlich anzusehen. Falten zogen sich kreuz und quer über ihr Gesicht, und ihre Handgelenke waren so knotig, dass man den Eindruck hatte, nicht einmal Vampirblut könne sie geradeziehen.

»Willkommen, Diana«, sagte sie mit einer Stimme wie Sand und Sirup und sah mir dabei tief in die Augen. Sie nickte Matthew zu und fasste nach meiner Hand. Ihre Nasenflügel bebten. »Elle est une puissante sorcière«, meinte sie dann anerkennend zu Matthew.

»Sie sagt, du seist eine mächtige Hexe«, übersetzte Matthew. Dank seiner Nähe war es mir nicht ganz so unangenehm, von einem Vampir beschnuppert zu werden.

Nachdem ich keine Ahnung hatte, was man auf Französisch am besten auf einen derartigen Kommentar entgegnete, lächelte ich Marthe nur zaghaft an und hoffte, dass das genügte.

»Du bist erschöpft«, sagte Matthew und ließ seinen Blick über mein Gesicht zucken. Dann begann er in atemberaubender Geschwindigkeit die beiden Vampirinnen in der mir unbekannten Sprache zu befragen. Seine Fragen führten zu ausgiebigem Fingerzeigen, Augenverdrehen, zu mitleidigen Gesten und Seufzern. Ysabeau sagte etwas über eine Louisa, und Matthew sah seine Mutter mit neu entfachtem Zorn an. Als er ihr antwortete, klang seine Stimme flach und ruppig.

Ysabeau zuckte mit den Achseln. »Natürlich, Matthew«, murmelte sie sichtlich scheinheilig.

»Wir zeigen dir jetzt dein Zimmer.« Sobald Matthew mich ansprach, wurde seine Stimme wieder warm.

»Ich bringe euch Wein und Essen«, versprach Marthe in stockendem Englisch.

»Danke«, sagte ich. »Und danke, Ysabeau, dass Sie mich aufnehmen.« Sie schniefte und bleckte die Zähne. Ich hoffte, dass das ein Lächeln sein sollte, fürchtete aber, dass es keines war.

»Und Wasser, Marthe«, ergänzte Matthew. »Ach ja, und heute Vormittag wird noch Essen gebracht.«

»Etwas ist schon geliefert worden«, bemerkte seine Mutter schnippisch. »Blätter. Säcke mit Gemüse und Eiern. Es war keine gute Idee von dir, es extra anliefern zu lassen.«

»Diana muss essen, Maman. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr nicht allzu viel im Haus habt.«

Matthews Geduldsfaden war nach den Ereignissen vom Vorabend und diesem lauwarmen Empfang spürbar ausgefranst.

»Ich brauche Blut, trotzdem erwarte ich nicht von Victoire und Alain, dass sie es mitten in der Nacht aus Paris holen.« Ysabeau sah ungemein selbstzufrieden aus, während mir die Knie weich wurden.

Matthew atmete scharf aus und schob die Hand unter meinen Ellbogen, um mich zu stützen. »Marthe«, bat er, Ysabeau geflissentlich ignorierend, »kannst du Eier und Toast und etwas Tee für Diana nach oben bringen?«

Marthe sah erst Ysabeau und dann Matthew an, als wäre sie Schiedsrichterin in Wimbledon. Dann lachte sie keckernd. »Òc«, erwiderte sie und nickte fröhlich.

»Wir sehen euch beide zum Abendessen«, erklärte Matthew ruhig. Ich spürte vier eisige Flecken zwischen den Schulterblättern, als uns die Frauen nachsahen. Marthe sagte etwas zu Ysabeau, das sie schnauben ließ und Matthew ein breites Lächeln ins Gesicht zauberte.

»Was hat Marthe gesagt?«, flüsterte ich und dachte zu spät daran, dass in diesem Haus praktisch jeder alles hören würde, ob ich nun flüsterte oder nicht.

»Sie sagte, dass wir gut aussehen zusammen.«

»Ich möchte nicht, dass Ysabeau die ganze Zeit, die wir hier sind, wütend auf mich ist.«

»Beachte sie gar nicht«, meinte er heiter. »Hunde, die bellen, beißen nur selten.«

Wir traten durch eine Tür und in einen langen Raum, in dem es von Stühlen und Tischen aus den verschiedensten Stilen und Epochen nur so wimmelte. Auf einem Bild über einem der beiden offenen Kamine maßen sich zwei Ritter in glänzender Rüstung im Turnier und kreuzten dabei elegant die Lanzen, ohne auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen. Das Fresko war eindeutig von demselben blauäugigen Ritter-Romantiker gemalt worden, der auch die Eingangshalle verschönert hatte. Eine Doppeltür führte in einen weiteren, nicht weniger vollgestellten Raum, dessen Wände mit Regalen bedeckt waren.

»Ist das eine Bibliothek?« Und schon hatte ich Ysabeaus feindseligen Empfang vergessen. »Kann ich deine Ausgabe der Aurora Consurgens sehen?«

»Später«, beschied mir Matthew mit fester Stimme. »Erst wirst du etwas essen und dann schlafen.«

Er führte mich zu einer weiteren Wendeltreppe, wobei er sich mit der Leichtigkeit langjähriger Erfahrung durch das Labyrinth uralter Möbel schlängelte. Ich folgte ihm deutlich zaghafter, vor allem nachdem ich mit dem Schenkel eine Kommode mit geschwungener Front gestreift und dadurch eine Porzellanvase ins Schwanken gebracht hatte. Als wir endlich am Fuß der Treppe angekommen waren, blieb Matthew stehen.

»Es sind viele Stufen, und du bist müde. Soll ich dich tragen?«

»Auf keinen Fall«, entgegnete ich entrüstet. »Du wirst mich bestimmt nicht über die Schulter werfen wie ein mittelalterlicher Raubritter, der seine Kriegsbeute nach Hause schleppt.«

Matthew presste die Lippen zusammen, und seine Augen funkelten.

»Wage es nicht, mich auszulachen.«

Natürlich tat er es doch, und sein Lachen hallte von den Steinmauern wider, als hätte sich ein ganzes Rudel von Vampiren im Treppenturm versteckt. Wohin, wenn nicht hierher, hatten früher Ritter ihre Frauen geschleppt? Trotzdem hatte ich nicht vor, zu ihnen zu zählen.

Auf dem fünfzehnten Treppenabsatz bekam ich Seitenstechen. Die ausgetretenen Steinstufen waren nicht für menschliche Füße und Beine geschaffen  – sie waren eindeutig für Vampire wie Matthew entworfen worden, die entweder knapp zwei Meter groß oder extrem behände oder beides waren. Ich biss die Zähne zusammen und kletterte weiter. Nach einer letzten Drehung öffnete sich unerwartet ein Raum.

»Oh.« Automatisch nahm ich die Hand vor den Mund.

Man brauchte mir nicht zu erklären, wessen Zimmer das war. Es war Matthews, durch und durch.

Wir befanden uns im eleganten Rundturm des Châteaus  – der hinter dem massigen Hauptgebäude aufragte und als letzter Turm noch ein glattes, konisches Kupferdach besaß. Hohe, schmale Fenster durchbrachen die Mauern, und ihre Bleiglasscheiben ließen in schmalen Schlitzen das Licht und die Herbstfarben der Felder und Wälder draußen herein.

Der Raum war rund, doch hier und da glätteten hohe Regale die Rundung zu geraden Linien. In die Wand, die an das Hauptgebäude des Châteaus grenzte, war ein großer Kamin eingelassen. Dieser Kamin war auf wundersame Weise der Verschönerung durch den romantischen Freskenmaler entkommen. Es gab Sessel und Sofas, Tische und Sitzkissen, größtenteils in Grün-, Braun- und Goldtönen. Trotz seiner Größe und der vielen grauen Steinmauern wirkte der Raum gemütlich und warm.

Die faszinierendsten Objekte im Raum waren jene, die Matthew aus seinen vielen verschiedenen Leben behalten hatte. Auf einem Regalbord lehnte neben einer Muschel ein Gemälde von Vermeer. Es war mir unbekannt  – keines der wenigen bekannten Bilder dieses Künstlers. Der Porträtierte sah Matthew verdächtig ähnlich. Über dem Kamin hing ein Breitschwert, das so lang und schwer war, dass niemand außer einem Vampir es geführt haben konnte, und in einer Ecke wartete eine Matthew-große Rüstung. Gegenüber hing an einem Holzgestell ein alt aussehendes menschliches Skelett, dessen einzelne Knochen anscheinend mit etwas wie Klaviersaiten zusammengeknotet waren. Auf dem Tisch daneben standen zwei Mikroskope, die, wenn ich mich nicht sehr irrte, im siebzehnten Jahrhundert hergestellt worden waren. In einer Nische hing neben einer atemberaubend schönen, aus Elfenbein geschnitzten Jungfrau Maria ein kunstvolles, mit großen roten, grünen und blauen Steinen besetztes Kruzifix.

Matthews Schneeflocken trieben über mein Gesicht, während er beobachtete, wie ich seine weltlichen Güter in Augenschein nahm.

»Das ist ein Matthew-Museum«, stellte ich leise fest, denn ich wusste, dass jedes Objekt eine Geschichte erzählte.

»Es ist nur mein Arbeitszimmer.«

»Woher hast du …« Ich deutete auf die Mikroskope.

»Später«, sagte er wieder. »Dir fehlen noch die letzten dreißig Stufen.«

Matthew führte mich ans andere Ende des Raumes zu einer zweiten Treppe. Auch diese schraubte sich dem Himmel entgegen. Dreißig flache Stufen später stand ich am Eingang zu einem weiteren Raum, der von einem riesigen Himmelbett aus Walnussholz, mit Baldachin und schweren Vorhängen, beherrscht wurde. Hoch darüber waren die Sparren und Balken zu sehen, die das Kupferdach hielten. Gegen eine Wand war ein Tisch gerückt worden, in eine andere ein Kamin eingelassen, vor dem ein paar bequeme Sessel aufgestellt worden waren. Gegenüber war hinter einer halb offenen Tür eine enorme Badewanne zu sehen.

»Ein richtiges Falkennest«, stellte ich fest und spähte aus dem Fenster. Matthew hatte die Landschaft seit dem Mittelalter aus diesen Fenstern betrachtet. Kurz fragte ich mich, wie viele Frauen er wohl schon hierhergebracht hatte. Die erste war ich mit Sicherheit nicht, trotzdem glaubte ich nicht, dass es viele gewesen waren. Das Château strahlte etwas höchst Privates aus.

Matthew stellte sich hinter mich und sah mir über die Schulter. »Gefällt es dir?« Sein Atem strich leicht über mein Ohr. Ich nickte.

»Wie lange?« Ich musste das einfach fragen.

»In diesem Turm?«, fragte er. »Etwa siebenhundert Jahre.«

»Und das Dorf? Weiß man dort über dich Bescheid?«

»Ja. Wie ihr Hexen leben auch Vampire sicherer, wenn sie zu einer Gemeinschaft gehören, in der man über sie Bescheid weiß und darum nicht allzu viele Fragen stellt.«

Generationen von Bishops hatten in Madison gelebt, ohne dass jemand viel Aufhebens darum gemacht hätte. Genau wie Peter Knox versteckten wir uns in aller Öffentlichkeit.

»Danke, dass du mich nach Sept-Tours gebracht hast«, sagte ich. »Hier fühle ich mich sicherer als in Oxford.« Trotz Ysabeau.

»Danke, dass du dich meiner Mutter gestellt hast.« Matthew lachte leise, als hätte er meinen unausgesprochenen Nachsatz gehört. Ein unverkennbarer Nelkenduft begleitete das Lachen. »Sie ist überfürsorglich, wie fast alle Eltern.«

»Ich kam mir so blöd vor  – und so schlecht angezogen. Ich habe absolut nichts dabei, was sie gutheißen würde.« Ich biss mir auf die Lippe und zog die Stirn in Falten.

»Meine Mutter hat nicht einmal Coco Chanels Aufzug gutgeheißen. Vielleicht setzt du deine Ziele ein bisschen zu hoch an.«

Ich lachte, drehte mich um und suchte seinen Blick. Als ich ihn gefunden hatte, stockte mir der Atem. Matthews Augen kamen erst auf meinen Augen, dann meinen Wangen und schließlich meinem Mund zu liegen. Seine Hand strich über meine Wange.

»Du bist so lebendig«, sagte er grollend. »Du solltest mit einem viel, viel jüngeren Mann zusammen sein.«

Ich stellte mich auf die Zehen. Er beugte sich vor. Bevor sich unsere Lippen berühren konnten, klapperte ein Tablett auf den Tisch.

»Vos etz arbres e branca«, sang Marthe und sah Matthew verschmitzt an.

Er lachte und sang in seinem klaren Bariton weiter: »On fruitz de gaug s’asazona.«

»Was ist das für eine Sprache?« Ich ließ mich von den Zehenspitzen herunter und folgte Matthew an den Kamin.

»Die alte«, erwiderte Marthe.

»Okzitanisch.« Matthew hob die silberne Haube von dem Teller. Das Aroma eines warmen Frühstücks erfüllte den Raum. »Marthe hat beschlossen, ein Gedicht zu rezitieren, bevor du dich zum Essen hinsetzt.«

Marthe schlug kichernd mit einem Handtuch, das sie von ihrer Taille abgezogen hatte, nach Matthews Handgelenk. Er stellte die Haube auf der Tischplatte ab und setzte sich.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte sie und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. »Setzen Sie sich, essen Sie.« Ich tat wie geheißen. Marthe schenkte Matthew aus einer hohen Karaffe mit silbernem Griff ein Glas Wein ein.

»Mercés«, murmelte er und reckte sofort gespannt die Nase über das Glas.

Eine zweite Karaffe enthielt eiskaltes Wasser, das Marthe in einen weiteren Kelch goss, um ihn mir zu reichen. Außerdem schenkte sie mir eine Tasse Tee ein, den ich sofort als eine Sorte von Mariage Frères aus Paris erkannte. Offenbar hatte Matthew meine Schränke durchforstet, während ich gestern geschlafen hatte, und daraufhin eine exakte Einkaufsliste durchgegeben. Marthe goss, bevor er sie bremsen konnte, Sahne in meinen Tee, und ich warf ihm einen warnenden Blick zu. Im Moment konnte ich jeden Verbündeten brauchen. Außerdem war ich zu durstig, als dass es mir wichtig gewesen wäre. Er lehnte sich gehorsam in seinem Sessel zurück und nippte an seinem Wein.

Marthe zog noch mehr von ihrem Tablett  – einen silbernen Unterteller, Salz, Pfeffer, Butter, Marmelade, Toast und ein goldenes, mit frischen Kräutern gesprenkeltes Omelett.

»Merci, Marthe«, sagte ich aufrichtig dankbar.

»Essen!«, befahl sie und zielte diesmal mit ihrem Handtuch auf mich.

Zufrieden beobachtete Marthe, wie ich die ersten Gabeln in mich hineinschaufelte. Dann hob sie schnuppernd die Nase, runzelte die Stirn und rügte Matthew mit einem barschen Ausruf, um anschließend an den Kamin zu treten. Ein Zündholz flammte auf, und das trockene Holz begann zu knistern.

»Marthe«, protestierte Matthew und stand mit seinem Weinglas auf. »Das kann ich doch machen.«

»Sie friert«, grummelte Marthe, sichtlich entrüstet, dass er das nicht registriert hatte, bevor er sich hingesetzt hatte. »Und du bist durstig. Ich mache das Feuer.«

Wenige Minuten später loderten die Flammen und nahmen der Luft die Kälte. Marthe klopfte sich die Hände ab und stand auf. »Sie muss schlafen. Ich kann riechen, dass sie sich gefürchtet hat.«

»Sie schläft, wenn sie aufgegessen hat«, sagte Matthew und hob bittend die rechte Hand, woraufhin Marthe ihn lange ansah und ihm dann mit dem Finger drohte, so als wäre er fünfzehn und nicht fünfzehnhundert Jahre alt. Schließlich ließ sie sich von seiner Unschuldsmiene überzeugen. Sie verschwand aus dem Raum und eilte trotz ihrer alten Füße mit sicherem Schritt die halsbrecherische Treppe hinab.

»Okzitanisch war die Sprache der Troubadoure, nicht wahr?«, fragte ich, nachdem Marthe gegangen war. Der Vampir nickte. »Ich wusste gar nicht, dass es so weit im Norden gesprochen wurde.«

»Wir sind nicht weit im Norden«, antwortete Matthew lächelnd. »Früher war Paris nur ein unbedeutendes Nest im Grenzland. Damals sprachen die meisten Menschen Okzitanisch. Die Berge hielten die Nordländer  – und ihre Sprache  – auf Abstand. Noch heute misstrauen die Menschen hier jedem Außenseiter.«

»Und was hat sie da gesungen?«, fragte ich.

»Ihr seid Baum und Ast«, sagte er und richtete den Blick auf den herbstlichen Streifen, der durch das Fenster zu sehen war. »Wo die Frucht der Lust reift.« Matthew schüttelte melancholisch den Kopf. »Marthe wird es den ganzen Nachmittag singen und Ysabeau damit zum Wahnsinn treiben.«

Das Feuer breitete seine Wärme im Zimmer aus und sorgte dafür, dass ich schläfrig wurde. Als die Eier aufgegessen waren, konnte ich kaum noch die Augen offen halten.

Ich gähnte eben aus tiefster Brust, als Matthew mich aus meinem Sessel zog. Er hob mich auf seine Arme, sodass meine Füße in der Luft baumelten. Ich wollte protestieren.

»Es reicht«, sagte er. »Du kannst kaum noch aufrecht sitzen, vom Gehen ganz zu schweigen.«

Vorsichtig setzte er mich am Fußende des Bettes ab und schlug dann die Decke zurück. Die schneeweißen Laken wirkten so frisch und einladend. Ich ließ den Kopf auf den Kissenberg sinken, der an dem kunstvoll geschnitzten Kopfende aufgetürmt war.

»Schlaf.« Matthew packte mit beiden Händen die Bettvorhänge und zog sie zu.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte ich, obwohl ich dabei das nächste Gähnen unterdrücken musste. »Mittagsschlaf ist eigentlich nicht mein Fall.«

»Das sieht mir aber gar nicht so aus«, widersprach er trocken. »Du bist jetzt in Frankreich. Hier wird von dir erwartet, dass du dein Bestes versuchst. Ich bin unten. Wenn du etwas brauchst, dann ruf mich.«

Nachdem nur eine Treppe aus der großen Halle in sein Arbeitszimmer hinauf und von dort aus die nächste Treppe in sein Schlafzimmer führte, konnte niemand in diesen Raum eindringen, ohne an Matthew vorbeizumüssen.

Ich ließ mich in die feste Matratze sinken und spürte, wie meine Körperwärme von den vielen Decken zurückstrahlte. Bald war ich eingeschlafen.

Ich wachte auf, weil ich jemanden umblättern hörte, schoss hoch und versuchte mir zusammenzureimen, wieso mich jemand in eine mit Stoff ausgeschlagene Kiste gesperrt hatte. Dann fiel mir alles wieder ein.

Frankreich. Matthew. Bei ihm zu Hause.

»Matthew?«, rief ich leise.

Er teilte die Vorhänge und sah mich lächelnd an. Hinter ihm brannten Kerzen  – zahllose Kerzen. Zum Teil standen sie in den Wandhaltern ringsum, zum Teil in prachtvollen Kerzenhaltern auf dem Boden oder den Tischen.

»Für jemanden, der keinen Mittagsschlaf hält, hast du ganz schön fest geschlafen«, stellte er zufrieden fest. Was ihn anging, war die Frankreichreise schon jetzt ein voller Erfolg.

»Wie spät ist es?«

»Wenn du nicht aufhörst, mich zu fragen, besorge ich dir noch eine Uhr.« Matthew sah auf seine alte Cartier. »Fast zwei Uhr nachmittags. Wahrscheinlich bringt Marthe gleich frischen Tee. Möchtest du dich vorher duschen und umziehen?«

Beim Gedanken an eine heiße Dusche schlug ich begeistert die Decke zurück. »Auf jeden Fall!«

Matthew wich meinen wirbelnden Gliedmaßen aus und half mir auf den Boden, der tiefer lag, als ich erwartet hatte. Außerdem waren die Steinplatten so kalt, dass sie unter meinen nackten Füßen kitzelten.

»Deine Tasche steht im Bad, der Computer wartet unten im Arbeitszimmer, und es liegen frische Handtücher bereit. Lass dir Zeit.« Er sah mir nach, bis ich im Bad verschwunden war.

»Das ist ja ein Palast!«, rief ich aus. Zwischen zwei Fenstern erhob sich eine riesige, weiße, freistehende Wanne, und auf einer langen Holzbank lag meine abgewetzte Yale-Reisetasche. In der Ecke gegenüber ragte ein Duschkopf aus der Wand.

Ich ließ das Wasser laufen und rechnete damit, ewig warten zu müssen, bis es heiß war. Wundersamerweise umhüllte mich sofort warmer Dampf, und der Honig-Nektarinen-Duft meiner Seife half mir, die Anspannung der letzten vierundzwanzig Stunden abzuwaschen.

Nachdem ich die Knoten aus meinen Muskeln massiert hatte, schlüpfte ich in Jeans und Rollkragenpullover und ein Paar Socken. Weil es keine Steckdose für meinen Föhn gab, beschränkte ich mich darauf, meine Haare mit dem Handtuch trocken zu rubbeln und einen Kamm hindurchzuziehen, bevor ich sie in einem Pferdeschwanz bündelte.

»Marthe hat Tee gebracht«, sagte er, als ich ins Schlafzimmer zurückkam. »Soll ich dir welchen eingießen?«

Ich seufzte genüsslich, als die wärmende Flüssigkeit durch meine Kehle floss. »Wann kann ich die Aurora-Handschrift sehen?«

»Sobald ich sicher bin, dass du dich auf dem Weg in die Bibliothek nicht verläufst. Bist du bereit für die große Führung?«

»Ja, bitte.« Ich streifte ein paar Slipper über meine Socken und lief zurück ins Bad, um einen Pulli zu holen. Während ich hin und her eilte, wartete Matthew geduldig oben an der Treppe.

»Sollen wir die Teekanne mit nach unten nehmen?« Ich kam schlitternd zum Stehen.

»Nein, Marthe würde es mir nie verzeihen, wenn ich einen Gast ans Porzellan ließe. Du solltest mindestens vierundzwanzig Stunden warten, bevor du ihr hilfst.«

Matthew eilte die Treppe hinab, ich tastete mich langsam hinterher, die Finger über die Steinmauern ziehend.

Als wir in seinem Arbeitszimmer angekommen waren, deutete er kurz auf den Computer, der bereits angesteckt auf einem Tisch am Fenster stand, dann gingen wir weiter nach unten in den Salon. Marthe war vor uns dort gewesen und hatte im Kamin ein Feuer gemacht, dessen Holzrauchduft den ganzen Raum durchzog. Ich packte Matthews Arm.

»Die Bibliothek«, sagte ich. »Dort muss die Führung anfangen.«

Die Bibliothek war ein weiterer Raum, der im Lauf der Jahre mit wertvollen Gegenständen und Möbeln gefüllt worden war. Ein italienischer Savonarola-Faltstuhl stand vor einem Sekretär aus der Zeit der Französischen Revolution, während auf einem ausladenden Eichentisch vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts Vitrinen aufgestellt waren, die aussahen wie aus einem viktorianischen Museum gestohlen. Trotz der erratisch zusammengestellten Einrichtung wurde der Raum optisch von zahllosen Metern an ledergebundenen, auf Walnussholzregalen aufgereihten Büchern sowie von einem enormen Aubussonteppich in weichem Gold, Blau und Braun zusammengehalten.

Wie in den meisten alten Bibliotheken waren die Bücher nach Größe geordnet. Es gab schwere ledergebundene Handschriften  – die Titel mit Tinte vorn auf dem Pergament  –, die mit den Rücken zur Wand und den Zierverschlüssen nach vorn aufgestellt waren. In einen Bücherschrank akkurat eingestellt waren winzige Inkunabeln und taschengroße Bücher, die ein Panorama der Geschichte des Druckereiwesens von 1450 bis heute boten. Ich entdeckte eine Reihe seltener moderner Erstausgaben, inklusive einer Komplettausgabe von Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Romanen und T. H. Whites Das Schwert im Stein. In einem Schrank standen ausschließlich riesige Folianten  – botanische Nachschlagewerke, Atlanten, medizinische Fachbücher. Wenn das alles schon im Erdgeschoss stand, was für Schätze mochte dann Matthews Turmarbeitszimmer bergen?

Er wartete ab, während ich den Raum abschritt und nach Luft schnappend einzelne Titel entzifferte. Als ich wieder bei ihm angekommen war, konnte ich nur ungläubig den Kopf schütteln.

»Stell dir vor, was sich alles angesammelt hätte, wenn du über Jahrhunderte hinweg Bücher gekauft hättest«, erklärte Matthew mit einem Achselzucken, das mich an Ysabeau erinnerte. »Da bleibt so manches hängen. Im Lauf der Jahre haben wir das meiste wieder weggegeben. Wir mussten. Andernfalls hätte dieser Raum die Ausmaße der Bibliothèque Nationale.«

»Und wo steht es?«

»Wie ich sehe, bist du jetzt schon mit deiner Geduld am Ende.« Er trat an ein Regal und suchte kurz die Bände ab. Dann zog er ein Büchlein mit schwarz verziertem Umschlag heraus und reichte es mir.

Als ich nach einer samtüberzogenen Buchstütze suchte, in die ich es legen konnte, lachte er nur.

»Schlag es einfach auf, Diana. Es wird schon nicht zu Staub zerfallen.«

Nachdem ich darauf geeicht war, so wertvolle Manuskripte als Kunstobjekt und nicht als schnöde Lektüre zu behandeln, war es ein befremdliches Gefühl, es in den Händen zu halten. Bemüht, das Buch nicht zu weit zu öffnen und dadurch die Bindung zu beschädigen, warf ich einen Blick hinein. Eine Explosion von bunten Farben, Gold und Silber sprang mir entgegen.

»Oh«, hauchte ich. Die Ausgaben der Aurora Consurgens, die ich bisher gesehen hatte, waren längst nicht so kunstvoll. »Das ist ja fantastisch. Weißt du, wer die Illustrationen angefertigt hat?«

»Eine Frau namens Bourgot Le Noir. Sie war Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in Paris ziemlich bekannt.« Matthew nahm mir das Buch ab und schlug es vollständig auf. »So. Jetzt kannst du es dir richtig ansehen.«

Die erste Illustration zeigte eine Königin auf einem kleinen Hügel, die ihren Umhang ausgebreitet hatte, um sieben kleinen Wesen Schutz zu bieten. Feingliedrige Ranken zogen sich über das Pergament und rahmten das Bild ein. Hier und da öffneten sich die Knospen zu Blüten oder saßen Vögel auf den Zweigen. Im Nachmittagslicht hob sich das verzierte goldene Kleid der Königin strahlend gegen den zinnoberrot leuchtenden Hintergrund ab. Unten am Seitenrand saß ein Mann in schwarzer Robe auf einem Schild mit einem schwarz-silbernen Wappen. Der Mann sah mit verzückter Miene zu der Königin auf und hatte die Hände flehend erhoben.

»Das wird mir niemand glauben. Eine unbekannte Ausgabe der Aurora Consurgens  – und noch dazu von einer Frau illustriert?« Ich schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie kann ich so etwas zitieren?«

»Falls dir das hilft, könnte ich das Manuskript ein Jahr lang der Beinecke-Bibliothek in Yale leihen. Natürlich anonym. Und was Bourgot angeht, werden die Experten behaupten, es sei eine Arbeit ihres Vaters. Trotzdem sind alle Bilder von ihr. Wahrscheinlich haben wir irgendwo noch die Quittung liegen«, meinte Matthew unschlüssig und sah sich um. »Ich werde Ysabeau fragen, wo Godfreys Sachen liegen.«

»Godfrey?« Das mir unbekannte Wappen zeigte eine Lilie, umwunden von einer Schlange, die in ihren Schwanz biss.

»Mein Bruder.« Plötzlich klang er gar nicht mehr unschlüssig, und seine Miene verfinsterte sich. »Er starb 1668 in einem der höllischen Kriege, die Louis XIV. führte.« Vorsichtig klappte er das Manuskript wieder zu und legte es auf einen Tisch in der Nähe. »Ich nehme das später mit nach oben ins Arbeitszimmer, damit du es dir genauer ansehen kannst. Morgens liest Ysabeau hier immer die Zeitung, aber sonst ist nie jemand in diesem Raum. Du kannst hier schmökern, wann immer du willst.«

Nach diesem Versprechen schob er mich weiter durch den Salon in die große Halle, wo wir vor dem Tisch mit der chinesischen Vase stehenblieben. Er wies mich auf die Besonderheiten dieses Raumes hin, darunter die Empore für die Minnesänger, die Klappe im Dach, durch die vor dem Einbau der gemauerten Kamine und Abzüge der Rauch abgelassen worden war, und den Eingang zum quadratischen Wachtturm über dem Haupttor zum Château. Dieser Anstieg konnte ruhig noch einen Tag warten.

Anschließend führte Matthew mich nach unten in ein Labyrinth von Lagerräumen, Weinkellern, Küchen, Dienstquartieren, Vorrats-und Speisekammern. Aus einer der Küchen trat uns Marthe entgegen, die Arme bis zu den Ellbogen mit Mehl bestäubt, und reichte mir ein noch ofenwarmes Brötchen. Ich aß es, während Matthew mir voran durch die Gänge spazierte und mir genau erklärte, wozu jeder Raum gedient hatte  – wo das Getreide gelagert worden war, das Wildbret abhing und der Käse reifte.

»Vampire essen doch gar nichts«, meinte ich verwirrt.

»Nein, aber unsere Diener haben gegessen. Und Marthe kocht für ihr Leben gern.«

Ich versprach, sie beschäftigt zu halten. Das Brötchen war köstlich, und die Eier waren perfekt gewesen.

Danach führte uns der Weg in den Garten, der sichtbar aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte. Da gab es Beete für Kräuter und Herbstgemüse, und Rosenbüsche, vereinzelt mit ein paar letzten Blüten behangen, säumten die Anlage ein.

Aber der Duft, der mich am meisten lockte, stammte von keiner Pflanze. Wie ferngesteuert hielt ich auf ein niedriges Gebäude zu.

»Sei vorsichtig, Diana«, rief er mir nach und marschierte mir über den Kies hinterher. »Balthasar beißt.«

»Welcher ist Balthasar?«

Mit leicht ängstlicher Miene trat er hinter mir durch das Stalltor. »Der Hengst, der eben deinen Rücken als Kratzpfosten missbraucht«, antwortete Matthew angespannt. Ich stand mit dem Rücken zu einem großen, schweren Pferd, während ein Mastiff und ein Wolfshund mich umkreisten und neugierig beschnupperten.

»Ach, mich beißt er bestimmt nicht.« Der riesige Percheron senkte den Kopf, sodass er seine Ohren an meiner Hüfte reiben konnte. »Und wer sind diese beiden Herren?«, fragte ich und kraulte den Nacken des Wolfshundes, während der Mastiff spielerisch meine Hand in sein Maul zu nehmen versuchte.

»Der Wolfshund heißt Fallon und der Mastiff Hector.« Matthew schnippte mit dem Finger, und beide Hunde liefen zu ihm, setzten sich gehorsam und warteten aufmerksam auf weitere Anweisungen. »Bitte geh von diesem Pferd weg.«

»Warum? Er ist doch nett.« Balthasar stampfte zustimmend mit einem Huf auf und legte ein Ohr zurück, um Matthew herablassend anzusehen.

»Wenn der Schmetterling zum lieblichen Licht fliegt, weiß er nicht, dass ihn die Flamme verzehren kann«, murmelte Matthew vor sich hin. »Balthasar ist nur nett, solange ihm nicht langweilig wird. Ich möchte, dass du von ihm weggehst, bevor er die Tür seiner Box eintritt.«

»Wir machen deinen Herrn so nervös, dass er schon anfängt, mit Zitaten aus den obskuren Werken vergeistigter italienischer Kleriker um sich zu werfen. Morgen bringe ich dir etwas Süßes.« Ich drehte mich um und küsste Balthasar auf die Nüstern. Er wieherte leise und tänzelte ungeduldig mit den Hufen.

Matthew konnte seine Überraschung kaum verbergen. »Du hast das erkannt?«

»Giordano Bruno. ›Wenn der durstige Hirsch zum Bach läuft, dann nur, weil er nichts von dem grausamen Bogen weiß‹«, zitierte ich weiter. »›Wenn das Einhorn zu seinem reinen Nest rennt, dann nur, weil es die Schlinge nicht sieht, die dort bereitliegt.‹«

»Du kennst das Werk des Nolaners?« Matthew verwendete die Bezeichnung, die sich der Mystiker aus dem sechzehnten Jahrhundert selbst gegeben hatte.

»Er war ein früher Anhänger von Kopernikus, und ich bin Wissenschaftshistorikerin. Woher kennst du Brunos Werk?«

»Ich habe viel Zeit zum Lesen«, antwortete er ausweichend.

»Du hast ihn kennengelernt!« Das klang fast wie ein Vorwurf. »War er ein Dämon?«

»Einer, der leider allzu oft zwischen Genie und Wahnsinn hin und her pendelte.«

»Ich hätte es wissen müssen. Schließlich glaubte er an außerirdisches Leben und verfluchte seine Inquisitoren noch auf dem Weg zum Scheiterhaufen«, sagte ich kopfschüttelnd.

»Trotzdem wusste er, wie mächtig das Verlangen sein kann.«

Ich sah den Vampir scharf an. »›Das Verlangen treibt mich, dieweil die Angst mich zügelt.‹ Kommt Bruno auch in deinem Essay fürs All Souls vor?«

»Durchaus.« Matthews Mund schnurrte zu einer dünnen Linie zusammen. »Würdest du jetzt bitte von dort weggehen? Wir können uns ein andermal über Philosophie unterhalten.«

Plötzlich kamen mir noch mehr Passagen in den Sinn. Vielleicht war Matthew aus einem ganz anderen Grund auf Bruno gekommen, hatte dieser doch auch über die Göttin Diana geschrieben.

Ich trat von der Box zurück.

»Balthasar ist kein Pony«, warnte Matthew mich und zog mich am Ellbogen ein Stück weiter weg.

»Das sehe ich selbst. Trotzdem wäre ich mit ihm fertig geworden.« Bei dem Gedanken an eine solche Herausforderung wurden das alchemistische Manuskript und der italienische Philosoph schlagartig unwichtig.

»Reiten kannst du auch?«, fragte Matthew ungläubig.

»Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe schon als Kind reiten gelernt  – Dressur, Springreiten, alles.« Auf einem Pferd kam man dem Gefühl zu fliegen noch näher als beim Rudern.

»Wir haben andere Pferde. Balthasar bleibt, wo er ist«, erklärte er mir fest.

Ausreiten zu können war ein unvorhergesehener Bonus dieser Frankreichreise, einer, der Ysabeaus Kälte beinahe aufwog. Matthew führte mich ans andere Ende des Stalles, wo sechs weitere edle Pferde standen. Zwei waren groß und schwarz  – wenn auch nicht ganz so groß wie Balthasar  –, außerdem gab es eine eher rundliche braune Stute sowie einen hellen Wallach und zwei graue Andalusier-Stuten mit großen Hufen und geschwungenem Hals. Die eine trat sofort an die Tür, um festzustellen, was los war.

»Das ist Nar Rakasa«, sagte er und rieb ihr sanft über die Nüstern. »Das heißt Feuertänzerin. Normalerweise nennen wir sie nur Rakasa. Sie ist ungeheuer graziös und genauso eigensinnig. Ihr beide müsstet exzellent miteinander auskommen.«

Ich weigerte mich, den Köder zu schlucken, den er mir so charmant dargeboten hatte, und ließ Rakasa mein Haar und mein Gesicht beschnuppern. »Wie heißt ihre Schwester?«

»Fiddat  – Silber.« Fiddat trat vor, sobald Matthew ihren Namen sagte, und sah ihn liebevoll an. »Fiddat ist Ysabeaus Pferd, und Rakasa ist ihre Schwester.« Matthew deutete auf die beiden Rappen. »Die da gehören mir. Dahr und Sayad.«

»Was bedeuten die Namen?«, fragte ich und ging zu den beiden Boxen hinüber.

»Dahr heißt auf Arabisch Zeit und Sayad Jäger«, erklärte Matthew und kam mir nach. »Sayad liebt es, über die Felder zu galoppieren, Wild zu jagen und über Hecken zu setzen. Dahr ist geduldig und ruhig.«

Wir setzten unsere Tour fort, wobei Matthew mich auf die Eigenheiten der Berge hinwies und mir erklärte, in welcher Richtung der Ort lag. Er zeigte mir, wo das Château umgebaut worden war und wo die Restaurateure einen anderen Stein verbaut hatten, weil der ursprüngliche nicht mehr zu bekommen gewesen war. Schließlich war ich sicher, mich nicht mehr zu verlaufen  – hauptsächlich dank des Hauptgebäudes, das nicht zu übersehen war.

»Warum bin ich nur so müde?«, gähnte ich, als wir zum Château zurückgingen.

»Du bist unverbesserlich«, antwortete Matthew seufzend. »Muss ich wirklich noch einmal aufzählen, was in den letzten sechsunddreißig Stunden alles passiert ist?«

Auf sein Drängen hin ließ ich ihn im Arbeitszimmer zurück, stieg die Treppe hoch und warf mich aufs Bett, zu müde, um auch nur die Kerzen auszublasen.

Sekunden später träumte ich, dass ich durch einen dunklen Wald ritt, in eine lockere grüne Tunika gehüllt und mit einem Gürtel um die Taille. An den Füßen trug ich Sandalen, deren Riemen meine Knöchel und Waden umschnürten. Hinter mir hörte ich Hunde bellen und Hufe durch das Unterholz krachen. Ein Köcher mit Pfeilen drückte gegen meine Schulter, und in einer Faust hielt ich einen Bogen. Trotz der unheilvollen Geräusche in meinem Rücken hatte ich keine Angst.

In meinem Traum lächelte ich, wohl wissend, dass ich meinen Verfolgern jederzeit entkommen konnte.

»Flieg!«, befahl ich  – und mein Pferd erhob sich in die Luft.