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Die Glocken von Oxford schlugen sieben Mal. Die Nacht folgte der Dämmerung nicht mehr so gemächlich wie noch vor ein paar Monaten, aber noch zog sich der Wechsel über eine ganze Weile hin. In der Bibliothek waren erst vor dreißig Minuten die Lampen eingeschaltet worden, die jetzt kleine goldene Teiche in das graue Halbdunkel zauberten.
Es war der einundzwanzigste September. Überall auf der Welt trafen sich an diesem Abend der herbstlichen Tagundnachtgleiche die Hexen zu einem Festmahl, um Mabon zu feiern und die hereinbrechende Dunkelheit des Winters zu begrüßen. Doch die Hexen von Oxford würden ohne mich auskommen müssen. Man hatte mich auserkoren, im nächsten Monat bei einer wichtigen Konferenz ein Grundsatzreferat zu halten. Meine Ideen waren noch unausgereift, und das machte mich zusehends nervös.
Schon bei dem Gedanken, was meine Mithexen jetzt wohl irgendwo in Oxford speisen würden, begann mein Magen zu knurren. Seit halb zehn saß ich jetzt in der Bibliothek und hatte mir nur eine kurze Mittagspause gegönnt.
Sean hatte heute frei, und die Vertretung an der Ausleihtheke war neu. Sie hatte sich gespreizt, als ich ein halb verfallenes Manuskript angefordert hatte, und mich zu überzeugen versucht, stattdessen die Mikrofilmausgabe zu verwenden. Zum Glück hatte der Leiter des Lesesaales, Mr Johnson, sie gehört und war sofort aus seinem Büro gekommen, um einzuschreiten.
»Bitte entschuldigen Sie, Dr. Bishop«, hatte er eilig beteuert und dabei die schwere, dunkel gerahmte Brille auf der Nase nach oben geschoben. »Wenn Sie dieses Manuskript für Ihre Forschungen brauchen, werden Sie es natürlich bekommen.« Er verschwand, um das gesperrte Stück zu holen, und überreichte es mir, wobei er sich wortreich für die Unannehmlichkeiten und die neue Mitarbeiterin entschuldigte. Damit hatte ich dank meines Rufes als Wissenschaftlerin meinen Willen durchgesetzt und daraufhin den ganzen Nachmittag beschwingt und gut gelaunt gelesen.
Zufrieden, dass ich so viel geschafft hatte, nahm ich die beiden aufgerollten Gewichte von den oberen Ecken des Manuskriptes und schloss es sorgsam. Nachdem ich am Freitag auf das verhexte Manuskript gestoßen war, hatte ich das Wochenende nicht mit Alchemie, sondern mit Routinearbeiten verbracht, um in die Normalität zurückzufinden. Ich hatte Finanzierungsanträge ausgefüllt, Rechnungen bezahlt, Empfehlungsschreiben verfasst und sogar eine Buchbesprechung fertiggestellt. Unterbrochen hatte ich diese Tätigkeiten mit häuslichen Ritualen wie Wäsche zu waschen, Unmengen von Tee zu trinken und mich an Rezepten aus ein paar Fernseh-Kochsendungen zu versuchen.
Heute hatte ich mich den ganzen Tag so gut wie möglich auf die vor mir liegende Arbeit konzentriert, statt im Nachhinein über den eigentümlichen Illustrationen und dem mysteriösen Palimpsest in Ashmole 782 zu brüten. Jetzt warf ich einen kurzen Blick auf meine Nachbereitungsliste. Von den vier Fragen, die sich heute im Laufe des Tages ergeben hatten, war die dritte am einfachsten zu beantworten. Die Antwort musste in einem obskuren Journal mit dem Titel Notes and Queries zu finden sein, und dieses Journal stand frei zugänglich in einem der Regale, die sich der hohen Decke im Raum entgegenreckten. Ich schob den Stuhl zurück und beschloss, wenigstens diesen Punkt auf meiner Liste abzuhaken, bevor ich für heute Schluss machte.
Die oberen Regale im Selden End waren über eine durchgetretene Treppe zu erreichen, die auf eine Galerie mit Blick auf die Lesetische führte. Ich erklomm die krummen Stufen und stand bald vor den Regalfächern, in denen streng chronologisch geordnet die alten, mit Buchleinen bezogenen Bände standen. Niemand außer mir und einem betagten Professor der Alten Literatur aus dem Magdalen College schien sie je zu konsultieren. Ich entdeckte den gesuchten Band und fluchte leise. Er stand im obersten Fach, knapp außerhalb meiner Reichweite.
Ein leises Lachen ließ mich aufhorchen. Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, wer an dem Lesetisch am anderen Ende der Galerie saß, aber dort war niemand. Ich hörte schon wieder Gespenster. Oxford war immer noch mehr oder weniger verwaist, und alle Universitätsangestellten waren vor einer Stunde abgezogen, um sich vor dem Abendessen im Gemeinschaftsraum des Lehrpersonals ein Gratisglas Sherry zu genehmigen. Nachdem heute ein hoher Wicca-Feiertag war, war sogar Gillian am Spätnachmittag entschwunden, allerdings nicht, ohne mich ein letztes Mal zu ihrem Treffen einzuladen und dabei einen scheelen Blick auf meinen Stapel mit Lesematerial zu werfen.
Ich suchte nach der Trittleiter, die eigentlich auf der Galerie stehen sollte, aber die war nirgendwo zu sehen. In der Bodleian fehlte es immer an solchen Dingen, und es konnte leicht sein, dass ich fünfzehn Minuten brauchen würde, um in der Bibliothek eine Trittleiter aufzutreiben und sie nach oben zu schleppen, nur damit ich den Band aus dem Regalfach holen konnte. Ich zögerte. Am Freitag hatte ich ein verhextes Buch in der Hand gehalten und trotzdem der Versuchung widerstanden, Magie anzuwenden. Außerdem würde mich niemand sehen.
Trotz meiner Rechtfertigungsversuche spürte ich ein nervöses Kribbeln. Ich brach meine Regeln nur selten und vermerkte akribisch im Geiste sämtliche Situationen, in denen ich mich verleiten ließ, auf Magie zurückzugreifen. Dies wäre das fünfte Mal in diesem Jahr, den Reparaturzauber an der kaputten Waschmaschine und die Berührung von Ashmole 782 eingeschlossen. Nicht allzu schlecht für einen September, aber auch keine persönliche Bestleistung.
Ich holte tief Luft, hob die Hand und stellte mir das Buch darin vor.
Band 19 der Notes and Queries rutschte langsam aus dem Fach, kippte dann nach hinten, als würde er von unsichtbaren Fingern heruntergezogen, und fiel dumpf in meine offene Hand. Dort öffnete er sich von selbst auf der gesuchten Seite.
Der ganze Vorgang hatte knapp drei Sekunden gedauert. Ich atmete tief aus, um mein schlechtes Gewissen zu besänftigen. Im selben Moment erblühten zwei eisige Flecken zwischen meinen Schulterblättern.
Ich war beobachtet worden, und nicht von einem gewöhnlichen Menschen.
Wenn eine Hexe eine andere beobachtet, löst ihr Blick ein Kribbeln aus. Allerdings sind Hexen nicht die einzigen Geschöpfe, die neben den Menschen die Erde bevölkern. Es gibt auch Dämonen – kreative, künstlerische Kreaturen, die stets zwischen Genie und Wahnsinn balancieren. Als »Rockstars und Serienmörder« beschrieb meine Tante diese befremdlichen, faszinierenden Wesen. Und es gibt die Vampire, uralt und wunderschön, die sich von Blut ernähren und dich mit ihrem Charme betören, wenn sie dich nicht vorher töten.
Wenn ein Dämon mich anblickt, spüre ich einen dezenten, verunsichernden Druck wie von einem Kuss.
Doch wenn ein Vampir mich fixiert, fühlt sich das kalt, konzentriert und gefährlich an.
Ich ging im Geist alle Besucher im Duke-Humfrey-Lesesaal durch. An einen einzigen Vampir konnte ich mich erinnern, ein cherubinischer Mönch, der sich wie ein Liebhaber in mittelalterliche Mess- und Gebetsbücher versenkt hatte. Aber Vampire sind in Bibliothekssälen mit alten Büchern nur selten zu finden. Hin und wieder wurde einer von nostalgischer Eitelkeit befallen und kam hierher, um in Erinnerungen zu schwelgen, aber das waren Einzelfälle.
Hexen und Dämonen findet man viel öfter in Bibliotheken. Gillian Chamberlain war heute hier gewesen und hatte mit einer starken Lupe ihre Papyri studiert. Und in der Musikbibliothek hielten sich definitiv zwei Dämonen auf. Als ich an ihnen vorbeigegangen war, um mir in der Buchhandlung nebenan einen Tee zu holen, hatten beide wie benebelt aufgesehen. Einer hatte mir aufgetragen, ihm einen Caffè latte mitzubringen, was erkennen ließ, wie tief er in seine Wahnvorstellungen versunken war, wie die auch immer aussehen mochten.
Nein, in diesem Augenblick hatte mich ganz eindeutig ein Vampir ins Auge gefasst.
Ich war schon einigen Vampiren begegnet, schließlich arbeitete ich auf einem Gebiet, auf dem ich viel mit anderen Wissenschaftlern zu tun hatte, und in den Laboratorien in aller Welt wimmelt es von Vampiren. Die Wissenschaft honoriert lange Studien und unerschöpfliche Geduld. Und weil Wissenschaftler meist für sich allein arbeiten, ließ sich ein Leben, das sich nicht über Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte erstreckte, viel leichter managen.
Heutzutage interessieren sich Vampire besonders für Teilchenbeschleuniger, Projekte zur Entzifferung des Genoms und für die Molekularbiologie. Früher hatten sie sich vorzugsweise in der Alchemie, Anatomie und Elektrophysik getummelt. Wenn es ordentlich knallte, wenn Blut im Spiel war oder versucht wurde, die Geheimnisse des Universums zu offenbaren, stieß man mit ziemlicher Sicherheit auf einen Vampir.
Ich drückte die mit unzulässigen Mitteln erlangte Ausgabe der Notes and Queries an meine Brust und drehte mich um. Er stand auf der anderen Seite des Raumes vor den paläografischen Nachschlagewerken und lehnte im Schatten an einem der eleganten Holzpfeiler, die die Galerie trugen. In seiner Hand lag eine aufgeschlagene Kopie von Janet Roberts Guide to Scripts Used in English Handwriting Up to 1500.
Ich hatte diesen Vampir noch nie gesehen – aber ich war ziemlich sicher, dass er keine Anleitung benötigte, um alte englische Handschriften zu entziffern.
Jeder, der schon mal einen Taschenbuch-Bestseller gelesen oder auch nur ferngesehen hat, weiß, dass Vampire atemberaubend aussehen, aber das kann einen nicht auf den Moment vorbereiten, in dem man tatsächlich einem von ihnen gegenübersteht. Sie sehen aus wie von einem genialen Bildhauer gemeißelt. Und wenn sie sich dann bewegen oder etwas sagen, kann dein Gehirn nicht einmal ansatzweise verarbeiten, was du siehst. Jede einzelne Bewegung ist voller Grazie; jedes Wort ist wie Musik. Ihre Augen fesseln dich, und genau so fangen sie ihre Beute. Ein langer Blick, ein paar ruhige Worte, eine Berührung: Hat dich ein Vampir erst eingesponnen, hast du keine Chance mehr.
Während ich diesen Vampir anstarrte, erkannte ich zunehmend verzagt, dass mein Wissen in diesem Bereich dummerweise hauptsächlich theoretischer Natur war. Und dass es mir jetzt, wo ich tatsächlich einem Vampir gegenüberstand, wenig nutzte.
Der einzige Vampir, mit dem ich mehr als flüchtig bekannt war, arbeitete im nuklearen Teilchenbeschleuniger in der Schweiz. Jeremy war dünn und sah fantastisch aus, hatte strahlend blondes Haar, blaue Augen und ein ansteckendes Lachen. Er hatte mit so gut wie allen Frauen im Kanton Genf geschlafen und arbeitete sich inzwischen durch die Stadt Lausanne vor. Was er anstellte, nachdem er die Frauen verführt hatte, hatte ich nie genauer wissen wollen, und hatte seine hartnäckigen Einladungen, mit ihm auszugehen, ebenso hartnäckig ausgeschlagen. Ich hatte immer angenommen, dass Jeremy ein typischer Vertreter seiner Gattung sei. Aber verglichen mit dem Vampir, der jetzt vor mir stand, kam er mir klobig, ungelenk und sehr, sehr jung vor.
Dieser hier war groß – mindestens einen Meter neunzig, selbst unter Berücksichtigung der perspektivischen Verzerrung, die sich dadurch ergab, dass ich von der Galerie auf ihn hinabsah. Und er war ganz bestimmt nicht dünn. Breite Schultern verengten sich zu schlanken Hüften, die in geschmeidige, muskulöse Beine übergingen. Seine Hände waren atemberaubend lang und gelenkig und wirkten dabei so grazil, dass mein Blick immer wieder davon angezogen wurde, fast als müsste ich ergründen, wie sie zu einem so mächtigen Mann gehören konnten.
Während meine Augen ihn von Kopf bis Fuß abtasteten, lagen seine fest auf mir. Aus dieser Entfernung wirkten sie nachtschwarz, und sie blickten unter ebenso schwarzen Brauen hervor, von denen eine wie ein Fragezeichen angehoben war. Sein Gesicht war wirklich atemberaubend – nichts als glatte Flächen und Kanten und dazu hoch angesetzte Wangenknochen. Oberhalb des Kinns war praktisch die einzige Stelle, an der Raum für etwas Weiches blieb – seinen breiten Mund, der genau wie seine langen Hände irgendwie nicht ins Bild passen wollte.
Aber nicht sein makelloser Körper machte mich so nervös. Sondern die raubtierhafte Kombination von Kraft, Behändigkeit und messerscharfer Intelligenz, die durch den ganzen Raum hindurch zu spüren war. In seiner schwarzen Hose und dem hellgrauen Pullover, mit den dichten, aus der Stirn gekämmten und im Nacken kurz geschnittenen Haaren sah er aus wie ein Panther, der jeden Moment zuschlagen kann, es damit aber nicht eilig hat.
Er lächelte. Es war ein dezentes, höfliches Lächeln, bei dem er nicht die Zähne zeigte. Ich ahnte sie trotzdem und sah sie in Gedanken in zwei perfekten, scharfen Reihen hinter seinen blassen Lippen stehen.
Bei dem bloßen Gedanken an seine Zähne jagte ein solcher Adrenalinstoß durch meinen Körper, dass meine Fingerspitzen kitzelten. Plötzlich konnte ich nur noch denken: Du musst von hier verschwinden. SOFORT.
Die Treppe erschien mir viel weiter weg als die vier Schritte, die ich bis dorthin brauchte. Ich rannte nach unten, kam auf der letzten Stufe ins Straucheln und flog direkt in die wartenden Arme des Vampirs.
Natürlich hatte er vor mir den Fuß der Treppe erreicht.
Seine Finger waren kühl, und seine Arme fühlten sich eher nach Stahl an als nach Fleisch und Knochen. Der Duft von Nelken, Zimt und etwas wie Weihrauch lag in der Luft. Er richtete mich wieder auf, hob die Notes and Queries vom Boden auf und überreichte sie mir mit einer kleinen Verbeugung. »Dr. Bishop, nehme ich an?«
Von Kopf bis Fuß zitternd nickte ich.
Die langen, blassen Finger seiner rechten Hand tauchten in die Jackentasche und zogen eine blau-weiße Visitenkarte heraus. Er hielt sie mir hin. »Matthew Clairmont.«
Ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, zupfte ich die Karte mit spitzen Fingern aus seinem Griff. Dem vertrauten Wappen der Universität Oxford mit den drei Kronen und dem offenen Buch folgte Clairmonts Name und danach eine Reihe von Abkürzungen, denen ich entnehmen konnte, dass er in die Royal Society aufgenommen worden war.
Nicht schlecht für jemanden, der aussah wie zwischen Mitte und Ende dreißig, auch wenn ich annahm, dass er in Wahrheit mindestens zehnmal so alt war.
Und was sein Forschungsgebiet anging: Es überraschte mich nicht, dass der Vampir Professor der Biochemie war und mit der Oxford Neuroscience im John Radcliffe Hospital zusammenarbeitete. Blut und Anatomie – zwei Lieblingsgebiete der Vampire. Auf der Karte waren drei verschiedene Labortelefonnummern, dazu eine Büronummer und eine E-Mail-Adresse abgedruckt. Ich hatte ihn vielleicht noch nie gesehen, aber er war jedenfalls nicht unerreichbar.
»Professor Clairmont«, piepste ich, bevor mir alle weiteren Worte in der Kehle steckenblieben. Mit aller Kraft widerstand ich dem Drang, schreiend zum Ausgang zu rennen.
»Wir sind uns noch nicht begegnet«, fuhr er mit einem eigentümlichen Akzent fort. Hauptsächlich klang er nach Oxford und Cambridge, andererseits hatte sein Tonfall etwas Weiches, das ich nicht einordnen konnte. Seine Augen, die mir unbeirrt ins Gesicht blickten, waren eigentlich gar nicht so dunkel, entdeckte ich, sie wurden nur von riesigen Pupillen beherrscht, die von einem dünnen, graugrünen Irisring eingefasst waren. Ihr Sog war unwiderstehlich, und ich merkte, dass ich mich einfach nicht abwenden konnte.
Wieder bewegte sich der Mund des Vampirs. »Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit.«
Es war nicht völlig undenkbar, dass sich ein Professor der Biochemie für die Alchemie des siebzehnten Jahrhunderts interessierte, aber es kam mir doch reichlich unwahrscheinlich vor. Ich zupfte am Kragen meiner weißen Bluse und suchte kurz den Raum ab. Außer uns war niemand zu sehen. Niemand saß an dem alten Eichentisch mit den Karteikästen, niemand an den Computern. Und wer auch immer an der Rückgabetheke saß, war zu weit entfernt, um mir helfen zu können.
»Ich fand Ihren Artikel über die Farbsymbolik der alchemischen Transformation sehr überzeugend und Ihre Arbeit über Robert Boyles Annäherung an die Probleme der Expansion und Kontraktion ausgesprochen einleuchtend«, fuhr Clairmont ungerührt fort, als wäre er es gewohnt, Gespräche quasi allein zu führen. »Ihr letztes Buch über die alchemistische Ausbildung und Lehre habe ich noch nicht fertig gelesen, aber ich genieße es sehr.«
»Danke«, hauchte ich. Sein Blick senkte sich von meinen Augen auf meinen Hals.
Ich hörte auf, an meinen Kragenknöpfen zu nesteln.
Seine unglaublichen Augen blickten wieder in meine. »Sie verstehen es meisterhaft, Ihren Lesern die Vergangenheit nahezubringen.« Ich nahm das als Kompliment, denn er als Vampir musste wissen, ob ich Unsinn erzählte. Clairmont blieb kurz still. »Dürfte ich Sie zum Abendessen einladen?«
Mir blieb der Mund offen stehen. Abendessen? Vielleicht konnte ich ihm in der Bibliothek nicht entkommen, aber es gab für mich keinen Grund, eine ganze Mahlzeit mit ihm zu verbringen – vor allem, da er mir nur beim Essen zusehen würde, wenn ich seine Vorlieben richtig einschätzte.
»Ich habe schon was vor«, sagte ich barsch, ohne eine glaubhafte Erklärung abgeben zu können, was das sein sollte. »Wirklich zu schade«, murmelte er, und der Hauch eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Dann vielleicht ein andermal. Sie werden das ganze Jahr in Oxford verbringen, nicht wahr?«
Sich in der Nähe eines Vampirs aufzuhalten, hätte jeden nervös gemacht, außerdem rief Clairmonts Nelkenduft den eigenartigen Geruch von Ashmole 782 wieder wach. Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig und beschränkte mich darum auf ein Nicken. Das erschien mir sicherer.
»Dachte ich mir«, sagte Clairmont. »Unsere Wege werden sich bestimmt wieder kreuzen. Oxford ist so klein.«
»Wirklich klein«, pflichtete ich ihm bei und wünschte mir, ich hätte mich entschieden, mein Forschungssemester in London zu verbringen.
»Bis dann, Dr. Bishop. Es war mir ein Vergnügen.« Clairmont streckte mir die Hand entgegen. Abgesehen von dem kurzen Ausflug an meinen Kragen hatten seine Augen unausgesetzt meine fixiert. Ich hatte ihn auch nicht blinzeln sehen. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, weil ich nicht als Erste den Blick abwenden wollte.
Meine Hand schob sich vor, zögerte aber kurz, bevor sie seine ergriff. Ich spürte einen flüchtigen Druck, dann entzog er mir die Hand wieder. Er trat lächelnd zurück und verschwand in der Dunkelheit des ältesten Bibliotheksbereiches.
Ich blieb reglos stehen, bis ich meine vereisten Hände wieder bewegen konnte, dann ging ich an meinen Tisch zurück und fuhr den Computer herunter. Während ich meine Papiere zusammenpackte, fragten mich die Notes and Queries vorwurfsvoll, warum ich mir die Mühe gemacht hatte, sie aus dem Regal zu holen, wenn ich nicht einmal einen Blick hineinwerfen wollte. Meine Aufgabenliste sah ebenfalls tadelnd zu mir auf. Ich riss das Blatt vom Block ab, knüllte es zusammen und versenkte es in dem geflochtenen Papierkorb unter dem Schreibtisch.
»Es ist genug, dass ein jeder Tag seine eigene Plage hat«, murmelte ich vor mich hin.
Der Nachtaufseher im Leseraum sah auf die Armbanduhr, als ich meine Manuskripte zurückgab. »Sie gehen heute früher, Dr. Bishop?«
Ich nickte und biss mir auf die Lippe, um nicht herauszuplatzen, ob er nicht wisse, dass sich zwischen den paläografischen Nachschlagewerken ein Vampir herumtrieb.
Er griff nach dem Stapel grauer Kartons, in denen die Handschriften steckten. »Werden Sie die morgen wieder brauchen?«
»Ja«, flüsterte ich. »Morgen.«
Nachdem ich mit der Rückgabe der Manuskripte meine letzte Gelehrtenpflicht erfüllt hatte, war ich frei. Das Klackern meiner Absätze auf dem Linoleumboden hallte von den Wänden wider, als ich durch die Gittertür vor dem Lesesaal stürmte, an den mit Samtbändern vor neugierigen Fingern geschützten Büchern vorbei, und dann die abgewetzte Holztreppe hinab in den geschlossenen Hof im Erdgeschoss. Ich lehnte mich gegen das Eisengeländer rund um die Bronzestatue von William Herbert, sog gierig die frostige Luft ein und bemühte mich, das Nelken- und Zimtaroma aus meiner Nase zu vertreiben.
In Oxford war jede Nacht irgendwas los, ermahnte ich mich streng. Dann gab es eben einen Vampir mehr in der Stadt, na und?
Trotz meiner mutigen Selbstansprache im Hof ging ich schneller als sonst nach Hause. Durch die düstere New College Lane zu gehen war schon bei Tag irgendwie unheimlich. Ich zog meine Karte durch den Schlitz am hinteren Tor des New College und spürte, wie etwas von der Anspannung aus meinem Körper wich, sobald der Torflügel hinter mir ins Schloss fiel, gerade als würden jede Tür und jede Wand, die ich zwischen mich und die Bibliothek gebracht hatte, mich zusätzlich schützen. Ich huschte unter den Kapellenfenstern entlang und durch den schmalen Durchgang in den Kolleghof. Von hier aus konnte man auf den einzigen noch existierenden mittelalterlichen Garten in Oxford sehen, wo es sogar einen jener traditionellen Hügel gab, die den Studenten von einst beim Nachsinnen über die Mysterien Gottes und der Natur einen grünen Ausblick bieten sollten. Heute Abend kamen mir die spitzen Türme und Bogen des Colleges ganz besonders gotisch vor, und ich konnte es kaum erwarten, ins Gebäude zu kommen.
Als die Tür zu meinem Apartment hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Ich wohnte ganz oben in einem der Aufgänge, die den Fakultätsangehörigen vorbehalten waren, und zwar in einer der Unterkünfte, die für ehemalige Mitglieder auf Besuch reserviert waren. Meine Räume, die aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer mit rundem Esstisch und einer kleinen, aber anständig ausgestatteten Küche bestanden, waren mit alten Drucken und einer warmen Wandtäfelung dekoriert. Die Einrichtung sah aus, als bestünde sie aus ausgemusterten Möbeln aus dem Gemeinschaftsraum und der Wohnung des Dekans, wobei das Schwergewicht auf durchgesessenen Stücken des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts lag.
In der Küche schob ich zwei Scheiben Brot in den Toaster und schenkte mir ein Glas kaltes Wasser ein. Ich trank es mit tiefen Schlucken und öffnete dabei das Fenster, um die kühle Luft in meine stickigen Gemächer zu lassen.
Mit meinem Imbiss in der Hand kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, streifte dort die Schuhe von den Füßen und drehte die kleine Stereoanlage auf. Die klaren Klänge eines Mozartstückes erfüllten die Luft. Dann ließ ich mich in eines der rotbraun gepolsterten Sofas sinken, in der festen Absicht, nur kurz auszuruhen, anschließend ein Bad zu nehmen und hinterher meine heutigen Notizen durchzugehen.
Um halb drei Uhr in der Nacht erwachte ich mit klopfendem Herzen, steifem Hals und einem eindeutigen Nelkengeschmack im Mund.
Ich holte mir ein Glas Wasser und schloss das Küchenfenster. Es war frisch geworden, und die feuchte Luft ließ mich frösteln.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr und einer schnellen Überschlagsrechnung beschloss ich, zu Hause anzurufen. Dort war es erst halb elf Uhr abends, und Sarah und Em waren die reinsten Fledermäuse. Ich wanderte durch die Zimmer, schaltete dabei alle Lichter aus, bis auf das in meinem Schlafzimmer, und hatte im Nu meine schmutzigen Sachen – wie kann man sich in einer Bibliothek nur so schmutzig machen? – abgestreift und war in eine alte Yogahose sowie einen schwarzen Pulli mit ausgeleiertem Rollkragen geschlüpft. Beides war bequemer als jeder Pyjama.
Das Bett war angenehm und fest unter meinem Rücken und hätte mich beinahe überzeugt, dass ich nicht zu Hause anzurufen brauchte, so beruhigend wirkte es auf mich. Aber das Wasser hatte den Nelkengeschmack nicht ganz aus meinem Mund vertreiben können, darum nahm ich mein Handy und wählte die Nummer.
»Wir haben schon auf deinen Anruf gewartet«, waren die ersten Worte, die ich zu hören bekam.
Hexen.
Ich seufzte. »Es geht mir gut, Sarah.«
»Es deutet alles auf das Gegenteil hin.« Wie gewöhnlich kannte die jüngere Schwester meiner Mutter kein Pardon. »Tabitha ist schon den ganzen Abend aufgekratzt. Em hat ein klares Bild von dir empfangen, auf dem du völlig verloren dastehst, und ich habe seit dem Frühstück keinen Bissen mehr herunterbekommen.«
Das wirkliche Problem war diese verdammte Katze. Tabitha war Sarahs Baby und erspürte mit gespenstischer Präzision alle Spannungen innerhalb der Familie. »Es geht mir gut. Ich hatte heute Abend in der Bibliothek eine unerwartete Begegnung, das ist alles.«
Ein Klicken verriet mir, dass Em den zweiten Hörer abgenommen hatte. »Warum feierst du nicht Mabon?«, fragte sie.
Seit ich denken konnte, war Emily Mather ein Fixpunkt in meinem Leben. Sie und meine Mutter hatten sich während ihrer Highschoolzeit bei einem Ferienjob auf der Plimoth Plantation kennengelernt, wo sie für die Archäologen Löcher gegraben und Schubkarren geschoben hatten. Sie waren erst beste Freundinnen und anschließend, als Emily zum Studium nach Vassar und meine Mutter nach Harvard gegangen war, begeisterte Brieffreundinnen geworden. Später trafen sich die beiden in Cambridge wieder, wo Em als Bibliothekarin in einer Kinderbücherei arbeitete. Nach dem Tod meiner Eltern verbrachte Em viele lange Wochenenden in Madison, was bald dazu führte, dass sie einen Job in der örtlichen Grundschule annahm. Sie und Sarah wurden unzertrennlich, auch wenn Em immer ihre eigene Wohnung behielt und beide einen Riesenzirkus darum veranstalteten, nicht gemeinsam im Schlafzimmer zu verschwinden, solange ich klein war. Letztlich konnten sie weder mir noch den Nachbarn oder irgendwem sonst im Ort etwas vormachen. Alle behandelten sie ganz selbstverständlich als Paar, ganz gleich, wo sie ihre Nächte verbrachten. Als ich aus dem Haus der Bishops auszog, war Em eingezogen und nie wieder ausgezogen. Wie meine Mutter und meine Tante entstammte Em einer alten Hexenfamilie.
»Ich war zur Feier des Konvents eingeladen, aber ich hatte zu tun.«
»Hat dich die Hexe aus Bryn Mawr gefragt, ob du kommst?« Em interessierte sich für die Altphilologin, allerdings vor allem (wie ich an einem Sommerabend nach mehreren Gläsern Wein erfahren hatte), weil sie in den Sechzigern ein paarmal mit Gillians Mutter ausgegangen war.
»Ja«, sagte ich genervt. Die beiden waren überzeugt, dass ich jetzt, wo ich eine sichere Festanstellung hatte, das Licht erblicken und meine magischen Fähigkeiten annehmen würde. Nichts konnte sie von diesem Wunschdenken abbringen, darum waren beide regelmäßig aus dem Häuschen, wenn ich Kontakt mit einer anderen Hexe hatte. »Aber ich habe den Abend stattdessen mit Elias Ashmole verbracht.«
»Wer ist das?«, fragte Em meine Tante.
»Du weißt schon, dieser tote Typ, der alchemistische Bücher sammelte«, hörte ich Sarah stöhnen.
»Ich höre immer noch mit, ihr zwei«, rief ich in den Hörer.
»Und wer hat dir so den Hocker unter dem Hintern weggezogen?«, fragte Sarah.
Es hatte keinen Zweck, ihnen etwas verheimlichen zu wollen, schließlich waren sie Hexen. »Ich bin in der Bibliothek einem Vampir begegnet. Einem, den ich noch nie gesehen habe, einem gewissen Matthew Clairmont.«
An Ems Hörer blieb es still, während sie im Geist ihren imaginären Karteikasten mit allen nur denkbaren Geschöpfen durchging. Sarah schwieg ebenfalls, weil sie noch unentschlossen war, ob sie explodieren sollte oder nicht. »Ich hoffe, du kannst ihn leichter loswerden als die Dämonen, die du sonst immer anlockst«, knurrte sie schließlich.
»Seit ich aufgehört habe, Theater zu spielen, hat mich kein Dämon mehr belästigt.«
»Von wegen, da war noch der Dämon, der dir in die Beinecke-Bibliothek gefolgt ist, als du in Yale zu arbeiten angefangen hast«, korrigierte mich Em. »Er kam einfach die Straße entlangspaziert und hielt nach dir Ausschau.«
»Der war psychisch labil«, protestierte ich. Die Tatsache, dass ich irgendwie einen einzigen Dämon auf mich aufmerksam gemacht hatte, konnte man mir doch nicht bis in alle Ewigkeit zum Vorwurf machen, genauso wenig wie das bisschen Hexerei, mit dem ich meine Waschmaschine wieder zum Laufen gebracht hatte.
»Du ziehst magische Geschöpfe an wie eine Blume die Bienen, Diana. Aber Dämonen sind nicht halb so gefährlich wie Vampire. Halt dich von ihm fern«, erklärte Sarah angespannt.
»Ich wüsste nicht, warum ich mich mit ihm treffen sollte.« Meine Hand wanderte wieder an meinen Hals. »Uns verbindet rein gar nichts.«
»Darum geht es nicht«, ermahnte mich Sarah lauter. »Hexen, Vampire und Dämonen sollten sich nicht mischen. Das weißt du genau. Wenn wir das tun, fallen wir den Menschen eher auf. Kein Dämon oder Vampir lohnt ein solches Risiko.« Die einzigen Wesen, die Sarah wirklich ernst nahm, waren andere Hexen. Menschen waren in ihren Augen unglückselige kleine Geschöpfe, die blind für die Welt um sie herum waren. Dämonen waren unverbesserliche Teenager, denen man nicht trauen konnte. Und Vampire standen in ihrer Rangordnung aller Wesen weit unter den Katzen und mindestens eine Stufe unter den Hunden.
»Du hast mir die Regeln oft genug eingebläut, Sarah.«
»Nicht jeder hält sich an die Regeln, Schätzchen«, bemerkte Em. »Was wollte er von dir?«
»Er sagte, er würde sich für meine Arbeit interessieren. Aber er ist Naturwissenschaftler, darum kann ich das kaum glauben.« Meine Finger nestelten am Federbett herum. »Er wollte mich zum Abendessen einladen.«
»Zum Abendessen?« Sarah war fassungslos.
Em lachte nur. »Ich wüsste kein Restaurant, dessen Speisekarte einen Vampir ansprechen würde.«
»Ich werde ihn bestimmt nicht wiedersehen. Seiner Visitenkarte nach leitet er drei Labore und hat obendrein zwei Posten in der Fakultät inne.«
»Typisch«, murmelte Sarah. »Das kommt davon, wenn man zu viel Zeit hat. Und hör auf, an deiner Decke herumzuzupfen – du wirst noch ein Loch hineinreißen.« Sie hatte ihren Hexenradar auf volle Kraft geschaltet und hörte mich jetzt nicht nur, sondern sah mich auch.
»Ihr tut beinahe so, als würde er alten Damen die Handtasche klauen oder die Leute mit Börsenspekulationen um ihr Vermögen bringen«, entgegnete ich. Sarah konnte einfach nicht verwinden, dass die meisten Vampire unermesslich reich waren. »Er ist Biochemiker und irgendwie Mediziner und interessiert sich vor allem fürs Gehirn.«
Sarah schnaubte. »Was will er nur von dir? Vampire und Hexen daten sich nicht. Es sei denn, er wollte dich zum Abendessen. Sie lieben nichts so sehr wie den Geschmack von Hexenblut.«
»Vielleicht war er nur neugierig. Oder er interessiert sich tatsächlich für deine Arbeit.« Aus Ems Stimme sprach ein solcher Zweifel, dass ich lachen musste.
»Wir würden dieses Gespräch gar nicht führen, wenn du ein paar grundlegende Vorsichtsmaßnahmen beherzigen würdest«, meinte Sarah schnippisch. »Ein Schutzzauber oder du nutzt deine Fähigkeiten als Seherin, und schon …«
»Ich werde weder Magie noch Hexerei einsetzen, um herauszufinden, warum sich ein Vampir mit mir verabreden will«, verkündete ich fest. »Das ist nicht verhandelbar, Sarah.«
»Dann ruf uns nicht an und frag nach Antworten, wenn du sie nicht hören willst.« Wieder einmal brach Sarahs berüchtigtes Temperament durch. Bevor ich mir eine Antwort überlegen konnte, hatte sie schon aufgelegt.
»Sarah macht sich wirklich Sorgen um dich, weißt du?«, entschuldigte sich Em für ihre aufbrausende Partnerin. »Und sie versteht nicht, warum du deine Gabe nicht einmal einsetzen willst, um dich zu schützen.«
Weil an diese Gabe zu viele Bedingungen geknüpft waren, wie ich ihnen schon oft erklärt hatte. Ich probierte es noch einmal.
»Weil ich das nicht einreißen lassen will, Em. Heute schütze ich mich in der Bibliothek vor einem Vampir und morgen im Hörsaal vor einer schwierigen Frage. Und bald wähle ich meine Forschungsschwerpunkte danach aus, was sie für Ergebnisse bringen werden, und bewerbe mich nur noch für Stipendien, die ich hundertprozentig bekomme. Es ist mir wichtig, dass ich mir meinen Ruf wirklich verdiene. Sobald ich anfange, Magie einzusetzen, gehört nichts mehr wirklich mir. Ich will nicht die nächste Hexe in unserer Familie werden.« Ich öffnete den Mund und wollte Em schon von Ashmole 782 erzählen, aber etwas ließ mich verstummen.
»Ich weiß, ich weiß, Schatz«, besänftigte mich Em. »Ich verstehe dich wirklich. Aber Sarah sorgt sich trotzdem um deine Sicherheit. Du bist inzwischen ihre einzige Verwandte.«
Meine Finger glitten durch mein Haar und kamen an meinen Schläfen zu liegen. Gespräche wie dieses führten irgendwann unweigerlich zu meiner Mutter und meinem Vater. Ich zögerte, weil ich nicht wusste, ob ich meine größte Sorge aussprechen sollte.
»Was ist?« Ems sechster Sinn hatte mein Zögern registriert.
»Er wusste, wie ich heiße. Ich habe ihn noch nie gesehen, aber er wusste, wer ich bin.«
Em überdachte die verschiedenen Möglichkeiten. »Dein Bild ist doch auf dem Umschlag deines neuesten Buches abgedruckt, oder nicht?«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte, aber jetzt atmete ich hörbar erleichtert aus. »Ja. Das muss es sein. Wie albern. Kannst du Sarah einen Kuss von mir geben?«
»Aber sowieso. Und Diana? Pass auf dich auf. Vielleicht sind die englischen Vampire uns Hexen gegenüber nicht so anständig wie die amerikanischen.«
Ich lächelte, weil ich an Matthew Clairmonts formvollendete Verbeugung denken musste. »Ich passe auf. Aber mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich werde ich ihn nie wiedersehen.«
Em blieb still.
»Em?«, hakte ich nach.
»Das werden wir sehen.«
Em war nicht so gut darin, in die Zukunft zu blicken, wie meine Mutter es angeblich gewesen war, doch etwas nagte an ihr. Eine Hexe überreden zu wollen, dass sie eine vage Vorahnung preisgab, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie würde mir nicht verraten, was sie an Matthew Clairmont so beunruhigte. Noch nicht.