30
Wo ist sie?« Matthew knallte die Schlüssel des Range Rovers auf den Tisch.
»Wir werden sie finden, Matthew.« Ysabeau bemühte sich um ihres Sohnes willen die Ruhe zu bewahren, aber inzwischen waren fast zehn Stunden vergangen, seit sie im Garten den halb gegessenen Apfel neben einem Weinrautenbüschel gefunden hatten. Seither hatten beide ununterbrochen das Gelände rund um das Château durchkämmt, das Matthew auf der Karte systematisch in Streifen aufgeteilt hatte.
Allen Anstrengungen zum Trotz hatten sie keine Spur von Diana entdeckt und auch ihre Witterung nicht aufnehmen können. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
»Eine Hexe muss sie mitgenommen haben.« Matthew fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Und ich habe ihr noch versichert, dass ihr nichts passieren kann, solange sie im Château bleibt. Ich hätte nie gedacht, dass die Hexen es wagen würden, hier einzudringen.«
Seine Mutter presste die Lippen zusammen. Dass Hexen Diana entführt hatten, überraschte sie nicht.
Matthew begann wie ein General auf dem Schlachtfeld Befehle zu erteilen. »Wir gehen noch mal los. Ich fahre nach Brioude. Ysabeau, du suchst hinter Aubusson im Limousin. Marthe, du wartest hier, falls sie zurückkommt oder jemand anruft, der etwas weiß.«
Es würden keine Anrufe kommen, soviel war Ysabeau klar. Hätte Diana irgendwo telefonieren können, hätte sie schon längst angerufen. Und obwohl Matthews bevorzugte Schlachtenstrategie darin bestand, einfach alle Hindernisse niederzumähen, bis er sein Ziel erreicht hatte, war es nicht immer geschickt, so vorzugehen.
»Wir sollten warten, Matthew.«
»Warten?«, fauchte Matthew. »Worauf?«
»Auf Baldwin. Er war in London und hat sich vor einer Stunde auf den Weg gemacht.«
»Ysabeau, wie konntest du ihm das nur erzählen?« Sein älterer Bruder, das wusste Matthew aus Erfahrung, hatte einen ausgeprägten Zerstörungstrieb. Im Lauf der Jahre hatte er diesen Drang erst physisch, dann geistig und schließlich finanziell ausgelebt, nachdem er festgestellt hatte, dass es fast so spannend war, andere in den Ruin zu treiben, wie ein Dorf auszulöschen.
»Als sie weder im Stall noch im Wald war, hielt ich es für das Beste. Baldwin ist in solchen Sachen besser als du, Matthew. Er kann so gut wie alles finden.«
»Ja, Baldwin war immer gut darin, seine Beute aufzuspüren. Damit muss ich nicht mehr nur meine Frau finden. Jetzt muss ich auch sicherstellen, dass er sie nicht vor mir findet.« Matthew griff nach seinem Schlüssel. »Du wartest auf Baldwin. Ich gehe allein los.«
»Sobald er weiß, dass Diana zu dir gehört, wird er ihr nichts mehr tun. Aber als Oberhaupt dieser Familie muss er Bescheid wissen.«
Ysabeaus Worte stießen ihm auf. Sie wusste, wie sehr er seinem älteren Bruder misstraute. Doch dann tat Matthew die Bemerkung mit einem Achselzucken ab. »Sie sind in dein Heim eingedrungen, Maman. Damit haben sie dich beleidigt. Wenn du Baldwin zu Hilfe holen willst, ist das dein gutes Recht.«
»Ich habe Baldwin Dianas wegen gerufen – nicht meinetwegen. Sie darf den Hexen nicht in die Hände fallen, Matthew, auch wenn sie selbst eine Hexe ist.«
Matthew reckte die Nase in die Luft, weil er einen neuen Duft witterte.
»Baldwin«, erklärte Ysabeau überflüssigerweise, und ihre grünen Augen glänzten.
Über ihnen schlug eine schwere Tür, dann folgten wütende Schritte. Matthew versteifte sich, und Marthe verdrehte die Augen.
»Hier unten«, sagte Ysabeau leise. Nicht einmal in der Krise erhob sie die Stimme, sie waren schließlich Vampire.
Baldwin Montclair, wie er in der Finanzwelt hieß, marschierte durch die Halle im Erdgeschoss. Sein kupferrotes Haar leuchtete im Licht der Glühlampen, und seine Muskeln zuckten schnell wie die eines geborenen Athleten. Er hatte von frühester Kindheit an mit dem Schwert trainiert und war bereits vor der Verwandlung in einen Vampir eine beeindruckende Erscheinung gewesen, weshalb sich ihm nach seiner Wiedergeburt kaum einer je in den Weg stellte. Baldwin war schon zu Zeiten der Römer zum Vampir gemacht geworden und Philippes Liebling gewesen. Beide waren aus dem gleichen Holz geschnitzt – sie liebten den Krieg, die Frauen und den Wein, und zwar in dieser Reihenfolge. Trotz dieser liebenswerten Charakterzüge überlebten seine Gegner nur selten lang genug, um von ihren Erfahrungen berichten zu können.
Jetzt richtete er seinen ganzen Zorn gegen Matthew. Die beiden hatten sich von ihrer ersten Begegnung an nicht leiden können, denn sie waren so verschieden, dass sogar Philippe irgendwann die Hoffnung aufgegeben hatte, sie könnten je Freunde werden. Mit bebenden Nüstern versuchte Baldwin den leisen Zimt- und Nelkenduft seines Bruders in der Luft zu wittern.
»Wo zum Teufel steckst du, Matthew?« Seine tiefe Stimme hallte von Glas und Stein wider.
Matthew trat seinem Bruder in den Weg. »Hier, Baldwin.«
Noch ehe er ausgesprochen hatte, hatte ihn Baldwin an der Kehle gepackt. Die Köpfe dicht zusammengesteckt, einer dunkel, der andere hell, schossen sie ans andere Ende der Halle. Matthews Körper krachte gegen eine Holztür, die unter dem Aufprall zersplitterte.
»Wie konntest du dich mit einer Hexe einlassen, obwohl du genau weißt, was sie Vater angetan haben?«
»Sie war noch nicht einmal geboren, als er gefangengenommen wurde.« Matthews Stimme klang gepresst, weil ihm die Stimmbänder zusammengequetscht wurden, aber er zeigte keine Angst.
»Sie ist eine Hexe«, spie Baldwin. »Sie sind alle verantwortlich. Sie wussten genau, wie die Nazis ihn folterten, und unternahmen nichts dagegen.«
»Baldwin!«, wies Ysabeau ihn scharf zurecht, »Philippe hinterließ strikte Anweisungen, dass er nicht gerächt werden dürfte.« Sie hatte das Baldwin schon oft erklärt, doch es schien seinen Zorn nie zu dämpfen.
»Die Hexen haben diesen Tieren geholfen, Philippe gefangenzunehmen. Als die Nazis ihn erst in ihren Händen hatten, experimentierten sie an ihm herum, um festzustellen, wie viel ein Vampir erträgt, bevor er stirbt. Und die Hexen verhinderten mit ihren Zaubersprüchen, dass wir ihn finden und befreien konnten.«
»Philippes Körper konnten sie nicht zerstören, dafür zerstörten sie seine Seele.« Matthew klang leer. »Mein Gott, Baldwin. Sie könnten Diana dasselbe antun.«
Falls ihr die Hexen körperliche Schmerzen zufügten, würde sie sich möglicherweise davon erholen. Aber wenn die Hexen ihren Lebenswillen brachen, wäre sie nie wieder dieselbe. Er schloss die Augen angesichts der Vorstellung, dass Diana vielleicht nicht als die eigensinnige, starrköpfige Person zurückkehren könnte, die er lieben gelernt hatte.
»Na und?« Baldwin schleuderte seinen Bruder angewidert zu Boden und stürzte sich auf ihn.
Ein Kupferkessel von der Größe einer klassischen Pauke knallte gegen die Wand. Beide Brüder sprangen auf die Füße.
Marthe stand vor ihnen, die knorrigen Hände in die Hüften gestemmt, und sah sie wütend an.
»Sie ist seine Frau«, erklärte sie Baldwin kurz und bündig.
»Du hast dich mit ihr gepaart?« Baldwin traute seinen Ohren nicht.
»Diana gehört jetzt zu dieser Familie«, bestätigte Ysabeau. »Marthe und ich haben sie aufgenommen. Du musst es auch tun.«
»Niemals«, widersprach er knapp. »Keine Hexe wird je eine de Clermont oder in diesem Haus willkommen sein. Der Paarungsinstinkt ist mächtig, trotzdem ist er nicht stärker als der Tod. Falls die Hexen diese Bishop nicht töten, werde ich das übernehmen.«
Matthew sprang seinem Bruder an die Kehle. Man hörte Fleisch reißen. Baldwin taumelte heulend zurück, eine Hand auf den Hals gepresst.
»Du hast mich gebissen!«
»Ich werde noch viel mehr tun, wenn du noch einmal meine Frau bedrohst!« Matthew atmete schwer, und aus seinen Augen schlugen Flammen.
»Es reicht!« Ysabeau brachte beide zum Schweigen. »Ich habe mittlerweile meinen Mann, eine Tochter und zwei Söhne verloren. Ich werde nicht dulden, dass ihr euch an die Kehle geht, und ich lasse nicht zu, dass Hexen jemanden aus meinem Haus entführen.« Den letzten Satz stieß sie leise zischend aus. »Und vor allem werde ich nicht hier herumstehen und streiten, während die Ehefrau meines Sohnes in der Hand meiner Feinde ist.«
»1944 hast du noch behauptet, dass es nichts bringen würde, sich gegen die Hexen zu stellen. Und sieh dich jetzt an«, ereiferte sich Baldwin, den Blick auf seinen Bruder gerichtet.
»Hier liegt der Fall anders«, erklärte Matthew gepresst.
»Allerdings liegt er anders, da gebe ich dir recht. Nur weil du es mit einer Hexe treiben willst, riskierst du, dass sich die Kongregation in die Angelegenheiten unserer Familie einmischt.«
»Damals hattest nicht du zu entscheiden, ob wir in einen offenen Krieg mit den Hexen eintreten. Diese Entscheidung blieb deinem Vater vorbehalten – und er hat ausdrücklich verboten, etwas zu unternehmen, was den Weltkrieg verlängern würde.« Ysabeau stellte sich hinter Baldwin und wartete, bis er sich zu ihr umdrehte. »Du musst endlich darüber hinwegkommen. Damals haben wir es den menschlichen Behörden überlassen, solche Grausamkeiten zu bestrafen.«
Baldwin sah sie säuerlich an. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du die Sache damals selbst in die Hand genommen, Ysabeau. Wie viele Nazis mussten sterben, bis es dir genügt hat?« Es war eine unverzeihliche Attacke, aber sie hatte ihn über seine Grenzen getrieben.
»Und was Diana angeht«, fuhr Ysabeau ungerührt fort, obwohl ihre Augen warnend glitzerten, »so würde dein Vater jetzt nach ihr suchen, wenn er noch am Leben wäre, Lucius Sigéric Benoit Christophe Baldwin de Clermont. Hexe oder nicht. Er würde sich dafür schämen, dass du es vorziehst, mit deinem Bruder alte Rechnungen zu begleichen.« Jeder der Namen, die Philippe ihm im Lauf der Jahre gegeben hatte, traf ihn wie eine Ohrfeige, und Baldwins Kopf zuckte unter dem Aufprall zur Seite.
Er atmete langsam durch die Nase aus. »Danke für den Rat, Ysabeau, und für die Geschichtsstunde. Diesmal bleibt die Entscheidung glücklicherweise mir überlassen. Matthew wird sich nicht mit diesem Mädchen vergnügen. Ende der Diskussion.« Nachdem er seine Autorität in die Waagschale geworfen hatte, wandte er sich sichtlich erleichtert zum Gehen.
»Dann lässt du mir keine Wahl.« Matthews Antwort ließ ihn erstarren.
»Wahl?«, schnaubte Baldwin. »Du wirst tun, was ich dir sage.«
»Ich mag zwar nicht das Familienoberhaupt sein, aber das hier ist keine Familienangelegenheit mehr.« Plötzlich hatte Matthew begriffen, was Ysabeau mit ihrer vorigen Bemerkung gemeint hatte.
»Schön.« Baldwin zuckte mit den Achseln. »Wenn du meinst, dann zieh in deinen albernen Krieg. Mach dich auf die Suche nach deiner Hexe. Nimm Marthe mit – sie scheint genauso in sie verschossen zu sein wie du. Wenn ihr beide euch unbedingt mit allen Hexen und der gesamten Kongregation anlegen wollt, dann ist das eure Sache. Aber ich werde dich enterben, um die Familie zu schützen.«
»Ich enthebe die de Clermonts jeder Verantwortung für das Wohlergehen von Diana Bishop. Fortan werden die Lazarusritter für ihre Sicherheit bürgen, so wie sie es in der Vergangenheit für andere getan haben.«
Ysabeau wandte sich ab, damit man ihre stolze Miene nicht sah.
»Das ist nicht dein Ernst«, zischte Baldwin. »Wenn du die Bruderschaft einberufst, kommt das einer Kriegserklärung gleich.«
»Wenn du dich so entscheidest, kennst du die Konsequenzen. Ich könnte dich wegen Ungehorsams töten, aber dazu fehlt mir die Zeit. Du hast deine Ländereien und deinen Besitz verwirkt. Verlasse dieses Haus, und gib dein Amtssiegel ab. Noch in dieser Woche wird ein neuer Meister für Frankreich ernannt. Du stehst außerhalb des Schutzes des Ordens und hast sieben Tage Zeit, dir ein neues Heim zu suchen.«
»Versuch mir Sept-Tours abzunehmen«, knurrte Baldwin, »und du wirst es bereuen.«
»Sept-Tours gehört nicht dir. Es gehört den Lazarusrittern. Ysabeau wohnt mit dem Segen der Bruderschaft hier. Ich werde dir noch eine letzte Chance geben, an unseren Maßnahmen teilzuhaben.« Matthews Befehlston duldete keinen Widerspruch. »Baldwin de Clermont. Ich fordere dich auf, getreu dem von dir geleisteten Schwur in die Schlacht zu ziehen, wo du meinem Kommando unterstehen wirst, bis ich dich davon entbinde.«
Er hatte diese Worte seit ewigen Zeiten nicht mehr ausgesprochen oder niedergeschrieben, trotzdem erinnerte sich Matthew genau an jedes einzelne. Die Lazarusritter waren ein unauslöschlicher Teil von ihm, genau wie Diana. Lang nicht mehr benutzte Muskeln spannten sich tief in seinem Leib an, und rostig gewordene Talente begannen sich zu schärfen.
»Die Ritter kommen ihrem Führer nicht zu Hilfe, nur weil den das Liebesglück verlassen hat, Matthew. Wir haben in der Schlacht von Akkon gekämpft. Wir haben den Albigenser Häretikern geholfen, den Angreifern aus dem Norden zu widerstehen. Wir haben die Auflösung des Templerordens und die Vorstöße der Engländer bei Crécy und Agincourt überlebt. Die Lazarusritter waren auf den Schiffen, die bei Lepanto das ottomanische Imperium zurückschlugen, und wir beendeten den Dreißigjährigen Krieg, als wir uns schließlich weigerten, noch länger zu kämpfen. Die Bruderschaft besteht, um das Überleben der Vampire in einer von Menschen dominierten Welt sicherzustellen.«
»Anfangs ging es uns darum, jene zu beschützen, die sich nicht selbst schützen konnten, Baldwin. Unser Heldenmythos war nur ein unerwartetes Nebenprodukt dieser Mission.«
»Vater hätte dir den Orden nicht anvertrauen dürfen, als er starb. Du bist ein Träumer, kein Befehlshaber. Du hast nicht das Rückgrat, schwierige Entscheidungen zu fällen.« Aus jedem Wort sprach Baldwins Verachtung für seinen Bruder, aber sein Blick wirkte bedrückt.
»Diana hat sich an mich gewandt, weil sie Schutz vor ihren eigenen Leuten suchte. Ich werde dafür sorgen, dass sie ihn bekommt – so wie die Ritter die Bürger Jerusalems, Deutschlands und Okzitaniens schützten, als sie bedroht wurden.«
»Niemand wird dir glauben, dass du damit keine persönlichen Ziele verfolgst, genauso wenig, wie sie das 1944 geglaubt hätten. Damals hast du dich anders entschieden.«
»Damals habe ich mich geirrt.«
Baldwin sah ihn entsetzt an.
Matthew holte tief und bebend Luft. »Damals hielt ich mich zurück, weil ich fürchtete, unsere Familiengeheimnisse zu offenbaren, und weil ich den Zorn der Kongregation nicht auf uns ziehen wollte. Damit ermutigte ich unsere Feinde nur, die Familie erneut anzugreifen, und diesen Fehler werde ich bei Diana nicht noch einmal begehen. Die Hexen werden vor nichts zurückschrecken, wenn sie mehr über ihre Kräfte erfahren können. Sie sind bereits in unser Heim eingedrungen und haben eine Hexe daraus verschleppt. Das ist schlimmer als das, was sie Philippe antaten. In den Augen der Hexen war er nur ein Vampir. Als sie Diana geraubt haben, sind sie zu weit gegangen.«
Zunehmend nervös beobachtete Matthew, wie Baldwin über seine Worte nachsann.
»Diana.« Ysabeau lenkte Baldwins Gedanken auf das eigentliche Thema zurück.
Baldwin nickte knapp.
»Danke«, sagte Matthew nur. »Eine Hexe muss sie entführt haben. Als wir es merkten, waren alle Hinweise, in welche Richtung sie verschwunden sein könnten, längst verweht.« Er zog eine zerknitterte Landkarte aus der Tasche. »Hier müssen wir überall noch suchen.«
Baldwins Blick ging über die Gebiete, die Ysabeau und sein Bruder bereits abgesucht hatten, und über die weiten Flächen, die noch blieben. »Den ganzen Bereich habt ihr abgesucht, seit sie entführt wurde?«
Matthew nickte. »Natürlich.«
Baldwin machte keinen Hehl aus seinem Ärger. »Matthew, wann lernst du endlich nachzudenken, bevor du etwas unternimmst? Zeig mir den Garten.«
Matthew und Baldwin gingen nach draußen, während Marthe und Ysabeau im Haus blieben, damit ihr Duft keine noch so schwache Fährte überlagern konnte. Als die beiden Männer weg waren, begann Ysabeau von Kopf bis Fuß zu zittern.
»Das ist zu viel, Marthe. Wenn sie ihr etwas angetan haben …«
»Wir beide haben immer gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde.« Marthe legte mitfühlend die Hand auf die Schulter ihrer Herrin und verschwand dann in die Küche, während Ysabeau nachdenklich am erkalteten Kamin sitzen blieb.
Im Garten richtete Baldwin seinen übermenschlich scharfen Blick auf den Boden und den angebissenen Apfel, der neben einem Büschel Weinraute lag. Ysabeau war so klug gewesen, darauf zu bestehen, dass der Apfel dort liegen blieb. Dank seiner Lage konnte Baldwin erkennen, was seinem Bruder entgangen war. Die Rautenstängel waren leicht gebogen und zeigten auf ein weiteres Büschel von Kräutern und von dort aus auf ein drittes.
»Woher wehte der Wind?« Baldwins Fantasie war bereits erwacht.
»Aus Westen«, erwiderte Matthew und versuchte gleichzeitig zu erkennen, worauf Baldwin hinauswollte. Er gab frustriert seufzend auf. »Das braucht zu viel Zeit. Wir sollten uns aufteilen. Auf diese Weise können wir einen größeren Bereich absuchen. Ich nehme mir noch einmal die Höhlen vor.«
»In den Höhlen ist sie bestimmt nicht.« Baldwin richtete sich aus der Hocke auf und wischte sich den Kräutergeruch von den Händen. »Vampire verstecken sich in Höhlen, Hexen nicht. Außerdem sind sie nach Süden geflogen.«
»Nach Süden? Da ist doch nichts.«
»Jetzt nicht mehr«, bestätigte Baldwin. »Trotzdem muss es dort irgendetwas gegeben haben, sonst wäre die Hexe nicht dorthin geflogen. Wir fragen Ysabeau.«
Die Familie der de Clermonts hatte unter anderem deshalb so lange überlebt, weil jedes ihrer Mitglieder in einer Krise auf die Fähigkeiten der anderen zurückgreifen konnte. Philippe war immer ein Anführer gewesen, eine charismatische Gestalt, die Vampire und Menschen und bisweilen sogar Dämonen überzeugen konnte, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Ihr Bruder Hugh hatte sich durch sein Verhandlungsgeschick ausgezeichnet und alle kriegführenden Parteien an einem Tisch versammeln können, um selbst die tiefsten Konflikte zu schlichten. Godfrey, der jüngste von Philippes vier Söhnen, war ihr Gewissen gewesen und hatte bei jeder Entscheidung die ethischen Konsequenzen aufgezeigt. Baldwin war die Kriegführung zugefallen, mit seinem scharfen Verstand hatte er die Fehler und Schwächen in jedem Plan bloßgelegt. Louisa hatten sie je nach Situation als Köder oder Spionin eingesetzt.
Matthew war, auch wenn das unglaublich erschien, der unerschrockenste Kämpfer in der Familie gewesen. Anfangs hatten seine disziplinlosen Abenteuer mit dem Schwert ihren Vater zum Wahnsinn getrieben, doch mittlerweile wurde etwas in Matthew kalt, sobald er eine Waffe in die Hand nahm, und seither kämpfte er sich mit einer Zähigkeit, die ihn unverletzlich machte, durch jedes Hindernis.
Blieb noch Ysabeau. Jeder unterschätzte sie, bis auf Philippe, der sie entweder als »Generalin« oder »meine Geheimwaffe« bezeichnet hatte. Ihr entging nichts, und ihr Gedächtnis war unfehlbarer als das der Mnemosyne. Die Brüder kehrten ins Haus zurück. Baldwin rief nach Ysabeau und marschierte in die Küche, wo er eine Handvoll Mehl aus einer Schüssel griff und es über Marthes Arbeitstisch verstreute. Er zeichnete die Umrisse der Auvergne in die Mehlfläche und markierte mit festem Daumendruck die Stelle, an der Sept-Tours stand.
»Wohin würde eine Hexe eine andere Hexe bringen, wenn sie von hier aus nach Süden und Westen flöge?«, fragte er.
Ysabeau legte die Stirn in Falten. »Das käme darauf an, warum sie die andere Hexe entführt hat.«
Matthew und Baldwin sahen sich gereizt an. Das war das einzige Problem mit ihrer Geheimwaffe. Nie wollte Ysabeau die Fragen beantworten, die man ihr stellte – sie hatte stets das Gefühl, dass es eine dringendere Frage gab, die zuerst geklärt werden musste.
»Das weißt du doch, Maman«, drängte Matthew. »Die Hexen wollen Diana von mir trennen.«
»Nein, mein Kind. Auseinandersetzungen wie diese sind wie ein Schachspiel. Sie hätten euch jederzeit trennen können. Indem die Hexen in mein Heim eingedrungen sind und meinen Gast verschleppt haben«, sagte Ysabeau und legte eine kalte Hand auf die Wange ihres Sohnes, »wollten die Hexen uns vor Augen führen, wie schwach wir geworden sind.«
»Bitte, Ysabeau. Wo?«
»Von hier bis zum Cantal liegen nur öde Bergzüge und Ziegenpfade«, sagte Ysabeau.
»Also im Cantal?«, fuhr Baldwin dazwischen.
»Ja«, flüsterte sie, und ihr kaltes Blut gefror, als sie sich klarmachte, was das bedeutete.
Im Cantal war Gerbert von Aurillac geboren. Es war seine Heimat, und wenn die de Clermonts dort eindrangen, würden nicht nur die Armeen der Hexen gegen sie stehen.
»Wenn das ein Schachspiel wäre, dann hätten sie uns ins Schach gesetzt, indem sie Diana ins Cantal gebracht haben«, sagte Matthew grimmig. »Aber dafür ist es noch zu früh.«
Baldwin nickte. »Dann haben wir irgendetwas übersehen, das zwischen hier und dort liegt.«
»Da gibt es nur ein paar Ruinen«, sagte Ysabeau.
Baldwin seufzte frustriert. »Warum kann Matthews Hexe sich nicht verteidigen?« In dem Moment trat Marthe in den Raum, die Hände an einem Handtuch trocknend. Sie wechselte einen Blick mit Ysabeau. »Elle est enchantée«, verkündete Marthe mürrisch.
»Das Kind steht unter einem Bann«, pflichtete Ysabeau ihr widerwillig bei. »Davon sind wir überzeugt.«
»Einem Bann?« Matthew zog die Stirn in Falten. Durch einen Bann wurde eine Hexe in unsichtbare Fesseln gelegt. Ein solcher Zauber war unter Hexen genauso unverzeihlich, wie es unter Vampiren das Betreten eines fremden Territoriums war.
»Genau. Es ist nicht so, dass sie sich der Magie verweigern würde. Man hat sie ihr vorenthalten – absichtlich.« Ysabeaus Miene verfinsterte sich.
»Warum?«, rätselte ihr Sohn. »Das ist, als würde man einem Tiger die Reißzähne und sämtliche Klauen ziehen, bevor man ihn in den Dschungel zurückschickt. Warum sollte man jemandem alle Möglichkeiten nehmen, sich zu verteidigen?«
Ysabeau zuckte mit den Achseln. »Ich kann mir viele Wesen vorstellen, die das gern tun würden – und zwar aus den verschiedensten Gründen –, dabei kenne ich diese Hexe kaum. Ruf ihre Familie an. Frag sie.«
Matthew fasste in seine Tasche und zog sein Handy heraus. Er hatte dem Haus in Madison eine Kurzwahltaste zugewiesen, fiel Baldwin auf. Die Hexen am anderen Ende waren beim ersten Läuten am Apparat.
»Matthew?« Die Hexe war außer sich. »Wo ist sie? Sie leidet schreckliche Schmerzen, ich kann das spüren.«
»Wir wissen, wo wir nach ihr suchen müssen, Sarah«, sagte Matthew ruhig, um sie zu beschwichtigen. »Aber erst muss ich ein paar Fragen stellen. Diana setzt ihre magischen Kräfte nicht ein.«
»Das hat sie nicht mehr, seit ihre Mutter und ihr Vater gestorben sind. Was soll das mit alldem zu tun haben?« Sarah war laut geworden. Ysabeau schloss die Augen gegen die schrille Stimme.
»Besteht die Möglichkeit, Sarah – auch wenn das unwahrscheinlich klingt –, dass Diana unter einem Bann steht?«
Am anderen Ende der Leitung blieb es absolut still.
»Einem Bann?«, fragte Sarah schließlich fassungslos. »Natürlich nicht.«
Dann hörten die de Clermonts ein leises Klicken.
»Das war Rebeccas Werk«, erklärte eine zweite Hexe viel leiser. »Ich habe ihr versprochen, dass ich es niemandem verraten würde. Und um jeder Frage zuvorzukommen, ich weiß nicht, was sie getan hat. Rebecca wusste, dass sie und Stephen nicht aus Afrika zurückkommen würden. Sie hatte etwas gesehen, das ihr Todesangst einjagte. Sie sagte mir nur, dass sie Diana beschützen wollte.«
»Wovor beschützen?« Sarah war entsetzt.
»Nicht wovor. Sondern bis wann.« Ems Stimme senkte sich noch weiter. »Rebecca erklärte, sie würde Diana in Sicherheit bringen, bis ihre Tochter ihren Schattenmann gefunden hätte.«
»Ihren Schattenmann?«, wiederholte Matthew.
»Ja«, flüsterte Em. »Sobald Diana mir erzählte, dass sie sich mit einem Vampir trifft, fragte ich mich, ob du der Mann sein könntest, den Rebecca gesehen hatte. Aber dann überschlugen sich die Ereignisse.«
»Hast du etwas gesehen, Emily, das uns vielleicht helfen könnte?«, fragte Matthew.
»Nein. Ich sehe nur Dunkelheit. Diana ist darin. Sie ist nicht tot«, ergänzte sie eilig, als Matthew hörbar Luft holte, »aber sie leidet Schmerzen und ist irgendwie nicht ganz in dieser Welt.«
Baldwin hörte aufmerksam zu und sah Ysabeau mit schmalen Augen an. Ihre so abwegigen Fragen hatten sich als ausgesprochen erhellend erwiesen. Er löste die verschränkten Arme und holte sein Handy aus der Tasche. Von ihnen abgewandt wählte er eine Nummer und murmelte ein paar kurze Sätze in das Gerät. Dann sah er Matthew an und zog den Finger über die Kehle.
»Ich gehe sie jetzt holen«, sagte Matthew. »Wir rufen an, sobald es etwas Neues gibt.« Er legte auf, bevor Sarah oder Em ihn mit Fragen bombardieren konnten.
»Wo sind meine Schlüssel?«, brüllte Matthew schon halb auf dem Weg zur Tür.
Baldwin kam ihm zuvor und versperrte ihm den Weg.
»Beruhige dich, und denk nach«, wies er ihn zurecht und stieß mit dem Fuß einen Hocker auf seinen Bruder zu. »Welche Burgen gab es zwischen hier und dem Cantal? Wir brauchen nur die alten Burgen, die, die auch Gerbert kennt.«
»Jesus, Baldwin, das weiß ich doch nicht mehr. Lass mich durch!«
»Nein. Du musst überlegt vorgehen. Die Hexen haben sie bestimmt nicht in Gerberts Territorium gebracht – nicht wenn sie einen Funken Verstand haben. Falls Diana unter einem Bann steht, dann ist sie auch für andere Hexen ein Rätsel. Sie werden Zeit brauchen, um es zu lösen. Und sie werden das allein tun wollen, ohne dass ihnen ein Vampir dazwischenfunkt. « Zum ersten Mal hatte Baldwin tatsächlich den Namen der Hexe ausgesprochen. »Im Cantal müssten sich die Hexen vor Gerbert verantworten, also sind sie bestimmt außerhalb der Grenze geblieben. Denk nach.« Baldwins letzter Tropfen Geduld verdampfte. »Bei den Göttern, Matthew, die meisten davon hast du selbst gebaut oder entworfen.«
Matthew hastete im Geist die verschiedenen Möglichkeiten durch, verwarf die einen, weil sie zu nahe, und andere, weil sie zu verfallen waren. Dann sah er erschrocken auf. »La Pierre.«
Ysabeaus Mund straffte sich, und Marthe sah ihn entsetzt an. La Pierre war die trutzigste Burg weit und breit gewesen. Sie hatte auf einem Basaltsockel gethront und war von hohen Mauern umgeben, die jeder Belagerung widerstehen konnten.
Über ihnen war zu hören, wie Luft komprimiert und verwirbelt wurde.
»Ein Hubschrauber«, erklärte Baldwin. »Er hat in Clermont-Ferrand auf mich gewartet, um mich wieder nach Lyon zu bringen. Du wirst deinen Garten neu anpflanzen müssen, Ysabeau, aber dieses Opfer wirst du bestimmt gern bringen.«
Die beiden Vampire eilten im Laufschritt aus dem Gebäude und auf den Hubschrauber zu. Sie sprangen hinein und flogen schon bald hoch über der Auvergne. Die Nacht lag unter ihnen wie ein schwarzes Tuch, aus dem nur hier und da das Fenster eines Bauernhofs leuchtete. Sie brauchten über eine halbe Stunde, um zu der Burg zu gelangen, und obwohl die Brüder genau wussten, wo sie stand, konnte der Pilot sie nur mühsam ausmachen.
»Ich kann hier nirgendwo landen!«, rief der Pilot.
Matthew deutete auf eine alte Straße, die von der Burg wegführte. »Wie wäre es mit der da?«, brüllte er ebenfalls. Schon suchte er alle Mauern nach einem Licht oder einer Bewegung ab.
Baldwin befahl dem Piloten, dort niederzugehen, wo Matthew vorgeschlagen hatte, und handelte sich damit einen zweifelnden Blick ein.
Als sie immer noch sechs Meter über dem Boden schwebten, sprang Matthew hinaus und rannte in vollem Tempo auf das Burgtor zu. Baldwin seufzte und sprang ihm hinterher, nachdem er dem Piloten befohlen hatte, nicht wegzufliegen, bis beide wieder an Bord waren.
Matthew war schon in der Burg und rief nach Diana. »Mein Gott, sie steht bestimmt Höllenängste aus«, flüsterte er, als das Echo verhallte, und fuhr sich dabei mit den Fingern durchs Haar.
Baldwin holte ihn ein und packte ihn am Arm. »Wir können das auf zwei Arten tun, Matthew. Entweder wir teilen uns auf und durchsuchen die Burg von oben bis unten. Oder du bleibst fünf Sekunden stehen und überlegst, wo in La Pierre du etwas verstecken würdest.«
»Lass mich los.« Matthew bleckte die Zähne und versuchte die Hand seines Bruders abzuschütteln. Baldwin griff nur noch fester zu.
»Denk nach!«, befahl er. »Das geht schneller, glaub mir.«
Matthew schritt im Geist den Bauplan der Burg ab. Er begann am Eingang, eilte dann nach oben in die verschiedenen Zimmer, auf den Turm, durch die Schlafgemächer, die Audienzräume und die große Halle. Dann arbeitete er sich nach unten vor, wo Küche, Keller und Kerker lagen. Schließlich starrte er seinen Bruder entsetzt an.
»Die Oubliette.« Er rannte los in Richtung Küche.
Baldwins Gesicht erstarrte. »Dieu«, flüsterte er und sah seinem Bruder nach. Was hatte diese Hexe nur getan, dass ihre eigenen Leute sie in ein zwanzig Meter tiefes Loch warfen?
Und falls Diana tatsächlich so kostbar war, würde derjenige, der sie in die Oubliette gesteckt hatte, bald zurückkommen.
Baldwin rannte seinem Bruder nach und hoffte, dass es nicht schon zu spät war. Sonst hätten die Hexen nicht eine, sondern zwei Geiseln in ihrer Gewalt.