8

Ganz im Ernst, der Wagen ist so ein Klischee.« Die Haare klebten mir an den Fingern und knisterten und sprangen, wenn ich sie mir aus dem Gesicht streichen wollte.

Clairmont lehnte an seinem Jaguar und wirkte völlig unzerknautscht und gelöst. Selbst seine Yogasachen, selbstverständlich in Grau und Schwarz, sahen aus wie frisch aus dem Laden, waren aber längst nicht so eng geschneidert wie die Anzüge, die er in der Bibliothek trug.

Ich nahm den schnittigen schwarzen Wagen und den schneidigen schwarzen Vampir in Augenschein und merkte, wie meine Laune schlagartig absackte. Der Tag hatte es nicht gut mit mir gemeint. In der Bibliothek war das Förderband ausgefallen, und es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis ich meine Manuskripte bekommen hatte. Zu meinem Tagungsbeitrag wollte mir immer noch nichts einfallen, und allmählich geriet ich bei jedem Blick auf den Kalender in Panik, weil ich im Geist einen Raum voller Kollegen vor mir sah, die mich mit hochkomplexen Fragen piesackten. Bald hatten wir Oktober, und die Konferenz sollte im November stattfinden.

»Du glaubst, ein Kleinwagen wäre eine bessere Tarnung?« Er streckte die Hand nach meiner Yogamatte aus.

»Eigentlich nicht, nein.« Wie er so im herbstlichen Abendlicht dastand, schrie alles an ihm »Vampir«, trotzdem eilten die Studienanfänger und Professoren an ihm vorbei, ohne dass sich auch nur einer umgedreht hätte. Wenn sie nicht spürten, was er war  – wenn sie nicht sahen, was er war, schließlich war er kaum zu übersehen  –, dann war der Wagen nebensächlich. Ich merkte, wie sich stiller Groll in mir aufstaute.

»Habe ich irgendwas falsch gemacht?« Seine graugrünen Augen sahen mich groß und arglos an. Er öffnete die Autotür und atmete tief ein, als ich mich an ihm vorbeischob.

Sofort ging mein Zorn mit mir durch. »Beschnüffelst du mich etwa?« Seit dem Vortag hatte ich den Verdacht, dass mein Körper ihm alle möglichen Informationen zukommen ließ, die ich lieber für mich behalten wollte.

»Führ mich nicht in Versuchung«, murmelte er und schloss die Tür von außen. Als mir klar wurde, was seine Worte zu bedeuten hatten, stellten sich meine Nackenhaare auf. Er öffnete den Kofferraum und legte meine Matte hinein.

Die Nachtluft strömte in den Wagen, als sich der Vampir auf dem Fahrersitz niederließ. Er verzog seine Stirn zu einem scheinbar mitfühlenden Runzeln. »Schlechten Tag gehabt?«

Ich durchbohrte ihn mit meinem Blick. Clairmont wusste haargenau, wie mein Tag verlaufen war. Auch heute hatte er mit Miriam im Duke-Humfrey-Lesesaal gesessen und alle anderen nichtmenschlichen Geschöpfe von mir ferngehalten. Als wir gingen, um uns fürs Yoga umzuziehen, war Miriam zurückgeblieben, um sicherzustellen, dass uns keine Dämonenprozession folgte  – oder etwas noch Schlimmeres.

Ohne dass er noch einmal versucht hätte, ein Gespräch anzufangen, ließ Clairmont den Wagen an und fuhr die Woodstock Road hinunter. Weit und breit waren nur Wohnhäuser zu sehen.

»Wo fahren wir hin?«, fragte ich misstrauisch.

»Zum Yoga«, antwortete er gleichmütig. »So wie du gelaunt bist, würde ich meinen, du hast es nötig.«

»Und wo findet das Yoga statt?«, wollte ich wissen. Inzwischen waren wir auf dem Land und in Richtung Blenheim unterwegs.

»Hast du es dir anders überlegt?« Ich hörte einen Anflug von Gereiztheit in Matthews Stimme. »Soll ich dich lieber wieder in das Studio an der High Street bringen?«

Mich schauderte, als ich an die wenig inspirierende Yogastunde vom Vorabend dachte. »Auf keinen Fall.«

»Dann entspann dich. Ich werde dich schon nicht entführen. Manchmal ist es ganz angenehm, sich jemandem anzuvertrauen. Außerdem soll es eine Überraschung werden.«

»Pfff«, sagte ich. Er schaltete die Stereoanlage ein, und aus den Lautsprechern ergoss sich klassische Musik.

»Hör auf zu denken, und hör lieber zu«, befahl er. »Es ist unmöglich, bei Mozart angespannt zu bleiben.«

Ich erkannte mich selbst kaum wieder, doch ich ließ mich seufzend in den Sitz sinken und schloss die Augen. Die Bewegungen des Jaguars waren so weich und die Geräusche von draußen so gedämpft, dass ich mich fühlte, als würde ich von unsichtbaren musikalischen Händen angehoben und durch die Luft getragen.

Der Wagen wurde langsamer, und wir hielten vor einem hohen Eisentor, das nicht einmal ich hätte übersteigen können, obwohl ich wirklich geübt war. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine Mauer aus roten Backsteinen, die unregelmäßig geformt und in kompliziert verwobenen Mustern angeordnet waren. Ich setzte mich auf.

»Von hier aus ist es nicht zu sehen«, sagte Clairmont lachend. Er fuhr das Fenster nach unten und tippte eine Zahlenfolge in ein blank poliertes Tastenfeld ein. Ein Laut ertönte, und die Torflügel schwangen auf.

Splitt knirschte unter den Reifen, als wir kurz darauf durch ein zweites Tor rollten, das noch älter war als das erste. Hier waren keine schmiedeeisernen Schnörkel eingearbeitet, dafür verband ein Torbogen Backsteinmauern, niedrige diesmal. Oben auf dem Torbogen thronte wie eine Laterne ein kleiner Aufsatz mit Fenstern nach allen vier Seiten. Links vom Tor stand ein prachtvolles Backsteintorhaus mit verschnörkelten Schornsteinen und Bleiglasfenstern. Auf einer kleinen Messigplakette mit verwittertem Rand die Aufschrift: THE OLD LODGE.

»Wie schön«, hauchte ich.

»Dachte ich mir doch, dass dir das gefällt.« Der Vampir sah ausgesprochen zufrieden aus.

In der langsam dichter werdenden Dunkelheit fuhren wir in einen Park ein. Das Brummen des Motors zersprengte ein kleines Rudel von Hirschen, die sich in den schützenden Schatten verzogen, sobald die Scheinwerfer des Jaguars über sie hinwegstrichen. Wir fuhren über eine geschwungene Auffahrt einen kleinen Hügel hinauf. Als wir oben angekommen waren und die Scheinwerfer in die schwarze Nacht hinausleuchteten, wurden wir langsamer.

»Dort«, sagte Clairmont und deutete mit der linken Hand auf ein zweistöckiges Herrenhaus aus der Tudorzeit. Die Backsteine glühten im Strahl mächtiger Scheinwerfer, die durch das Geäst knorriger alter Eichen hindurch die Fassade des Gebäudes erhellten.

Ich war so perplex, dass ich fluchen musste. Clairmont sah mich verdattert an und begann dann leise zu lachen.

Er lenkte den Wagen auf die kreisrunde Auffahrt und stellte ihn hinter einem nagelneuen Audi-Sportwagen ab. Dort parkten bereits ein Dutzend Wagen, und immer noch schwenkten Scheinwerfer über den Hügel.

»Und du bist sicher, dass ich hierherpasse?« Ich machte seit über zehn Jahren Yoga, aber das hieß nicht, dass ich besonders gut war. Ich war gar nicht auf den Gedanken gekommen, ihn zu fragen, ob das vielleicht eine jener Yogagruppen war, in denen die Teilnehmer auf einem Unterarm balancierten und ihre Füße rückwärts über den Kopf nach vorn streckten.

»Es ist eine gemischte Gruppe«, versicherte er mir.

»Okay.« Trotz seiner lockeren Antwort verstärkte sich meine Angst.

Clairmont holte unsere Yogamatten aus dem Kofferraum. Absichtlich langsam, gerade gingen die letzten Ankömmlinge auf die breite Eingangstür zu, kam er an meine Tür und streckte die Hand aus. Das ist neu, fiel mir auf, bevor ich meine Hand in seine legte. Da war immer noch ein leichtes Unwohlsein, wenn wir uns berührten. Er war so schrecklich kalt, und der Kontrast zwischen unseren Körpertemperaturen ließ mich jedes Mal zurückzucken.

Der Vampir hielt locker meine Hand und zog dann ganz behutsam an, um mir beim Aussteigen zu helfen. Ehe er mich losließ, drückte er sanft aufmunternd meine Finger. Überrascht sah ich ihn an und merkte, dass er ebenso überrascht aussah. Sofort wandten wir beide verwirrt den Blick ab.

Das Gutshaus war erstaunlich gut erhalten. Die Besitzer hatten verhindert, dass spätere Architekten symmetrische georgianische Fenster einsetzten oder protzige viktorianische Wintergärten anfügten. Es war, als hätten wir eine Zeitreise unternommen.

»Unglaublich«, murmelte ich.

Clairmont grinste und schob mich durch eine hohe Holztür, die von einem eisernen Türstopper aufgehalten wurde. Mir stockte der Atem. Von außen war der Bau bemerkenswert, innen war er atemberaubend. In alle Richtungen erstreckten sich matt polierte, warm schimmernde Vertäfelungen, die wie Faltenvorhänge geschnitzt waren. Jemand hatte in dem riesigen Kamin Feuer gemacht. Der lange Tisch und die Bänke fügten sich perfekt in den Stil des Hauses, und allein die elektrische Beleuchtung verriet, dass wir im einundzwanzigsten Jahrhundert geblieben waren.

Vor den Bänken aufgereiht standen Schuhe, und auf den Sitzflächen aus dunkler Eiche türmten sich Berge von Mänteln und Jacken. Clairmont legte seine Schlüssel auf dem Tisch ab und zog die Schuhe aus. Ich streifte meine ebenfalls von den Füßen und folgte ihm.

»Du weißt doch noch, dass ich gesagt habe, es sei eine gemischte Gruppe?«, fragte der Vampir, als wir vor einer Tür standen, die in die Vertäfelung eingelassen war. Ich sah auf und nickte. »Das stimmt auch. Trotzdem gibt es nur einen Weg, in diesen Raum zu kommen  – du musst einer von uns sein.«

Noch ehe ich antworten konnte, zog er die Tür auf. Dutzende neugieriger Blicke richteten sich drückend, kribbelnd und eisig auf mich. Der Raum war voller Dämonen, Hexen, Vampire. Sie saßen auf grellbunten Matten  – teils im Schneidersitz, teils kniend  – und warteten darauf, dass die Stunde anfing. Ein paar Dämonen trugen Kopfhörer. Die Hexen unterhielten sich leise. Die Vampire saßen reglos und mit ausdrucksloser Miene da.

Mir klappte der Kiefer nach unten.

»Entschuldige«, sagte Clairmont. »Ich hatte Angst, dass du nicht mitkommen würdest, wenn ich es dir verraten hätte  – und es ist wirklich der beste Yogakurs in ganz Oxford.«

Eine große Hexe mit kurzem, lackschwarzem Haar und milchkaffeebrauner Haut kam auf uns zu, und alle anderen wandten sich wieder ab, um sich erneut in ihre Meditation zu versenken. Clairmont, der sich bei unserem Eintritt kurz angespannt hatte, entspannte sich spürbar, als die Hexe vor uns stehen blieb.

»Matthew.« Ihre rauchige Stimme war von einem indischen Akzent unterlegt. »Willkommen.«

»Amira.« Er nickte zur Begrüßung. »Das ist die Frau, von der ich dir erzählt habe, Diana Bishop.«

Die Hexe betrachtete mich eingehend und schien dabei jedes Detail meines Gesichtes zu studieren. Sie lächelte. »Diana. Schön, dass du gekommen bist. Hast du schon einmal Yoga gemacht?«

»Ja.« Frisch erwachte Angst brachte mein Herz zum Pochen. »Aber hier war ich noch nie.«

»Willkommen in der Old Lodge«, sagte sie mit einem herzlichen, breiten Lächeln.

Ich fragte mich, ob irgendwer hier von Ashmole 782 wusste, aber ich konnte kein vertrautes Gesicht entdecken, und die Atmosphäre wirkte offen und freundlich, ohne dass ich etwas von den Spannungen gespürt hätte, die sich gewöhnlich zwischen den unterschiedlichen Geschöpfen aufstauten. Trotzdem war mir beinahe übel vor Aufregung.

Eine warme, feste Hand umschloss mein Handgelenk, und augenblicklich schlug mein Herz langsamer und mir wurde wohler. Ich sah Amira erstaunt an. Wie hatte sie das angestellt?

Sie ließ mein Handgelenk los, doch mein Puls blieb ruhig. »Ich hoffe, dass ihr beide euch wohlfühlen werdet«, sagte sie zu Clairmont. »Macht es euch bequem, dann fangen wir an.«

Wir rollten unsere Matten hinten im Raum aus, dicht bei der Tür. Rechts von mir war ein Platz frei, aber daneben saßen zwei Dämonen mit geschlossenen Augen in der Lotusposition. Meine Schulter kribbelte. Ich schreckte auf und fragte mich, wer mich wohl beobachtete. Sofort verschwand das Gefühl wieder.

Entschuldige, hörte ich eine schuldbewusste Stimme deutlich in meinem Kopf.

Die Stimme kam vom vorderen Ende des Raumes, aus derselben Richtung wie das Kribbeln. Amira sah jemanden in der ersten Reihe streng an, dann rief sie den Kurs zur Ordnung.

Aus reiner Gewohnheit nahm ich den Schneidersitz ein, sobald sie zu sprechen begann, und nach ein paar Sekunden folgte Clairmont meinem Beispiel.

»Bitte schließt jetzt die Augen.« Amira drückte auf eine winzige Fernbedienung, und aus Wänden und Decken strömten die leisen Klänge eines meditativen Gesanges. Es schien etwas Mittelalterliches zu sein, und einer der Vampire seufzte glücklich auf.

Mein Blick wanderte über den kunstvollen Stuck an der Decke des Raumes, der einst als Versammlungshalle gedient haben musste.

»Schließt die Augen«, wiederholte Amira freundlich. »Manchmal ist es nicht einfach, unsere Sorgen, unsere Gedanken, unser Ego loszulassen. Genau darum aber sind wir heute Abend hier.«

Die Worte klangen vertraut  – Variationen zu diesem Thema hatte ich schon in anderen Yogakursen gehört  –, aber in diesem Raum gewannen sie eine neue Bedeutung.

»Wir sind heute Abend hier, um zu lernen, wie wir mit unserer Energie haushalten können. Die meiste Zeit kämpfen wir angestrengt darum, jemand zu sein, der wir nicht sind. Lasst diese Wünsche los. Lernt zu schätzen, wer ihr seid.«

Amira führte uns durch ein paar sanfte Dehnübungen und ließ uns hinknien, damit sich unsere Wirbelsäule erwärmte, bevor wir uns erhoben und in den Herabschauenden Hund vorbeugten. Wir hielten die Position ein paar Atemzüge lang, dann trippelten die Hände zu den Füßen zurück, und wir richteten uns wieder auf.

»Verwurzelt eure Füße in der Erde«, wies sie uns an, »und geht in die Bergposition.«

Ich konzentrierte mich auf meine Füße und spürte einen unerwarteten Energiestoß aus dem Boden. Sofort riss ich meine Augen wieder auf.

Wir folgten Amira durch die Vinyasas. Wir schwangen die Arme zur Decke hoch, bevor wir unsere Hände neben den Füßen absetzten. Wir streckten uns in die Waagerechte, ließen ein Bein zwischen den Händen und schoben es dann nach hinten, als wollten wir Liegestütze machen. Dutzende von Dämonen, Vampiren und Hexen reckten und beugten ihre Körper in eleganten, auf- und abwärtsgerichteten Bewegungen. Wir richteten uns wieder auf und hoben die Arme erneut über unsere Köpfe, bevor wir schließlich sanft die Handflächen aufeinanderlegten. Dann ließ uns Amira den Zyklus in unserem eigenen Tempo absolvieren. Sie drückte einen Knopf auf ihrer Fernbedienung, und eine langsame, melodische Version von Elton Johns Rocket Man, seltsamerweise passte der Song perfekt, erfüllte den Raum.

Ich wiederholte die vertrauten Bewegungsabläufe im Rhythmus der Musik, atmete in meine verspannten Muskeln und ließ vom Fluss der Bewegungen alle Gedanken aus meinem Kopf schwemmen. Nachdem wir den Ablauf zum dritten Mal in Angriff genommen hatten, verstärkte sich die Energie im Raum.

Drei Hexen schwebten einen halben Meter über den Holzdielen.

»Bleibt geerdet«, sagte Amira sachlich.

Zwei senkten sich lautlos nieder. Der dritte, ein Hexer, musste eine Art Kopfsprung ausführen, um wieder auf den Boden zu gelangen, und er kam mit den Händen vor den Füßen auf.

Sowohl die Dämonen als auch die Vampire hatten Probleme mit dem Tempo. Ein paar Dämonen bewegten sich so langsam, dass ich mich schon fragte, ob sie festhingen. Die Vampire hatten das gegenteilige Problem, ihre kraftvollen Muskeln zogen sich ruckartig zusammen und lösten sich genauso abrupt wieder.

»Ganz sanft«, murmelte Amira. »Nichts überstürzen, nichts erzwingen.«

Allmählich kam die Energie im Raum wieder zur Ruhe. Amira führte uns durch eine Reihe von aufrechten Positionen. Hier waren die Vampire eindeutig im Vorteil, da sie jede Stellung mühelos minutenlang halten konnten. Bald war es mir egal, wer mit mir im Raum war oder ob ich vielleicht nicht gut genug war für diesen Kurs. Es gab nur noch den Augenblick und die Bewegung.

Als wir uns schließlich zu den Rückenübungen und Umkehrungen auf den Boden legten, waren alle im Raum durchgeschwitzt  – alle außer den Vampiren, die nicht einmal außer Atem geraten waren. Einige Teilnehmer begaben sich in todesmutige Balancepositionen oder Handstände, aber ich gehörte nicht dazu. Clairmont allerdings schon. Einmal sah ich aus dem Augenwinkel, wie er nur mit dem Ohr den Boden zu berühren schien, während der ganze Körper in perfektem Einklang darüber thronte.

Am schwersten fiel mir regelmäßig die letzte Übung  – die Totenstellung oder Savasana. Flach auf dem Rücken zu liegen, ohne mich zu bewegen, war mir fast unmöglich. Dass jeder andere die Stellung so entspannend fand, verstärkte meine Ängste nur. Ich blieb so still wie möglich liegen, hatte die Augen geschlossen und gab mir Mühe, nicht zu zucken. Leise Schritte näherten sich und blieben zwischen mir und dem Vampir stehen.

»Diana«, flüsterte Amira. »Diese Position ist nichts für dich. Leg dich auf die Seite.«

Meine Lider flogen auf. Zutiefst beschämt, dass sie mein Geheimnis aufgedeckt hatte, blickte ich in die großen schwarzen Augen der Hexe.

»Roll dich ein.« Verblüfft befolgte ich ihre Anweisung. Augenblicklich entspannte sich mein Körper. Sie tätschelte mir leicht die Schulter. »Und lass die Augen ruhig offen.«

Ich lag mit dem Gesicht zu Clairmont. Amira drehte das Licht herunter, doch seine weiß schimmernde Haut leuchtete so, dass ich sein Gesicht gut erkennen konnte.

Im Profil sah er aus wie einer der steinernen mittelalterlichen Ritter auf den Grabstätten in der Westminster Abbey: lange Beine, langer Rumpf, lange Arme und ein erstaunlich kräftiges Gesicht. Er strahlte etwas Altertümliches aus, dabei schien er nur ein paar Jahre älter zu sein als ich. Insgeheim fuhr ich mit einem imaginären Finger seine Stirn nach, vom ungleichmäßigen Haaransatz an den Schläfen aus nach oben über den leicht hervorstehenden Augenbrauenbogen mit den dichten, schwarzen Brauen. Anschließend strich mein imaginärer Finger über seine Nasenspitze und die geschwungenen Lippen.

Ich zählte seine Atemzüge ab. Bei zweihundert hob sich sein Brustkorb. Danach senkte er sich lange, lange nicht mehr.

Schließlich erklärte uns Amira, dass es Zeit sei, wieder in die Welt draußen zurückzukehren. Matthew schlug die Augen auf. Seine Miene war sehr weich. Um uns herum geriet alles in Bewegung, aber in diesem Moment galten für mich keine sozialen Normen. Ich blieb, wo ich war, und sah dem Vampir in die Augen. Matthew wartete reglos ab und beobachtete, wie ich ihn beobachtete. Als ich mich aufsetzte, floss das Blut so abrupt in meinem Körper zurück, dass sich alles um mich herum zu drehen begann.

Endlich kam der Raum wieder zur Ruhe. Amira schloss die Übung mit einem Meditationsgesang und läutete mit ein paar winzigen Silberglöckchen, die an ihren Fingern hingen. Die Stunde war zu Ende.

Leises Gemurmel erfüllte den Raum, als Vampire Vampire und Hexen Hexen begrüßten. Die Dämonen waren umtriebiger, vereinbarten mitternächtliche Treffen in den diversen Clubs rund um Oxford oder erkundigten sich, wo der beste Jazz gespielt wurde. Sie folgten dem Strom der Energie, erkannte ich lächelnd und musste daran denken, wie Agatha beschrieben hatte, was eine Dämonenseele bewegte. Zwei Investmentbanker aus London  – beide Vampire  – unterhielten sich über eine ungelöste Mordserie in der Stadt. Ich musste an die Toten in Westminster denken und merkte, wie ich nervös wurde. Als Matthew ihnen einen finsteren Blick zuwarf, begannen sie stattdessen auszumachen, wo sie sich morgen zum Mittagessen treffen würden.

Jeder, der ging, musste an uns vorbei. Die Hexen nickten uns neugierig zu. Selbst die Dämonen sahen uns kurz in die Augen, grinsten und tauschten vielsagende Blicke. Die Vampire ignorierten mich betont, doch jeder Einzelne von ihnen grüßte Clairmont.

Schließlich waren nur noch Amira, Matthew und ich im Raum. Sie rollte ihre Matte zusammen und kam barfuß auf uns zu. »Du machst dich gut, Diana«, sagte sie.

»Danke, Amira. Diese Stunde werde ich bestimmt nie vergessen.«

»Du kannst jederzeit wiederkommen. Mit oder ohne Matthew.« Sie tippte ihm leicht auf die Schulter. »Du hättest sie warnen sollen.«

»Ich hatte Angst, dass Diana dann nicht kommen würde. Und ich war überzeugt, dass es ihr gefallen würde, wenn sie es ausprobiert.« Er sah mich unsicher an.

»Macht die Lichter aus, wenn ihr geht, in Ordnung?«, rief uns Amira über die Schulter zu und verschwand.

Mein Blick wanderte durch dieses makellose Juwel eines Rittersaales. »Jedenfalls war es eine Überraschung«, sagte ich trocken, weil ich ihn noch nicht vom Haken lassen wollte.

Im nächsten Moment stand er lautlos hinter mir. »Hoffentlich eine angenehme. Hat dir die Stunde gefallen?«

Ich nickte bedächtig und drehte mich um, um ihm zu antworten. Er war beunruhigend nahe, und er war so viel größer als ich, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, wenn ich ihm nicht auf die Brust starren wollte. »Und wie.«

Auf Matthews Gesicht leuchtete jenes Lächeln auf, das mein Herz jedes Mal ins Stolpern brachte. »Da bin ich aber froh.« Nur mit Mühe konnte ich mich dem Sog seiner Augen entziehen. Um den Bann zu brechen, bückte ich mich und begann, meine Matte einzurollen. Matthew schaltete das Licht aus und klemmte seine Matte unter den Arm. Im Vorraum, wo das Feuer zu einem Gluthaufen niedergebrannt war, schlüpften wir in unsere Schuhe.

Er nahm seine Schlüssel. »Kann ich dich zu einer Tasse Tee überreden, bevor wir nach Oxford zurückfahren?«

»Wo?«

»Wir gehen ins Torhaus«, erklärte Matthew beiläufig.

»Es gibt dort ein Café?«

»Nein, aber eine Küche. Einen Tisch zum Hinsetzen auch. Und Tee kann ich immerhin kochen«, neckte er mich.

»Matthew«, sagte ich schockiert, »ist das etwa dein Haus?«

Inzwischen standen wir in der Tür und überblickten den Innenhof. Mein Blick fiel auf den Scheitelstein über dem Tor: 1536.

»Ich habe es gebaut«, erklärte er und beobachtete mich genau dabei.

Matthew Clairmont war mindestens fünfhundert Jahre alt.

»Ein Beutegut der Reformation«, fuhr er fort. »Heinrich überließ mir das Land unter der Bedingung, dass ich die Abtei schleife, die hier stand, und stattdessen etwas Neues baue. Ich rettete, so viel ich konnte, aber allzu viel durfte ich mir nicht erlauben. Der König war in jenem Jahr grauenhaft schlecht gelaunt. Hier und da finden sich noch ein paar Engel und etwas Mauerwerk, das ich beim besten Willen nicht zerstören konnte. Abgesehen davon ist es ein kompletter Neubau.«

»Ich habe noch nie gehört, dass jemand ein Haus, das Anfang des sechzehnten Jahrhunderts errichtet wurde, als ›Neubau‹ bezeichnet.« Ich versuchte das Haus nicht nur durch Matthews Augen zu sehen, sondern auch als einen Teil von ihm. Dies war das Haus, in dem er vor fast fünfhundert Jahren hatte leben wollen. Es strahlte Ruhe aus, genau wie er. Mehr noch, es war bodenständig und solide. Nirgendwo gab es irgendwelche Schnörkel  – keine Verzierungen, keinerlei Ablenkung.

»Es ist wunderschön«, sagte ich nur.

»Inzwischen ist es zu groß, um noch darin zu leben«, erwiderte er, »und außerdem zu baufällig. Jedes Mal, wenn ich ein Fenster öffne, fällt mir irgendetwas entgegen, auch wenn ich mir wirklich Mühe gebe, die Substanz zu erhalten. Ich lasse Amira in einigen der Räume wohnen, außerdem darf sie das Haus ein paarmal pro Woche ihren Schülern öffnen.«

»Du wohnst im Torhaus?«, fragte ich, während wir über den mit Kopf- und Backsteinen gepflasterten Hof zu seinem Auto gingen.

»Teilweise. Unter der Woche wohne ich in Oxford, aber am Wochenende bin ich hier. Hier ist es stiller.«

Ich konnte mir vorstellen, dass es für einen Vampir ziemlich anstrengend sein musste, unter lauter jungen Studenten zu wohnen, deren Gespräche er wohl oder übel mithören musste.

Wir stiegen wieder in den Wagen und fuhren die kurze Strecke zum Torhaus. Früher hatte es als Gesicht des ganzen Anwesens gedient und war darum mit etwas mehr Stuck und Ornamenten versehen als das Haupthaus. Ich studierte die gedrehten Kamine und die kunstvollen Muster im Mauerwerk.

Matthew stöhnte. »Ich weiß. Die Kamine waren ein Fehler. Der Steinmetz wollte sich um jeden Preis selbst verwirklichen. Sein Cousin arbeitete für Wolsley in Hampton Court, und der Mann war einfach nicht davon abzubringen.«

Er drückte den Lichtschalter neben der Tür, und der Hauptraum des Torhauses wurde in goldenes Licht getaucht. Der Boden war mit praktischen Steinplatten gefliest, außerdem gab es einen riesigen gemauerten Kamin, in dem man einen Ochsen hätte braten können.

»Ist dir kalt?« Matthew war schon unterwegs ans andere Ende des Raumes, wo eine elegante, moderne Küche eingebaut worden war. Sie wurde eher vom Kühlschrank als vom Herd beherrscht. Ich malte mir lieber nicht aus, was er darin aufbewahren mochte.

»Ein bisschen.« Ich kuschelte mich in meinen Pullover. Es war für die Jahreszeit immer noch relativ warm in Oxford, aber auf meinem trocknenden Schweiß fühlte sich die Nachtluft kalt an.

»Dann mach das Feuer an«, schlug Matthew vor. Es war schon vorbereitet, und ich entzündete es mit einem langen Streichholz, das ich aus einem antiken Zinnhumpen zog.

Während Matthew Wasser aufsetzte, ging ich umher und nahm die Atmosphäre des Raumes in mich auf. Hauptsächlich braunes Leder und dunkles, poliertes Holz, das sich gut auf dem alten Steinboden machte. Ein alter Teppich in warmem Rot, Blau und Ocker setzte ein paar farbige Akzente. Über dem Kaminsims übergroß das Bildnis einer dunkelhaarigen Schönheit aus dem siebzehnten Jahrhundert, die in einem gelben Gewand porträtiert worden war. Es war mit Sicherheit von Sir Peter Lely gemalt.

Matthew bemerkte mein Interesse. »Meine Schwester Louisa«, sagte er und kam mit einem reich bestückten Teetablett hinter der Küchentheke hervor. Er sah zur Leinwand auf, und ein Anflug von Trauer zog über sein Gesicht. »Dieu, sie war so schön.«

»Was wurde aus ihr?«

»Sie ging nach Barbados, weil sie zur Königin der Westindischen Inseln aufsteigen wollte. Wir warnten sie, dass ihre Vorliebe für junge Männer auf einer so kleinen Insel nicht lange unbemerkt bleiben würde, aber sie wollte nicht hören. Louisa liebte das Leben auf den Plantagen. Sie investierte in Zucker  – und Sklaven.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Bei einem der zahlreichen Aufstände auf der Insel beschlossen die anderen Plantagenbesitzer, sie loszuwerden, auch weil sie ahnten, was sie war. Sie schnitten Louisa den Kopf ab und zerhackten ihren Körper in kleine Stücke. Dann verbrannten sie die Überreste und schoben alles auf die Sklaven.«

»Das tut mir schrecklich leid«, sagte ich und wusste gleichzeitig, dass Worte einem solchen Verlust nicht gerecht werden konnten.

Er setzte ein kleines Lächeln auf. »Der Tod war ehrlich gesagt nicht grausamer als die Frau, die ihn erlitt. Ich habe meine Schwester geliebt, aber sie hat es mir nicht einfach gemacht. Sie kostete jedes Laster jeder Altersstufe aus, die sie durchlebte. Wenn es irgendwo zu Ausschweifungen kam, war Louisa dort zu finden.« Matthew schloss kurz die Augen, als wollte er das kalte, bezaubernde Gesicht seiner Schwester loswerden. »Schenkst du uns ein?«, fragte er. Er hatte das Tablett auf einem niedrigen polierten Eichentisch abgestellt, der zwischen zwei dick gepolsterten Ledersofas vor dem Kamin stand.

Nur allzu gern kam ich seiner Bitte nach, war ich doch froh, ihn abzulenken, obwohl ich mit meinen Fragen mehr als nur einen Abend hätte füllen können. Unter Louisas großen schwarzen Augen bemühte ich mich, nichts auf der glänzenden Tischplatte zu verschütten  – nur für den Fall, dass der Tisch früher ihr gehört hatte. Matthew hatte auch an den großen Krug Milch und den Zucker gedacht, und so präparierte ich meinen Tee, bis er genau die richtige Farbe hatte, bevor ich mich seufzend in die Polster sinken ließ.

Matthew hielt seine Tasse höflich zwischen den Fingern, ohne sie auch nur einmal an die Lippen zu setzen.

»Meinetwegen brauchst du das nicht zu tun, weißt du?«, sagte ich und sah dabei auf seine Tasse.

»Ich weiß.« Er zuckte mit den Achseln. »Es ist eine alte Gewohnheit, und ich finde das Ritual beruhigend.«

»Wann hast du angefangen, Yoga zu machen?«, wechselte ich das Thema.

»Damals, als Louisa nach Barbados zog, ging ich nach Indien und fand mich während des Monsuns in Goa wieder. Dort gab es eigentlich kaum etwas zu tun, außer sich zu betrinken und mehr über das Land zu erfahren. Die Yogis waren damals anders, viel spiritueller als die meisten Lehrer heute. Amira habe ich vor ein paar Jahren kennengelernt, als ich auf einer Konferenz in Mumbai eine Rede hielt. Mir war sofort klar, dass in ihr die Weisheit der alten Yogis weiterlebte, außerdem teilte sie nicht die Bedenken vieler Hexen, mit Vampiren zu fraternisieren.« In seiner Stimme lag ein Anflug von Verbitterung.

»Du hast sie eingeladen, nach England zu kommen?«

»Ich erklärte ihr, welche Möglichkeiten sie hier hätte, und sie war einverstanden, es zu versuchen. Inzwischen ist sie seit fast zehn Jahren hier, und der Kurs ist jede Woche voll. Natürlich gibt Amira auch Privatstunden, hauptsächlich für Menschen.«

»Ich habe noch nicht erlebt, dass Hexen, Vampire und Dämonen etwas gemeinsam machen  – und schon gar kein Yoga«, gestand ich. »Wenn du mir erzählt hättest, dass so etwas möglich sei, hätte ich dir nicht geglaubt.«

»Amira ist Optimistin, und sie liebt Herausforderungen. Anfangs war es nicht einfach. In den ersten Jahren wollten die Vampire auf keinen Fall in einem Raum mit den Dämonen bleiben, und natürlich traute niemand den Hexen über den Weg, als die auch noch auftauchten.« Seine Stimme verriet seine eigenen tief verwurzelten Vorurteile. »Inzwischen haben die meisten hier eingesehen, dass unsere Gemeinsamkeiten größer sind als die Unterschiede, und wir begegnen einander mit höflichem Respekt.«

»Wir sehen vielleicht ähnlich aus«, sagte ich, nahm einen Schluck Tee und zog die Knie an die Brust, »aber wir empfinden ganz bestimmt nicht ähnlich.«

»Wie meinst du das?« Matthew sah mich aufmerksam an.

»Wie wir spüren, dass jemand einer von uns ist  – ein nichtmenschliches Geschöpf«, erwiderte ich verwirrt. »Der leise Druck, das Kribbeln, die Kälte.«

Matthew schüttelte den Kopf. »Nein, das spüre ich nicht. Ich bin keine Hexe.«

»Du spürst nichts, wenn ich dich ansehe?«, fragte ich.

»Nein. Spürst du etwas?« Sein argloser Blick löste die vertraute Reaktion auf meiner Haut aus.

Ich nickte.

»Erzähl mir, wie es sich anfühlt.« Er beugte sich vor. Oberflächlich wirkte alles ganz normal, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass da eine Falle lauerte.

»Es fühlt sich … kalt an«, antwortete ich langsam und ohne recht zu wissen, wie viel ich verraten sollte. »Als würde etwas unter meiner Haut vereisen.«

»Das hört sich unangenehm an.« Leichte Falten durchzogen seine Stirn.

»Ist es aber nicht«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Nur ein bisschen eigenartig. Bei den Dämonen ist es schlimmer  – wenn die mich ansehen, fühlt es sich an, als würde ich geküsst.« Ich verzog das Gesicht.

Lachend stellte Matthew seine Tasse auf dem Tisch ab. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und beugte sich vor. »Du setzt deine Hexenkräfte also sehr wohl ein.«

Die Falle war zugeschnappt.

Wütend sah ich zu Boden, bestimmt war ich knallrot geworden. »Ich wünschte, ich hätte Ashmole 782 nie aufgeschlagen und nie dieses verfluchte Journal vom Regal geholt! Damit habe ich in diesem Jahr fünfmal meine magischen Kräfte eingesetzt, und dabei zählt die Waschmaschine eigentlich gar nicht, weil das Wasser sonst alles überschwemmt und die Wohnung unter meiner verwüstet hätte.«

Er hob kapitulierend die Hände. »Diana, es ist mir egal, ob du deine Magie einsetzt oder nicht. Aber es überrascht mich, wie oft du es tust.«

»Ich setze keine Magie oder Hexenkräfte ein oder wie du es auch nennen willst. Das bin nicht ich.« Mein Gesicht glühte.

»Das bist du sehr wohl. Es liegt dir im Blut. Es steckt dir in den Knochen. Du wurdest als Hexe geboren, so wie du mit blonden Haaren und blauen Augen geboren wurdest.«

Noch nie hatte ich jemandem begreiflich machen können, warum ich einen so großen Bogen um die Magie machte. Sarah und Em hatten das nicht verstanden. Matthew würde es auch nicht verstehen. Mein Tee wurde langsam kalt, und mein Körper blieb zu einem festen Ball zusammengerollt, als könnte ich dadurch seinen kritischen Blick abwehren.

»Ich will das aber nicht«, presste ich schließlich hervor. »Und ich habe nie darum gebeten.«

»Was stört dich daran? Du warst heute Abend sehr froh über Amiras empathische Fähigkeiten. Das ist ein entscheidender Teil ihrer Magie. Eine talentierte Hexe zu sein ist auch nicht schlimmer als ein talentierter Musiker zu sein oder Gedichte verfassen zu können  – nur anders.«

»Ich will aber nicht anders sein«, wehrte ich mich. »Ich will ein einfaches, gewöhnliches Leben, so wie es die Menschen führen. Eines, in dem Tod und Gefahr keine Rolle spielen und in dem ich keine Angst zu haben brauche, entdeckt zu werden, dachte ich, den Mund fest vor den Worten verschlossen. »Du musst dir doch auch wünschen, normal zu sein.«

»Als Wissenschaftler kann ich dir versichern, Diana, dass es so etwas wie Normalität nicht gibt.« Auf einmal klang er gar nicht mehr vorsichtig und sanft. »Normalität ist eine Fiktion  – ein Märchen  –, das sich die Menschen gegenseitig erzählen, um sich besser zu fühlen, wenn sie sich den unbestreitbaren Beweisen gegenübersehen, dass das meiste, was passiert, ganz und gar nicht ›normal‹ ist.«

Nichts, was er sagte, konnte meine Überzeugung erschüttern, dass es gefährlich war, als nichtmenschliches Geschöpf in einer von Menschen dominierten Welt zu leben.

»Diana, sieh mich an.«

Wider besseres Wissen tat ich es.

»Du versuchst die Magie zu verdrängen, so wie es deiner Überzeugung nach die Wissenschaftler vor Hunderten von Jahren taten. Das Problem ist«, fuhr er bedächtiger fort, »dass es nicht funktioniert hat. Nicht einmal die Menschen unter ihnen konnten die Magie ganz und gar aus ihrer Welt verbannen. Du hast das selbst gesagt. Sie kehrt immer wieder zurück.«

»Hier liegt die Sache anders«, flüsterte ich. »Hier geht es um mein Leben. Und über mein Leben kann ich bestimmen.«

»Die Sache liegt überhaupt nicht anders.« Er sagte das ruhig und überzeugt. »Du kannst versuchen, die Magie von dir fernzuhalten, aber das wird nicht funktionieren, genauso wenig, wie es bei Robert Hooke oder Isaac Newton funktioniert hat. Beide wussten genau, dass es eine Welt ohne Magie nicht geben kann. Hooke war ein brillanter Kopf, er war in der Lage, wissenschaftliche Probleme in drei Dimensionen zu durchdenken, er konstruierte Instrumente und Experimente. Aber er blieb immer unter seinen Möglichkeiten, weil er die Mysterien der Natur fürchtete. Newton? Nie wieder habe ich jemanden mit einem so furchtlosen Intellekt getroffen. Newton fürchtete sich nicht vor dem, was unsichtbar oder nicht zu erklären war  – er war für alles offen. Als Historikerin weißt du, dass ihn letztlich die Alchemie und sein Glaube an unsichtbare, mächtige Kräfte des Wachstums und Wandels zur Theorie der Schwerkraft geführt haben.«

»Dann bin ich in dieser Geschichte Robert Hooke«, sagte ich. »Ich will keine Legende wie Newton sein.« Oder wie meine Mutter.

»Vor lauter Angst wurde Hooke schließlich bitter und neidisch«, warnte mich Matthew. »Er fürchtete sich sein Leben lang und entwarf immer nur Experimente für andere. So will niemand leben.«

»Magie hat in meiner Arbeit nichts zu suchen«, widersprach ich störrisch.

»Du bist kein Hooke, Diana.« Matthews Stimme war rau geworden. »Er war nur ein Mensch, und er ruinierte sein Leben, weil er versuchte, dem Lockruf der Magie zu widerstehen. Du bist eine Hexe. Wenn du dasselbe versucht, wird dich das zerstören.«

Kalte Angst bohrte sich in meine Gedanken und ließ mich auf Abstand zu Matthew Clairmont gehen. Er war betörend, und er stellte es so dar, als könnte ein magisches Wesen ohne Sorgen oder Nachteile ein magisches Wesen sein. Zu dumm, dass er ein Vampir war und man ihm nicht trauen konnte. Außerdem irrte er sich, was die Magie anging. Er musste sich irren. Andernfalls hätte ich mein Leben lang einen fruchtlosen Kampf gegen einen imaginären Feind geführt.

Dass ich mich fürchtete, hatte ich mir letztendlich selbst zuzuschreiben. Ich hatte die Magie in mein Leben gelassen  – gegen meine Prinzipien  –, und mit ihr hatte sich ein Vampir eingeschlichen. Dutzende von Kreaturen waren gefolgt. Ich musste daran denken, dass ich ohne Magie meine Eltern nicht verloren hätte, und merkte, wie sich in meinen flachen Atemzügen und dem nervösen Prickeln auf der Haut eine Panikattacke ankündigte.

»Ich lebe ohne Magie, weil ich nur so überleben kann, Matthew.« Ich atmete tief und langsam aus und ein, damit sich die Angst nicht festsetzen konnte, aber das war nicht so einfach, solange die Geister meiner Mutter und meines Vaters im Raum schwebten.

»Du lebst eine Lüge  – und zwar eine wenig überzeugende. Du glaubst, dass du als Mensch durchgehen könntest.« Matthew sagte das ganz sachlich, fast gefühllos. »Damit kannst du höchstens dir selbst etwas vormachen. Ich habe gesehen, wie sie dich beobachten. Sie wissen, dass du anders bist.«

»Unfug.«

»Du brauchst Sean nur anzusehen, und schon verschlägt es ihm die Sprache.«

»Er war in mich verknallt, als wir noch Studenten waren«, versuchte ich das abzutun.

»Sean ist immer noch in dich verknallt  – darum geht es nicht. Zählt Mr Johnson auch zu deinen Verehrern? Bei ihm ist es fast so schlimm wie bei Sean, er beginnt zu schlottern, wenn du nur den Anflug von schlechter Laune zeigst, und ist völlig außer sich, falls du womöglich an einem anderen Platz sitzen müsstest. Und es sind nicht nur die Menschen. Du hast Dom Berno beinahe zu Tode erschreckt, als du dich umgedreht und ihn so finster angesehen hast.«

»Diesen Mönch in der Bibliothek?« Ich traute meinen Ohren nicht. »Du hast ihm Angst gemacht, nicht ich

»Ich bin Dom Berno 1718 das erste Mal begegnet«, erwiderte Matthew sachlich. »Er kennt mich viel zu gut, als dass er mich fürchten würde. Wir haben uns auf einer Feier im Schloss des Duke von Chandos kennengelernt, wo er in Händels Acis und Galatea den Damon sang. Ich versichere dir, es war deine Macht, nicht meine, die ihn so erschreckt hat.«

»Wir leben in einer Menschenwelt, Matthew, nicht in einem Märchen. Die Menschen sind uns zahlenmäßig weit überlegen, und sie fürchten uns. Und nichts ist so mächtig wie die menschliche Angst  – keine Magie, keine Vampirkräfte. Nichts.«

»Die Menschen sind Meister im Fürchten und Verdrängen, Diana, aber dir als Hexe steht dieser Weg nicht offen.«

»Ich fürchte mich nicht.«

»O doch«, sagte er milde und stand auf. »Und ich glaube, es ist Zeit, dich nach Hause zu bringen.«

»Hör zu«, sagte ich. Ich wollte so gern mehr über das Manuskript erfahren, dass ich alle Bedenken beiseiteschob. »Wir interessieren uns beide für Ashmole 782. Ein Vampir und eine Hexe können keine Freunde werden, aber wir sollten wenigstens zusammenarbeiten können.«

»Da bin ich nicht so sicher«, meinte Matthew leidenschaftslos.

Schweigend fuhren wir nach Oxford zurück. Die Menschen hatten keine Ahnung von Vampiren, überlegte ich. Um sie furchterregender wirken zu lassen, stellten sich die Menschen Vampire als blutrünstige Monster vor. Dabei erschreckte mich Matthews Verschlossenheit, gepaart mit seinen Zornesausbrüchen und abrupten Stimmungsumschwüngen, viel mehr.

Wir hielten vor der Pförtnerloge des New College, und Matthew holte meine Matte aus dem Kofferraum.

»Ein schönes Wochenende noch«, sagte er emotionslos.

»Gute Nacht, Matthew. Und danke, dass du mich zum Yoga mitgenommen hast.« Meine Stimme war so ausdruckslos wie seine, und ich vermied entschieden, mich noch einmal umzudrehen, obwohl ich die ganze Zeit seinen kalten Blick im Rücken spürte.