6

Der nächste Morgen war grau und ein typischer Frühherbstmorgen. Ein einziger Blick auf das trostlose Wetter vor meinem Fenster überzeugte mich, dass ich heute nicht zum Fluss zu gehen brauchte. Stattdessen joggte ich eine Runde und winkte im Vorbeilaufen dem Nachtpförtner in seiner Loge zu, der mich erst fassungslos ansah und dann den Daumen hob.

Jedes Mal, wenn meine Füße auf den Bürgersteig trafen, entspannten sich meine Muskeln ein bisschen mehr. Bis ich die Kieswege im University Park erreicht hatte, atmete ich bereits tief und regelmäßig, ich fühlte mich gelöst und gewappnet für einen langen Tag in der Bibliothek  – ganz gleich, welche Wesen dort versammelt sein mochten.

Als ich zurückkam, hielt mich der Pförtner auf. »Dr. Bishop?«

»Ja?«

»Es tut mir leid, dass ich Ihren Besuch gestern Abend wegschicken musste, aber ich habe mich an die Vorschriften zu halten. Bitte sagen Sie uns Bescheid, wenn Sie das nächste Mal jemanden erwarten, dann schicken wir die Leute gleich hoch.«

Die Unbeschwertheit, die ich mir so mühsam erlaufen hatte, verpuffte.

»War das ein Mann oder eine Frau?«, fragte ich scharf.

»Eine Frau.«

Meine brettharten Schultern senkten sich langsam.

»Sie war schrecklich nett, und ich mag die Australier. Sie sind immer freundlich und dabei nicht so, Sie wissen schon…« Der Pförtner verstummte, doch es war klar, was er sagen wollte. Australier waren wie Amerikaner  – aber nicht so aufdringlich. »Wir haben noch in Ihrem Apartment angerufen.«

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte das Telefon stumm geschaltet, weil Sarah den Zeitunterschied zwischen Madison und Oxford prinzipiell falsch berechnete und regelmäßig mitten in der Nacht anrief.

»Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben. Ich werde es bestimmt ankündigen, wenn ich mal wieder Besuch erwarte«, versprach ich.

Oben in meinem Apartment schaltete ich das Licht im Bad an und musste feststellen, dass die vergangenen zwei Tage ihren Tribut gefordert hatten. Die Ringe, die man gestern unter meinen Augen erahnt hatte, waren inzwischen so dunkel, dass man sie für Blutergüsse halten konnte. Ich sah auf meinem Arm nach blauen Flecken und war überrascht, als ich keine fand. Insgeheim war ich überzeugt gewesen, dass Clairmont die Adern unter meiner Haut zum Platzen gebracht hatte, so fest hatte mich der Vampir gehalten.

Ich duschte und zog dann eine weite Hose und einen Rollkragenpullover an. Das schmucklose Schwarz betonte meine Größe und ließ mich weniger muskulös wirken, aber andererseits sah ich darin aus wie eine Leiche, darum zog ich noch einen weichen lavendelblauen Sweater über. Jetzt wirkten zwar die Ringe unter meinen Augen noch blauer, aber immerhin sah ich nicht mehr wie tot aus. Die Haare standen mir vom Kopf ab und knisterten bei jeder Bewegung. Meine einzige Chance bestand darin, sie im Nacken zu einem unordentlichen Knoten zu bündeln.

Auf Clairmonts Rollwagen stapelten sich die Manuskripte, und ich fügte mich in mein Schicksal, ihm auch heute im Duke-Humfrey-Lesesaal zu begegnen. Ich streckte den Rücken durch und trat an die Ausleihtheke.

Schon wieder flatterten der Bibliotheksleiter und seine beiden Assistenten herum wie aufgescheuchte Vögel. Diesmal konzentrierte sich das hektische Treiben auf das Dreieck zwischen der Ausleihtheke, den Karteikästen mit den archivierten Manuskripten und dem Büro des Bibliotheksleiters. Unter den wachsamen Augen der geschnitzten Fratzen schleppten sie Kartonstapel und schoben Rollwagen voller Manuskripte zu den ersten drei Lesetischreihen.

»Vielen Dank, Sean.« Clairmonts sonore, höfliche Stimme.

Die gute Nachricht war, dass ich meinen Lesesaal nicht länger mit einem Vampir teilen musste.

Die schlechte Nachricht war, dass ich die Bibliothek nicht betreten oder verlassen konnte  – dass ich nicht einmal ein Buch oder Manuskript anfordern konnte  –, ohne dass Clairmont mich bei jeder Bewegung beobachtete. Und heute hatte er sich Verstärkung geholt.

In der zweiten Nische stapelte ein zierliches Mädchen Papiere und Ordner auf. Sie war in einen langen, sackartigen braunen Sweater gehüllt, der ihr fast bis auf die Knie reichte. Als sie sich umdrehte, erkannte ich verblüfft, dass es eine erwachsene Frau war. Ihre Augen waren bernsteingelb und schwarz und dazu kalt wie Frostbeulen.

Auch ohne dass sie mich berührte, verrieten mir die leuchtend blasse Haut und das unnatürlich dichte, glänzende Haar, dass sie eine Vampirin war. Locken ringelten sich wie Schlangen um ihr Gesicht und über ihre Schultern. Sie machte einen Schritt auf mich zu, ohne dass sie auch nur versucht hätte, ihre blitzschnellen und todsicheren Bewegungen zu verlangsamen, und fixierte mich mit einem vernichtenden Blick. Sie wäre eindeutig lieber woanders gewesen und gab mir allein die Schuld daran, dass sie hier war.

»Miriam«, ermahnte Clairmont sie sanft und trat dabei in den Mittelgang. Er blieb stehen und zauberte ein höfliches Lächeln auf seine Lippen. »Dr. Bishop. Guten Morgen.« Dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare, wodurch er sie nur noch kunstvoller zerzauste. Ich strich mir unwillkürlich verlegen über den Kopf und stopfte dabei eine lose Haarsträhne zurück.

»Guten Morgen, Professor Clairmont. Wieder hier, wie ich sehe.«

»Ja. Aber heute komme ich nicht zu Ihnen ins Selden End. Man hat uns hier einen Platz geben können, wo wir niemanden stören.«

Die Vampirin klopfte unüberhörbar einen Papierstapel auf dem Lesetisch zurecht.

Clairmont lächelte. »Darf ich Ihnen meine Kollegin vorstellen? Dr. Miriam Shephard. Miriam, das ist Dr. Diana Bishop.«

»Dr. Bishop.« Miriam streckte mir kühl die Hand entgegen. Ich nahm sie und erschrak fast über den Kontrast zwischen ihrer winzig kalten eisigen Hand und meiner großen, warmen. Ich wollte die Finger schon zurückziehen, aber sie verstärkte ihren Griff, bis sie mir fast die Knochen zusammenquetschte. Als sie endlich losließ, musste ich mich zusammenreißen, um die Hand nicht auszuschütteln.

»Dr. Shephard.« Wir standen zu dritt verlegen herum. Worüber unterhält man sich mit einem Vampir so früh am Morgen? Ich zog mich auf eine menschliche Plattitüde zurück. »Höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen.«

»Ich wünsche einen ergiebigen Tag.« Clairmonts Nicken war so kühl wie Miriams Begrüßung.

Mr Johnson erschien neben mir, beladen mit meinem Stapel von grauen Manuskriptkartons.

»Wir haben Sie heute wieder auf A4 gesetzt, Dr. Bishop«, sagte er und blies dabei selbstzufrieden die Backen auf. »Ich trage Ihnen die hier schnell nach hinten.« Clairmonts Schultern waren so breit, dass ich nicht erkennen konnte, ob auf seinem Lesetisch Manuskripte lagen. Ich unterdrückte meine Neugier und folgte dem Leiter des Lesesaals an meinen gewohnten Platz im Selden End.

Clairmont saß zwar nicht mehr neben mir, trotzdem spürte ich seine Nähe, als ich meine Stifte herausnahm und den Computer einschaltete. Den Rücken dem leeren Raum zugewandt, griff ich nach dem ersten Karton, zog das ledergebundene Manuskript heraus und legte es in die Halterung.

Bald war ich völlig in das vertraute Ritual des Lesens und Notizenmachens versunken und hatte nach nicht einmal zwei Stunden das erste Manuskript durchgearbeitet. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es noch vor elf war. Damit blieb vor dem Mittagessen noch Zeit für ein weiteres Manuskript.

Das Manuskript im nächsten Karton war kleiner als das vorangegangene, dafür enthielt es interessante Darstellungen alchemistischer Apparate sowie Beschreibungen chemischer Prozesse, die sich wie eine makabre Mixtur aus Freude am Kochen und den Notizen eines Giftmischers lasen. »Nimm deinen Topf Quecksilber und lass ihn drei Stunden über einer Flamme simmern«, begann eine Anleitung, »und wenn es sich dann mit dem Philosophischen Kinde vereint hat, dann nimm es und lass es verrotten, bis die Schwarze Krähe es dem Tode entgegenträgt.« Meine Finger flogen über die Tastatur und schienen mit jeder Minute Tempo zu gewinnen.

Ich war darauf gefasst gewesen, heute von jeder erdenklichen Kreatur angestarrt zu werden. Doch als die Uhren eins schlugen, saß ich immer noch mehr oder weniger allein im Selden End. Der einzige andere Leser war ein älterer Student, der das rot-weiß-blaue Halstuch des Keble College trug. Deprimiert starrte er auf einen Stapel seltener Bücher, ohne sie auch nur aufzuschlagen, und knabberte laut klickend an seinen Nägeln.

Nachdem ich zwei neue Ausleihzettel ausgefüllt und meine Manuskripte zusammengepackt hatte, stand ich, zufrieden mit meinem morgendlichen Pensum, auf und wollte zum Mittagessen gehen. Gillian Chamberlain durchbohrte mich mit strafenden Blicken, als ich an ihrem ungemütlich wirkenden Platz unter der alten Uhr vorbeikam, dann jagten mir die beiden Vampirinnen von gestern Eiszapfen in die Haut, und der Dämon aus der Musikbibliothek hatte zwei weitere Dämonen mitgebracht. Zu dritt demontierten sie ein Mikrofilmlesegerät; die Einzelteile lagen überall verstreut, und zwischen ihren Füßen kullerte unbemerkt eine Filmrolle über den Boden.

Clairmont und seine Vampirassistentin saßen immer noch auf ihren Posten nahe der Ausleihtheke. Der Vampir hatte behauptet, dass all die Geschöpfe von mir angezogen würden, nicht von ihm. Doch ihr heutiges Verhalten schien ihn Lügen zu strafen.

Während ich meine Manuskripte zurückgab, fixierte mich Matthew Clairmont mit kaltem Blick. Ich musste mich zwar gehörig anstrengen, doch ich schaffte es, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen.

»Mit denen bist du durch?«, fragte Sean.

»Ja. Zwei liegen noch an meinem Platz. Und es wäre toll, wenn ich diese beiden auch noch haben könnte.« Ich reichte ihm die Zettel. »Kommst du mit zum Essen?«

»Valerie ist gerade unterwegs. Ich fürchte, ich muss vorerst die Stellung halten«, erklärte er bedauernd.

»Dann beim nächsten Mal.« Ich nahm mein Portemonnaie und wollte schon losgehen.

Clairmonts tiefe Stimme bremste mich. »Miriam, Mittagspause.«

»Ich habe aber noch keinen Hunger«, antwortete sie in einem klaren, melodischen Sopran, der mit einem leicht ärgerlichen Tremolo unterlegt war.

»Frische Luft ist gut für die Konzentration.« Der Befehlston in Clairmonts Stimme war unüberhörbar. Miriam seufzte laut, knallte den Stift auf den Tisch und tauchte aus dem Schatten auf, um mir zu folgen.

Gewöhnlich verbrachte ich meine zwanzigminütige Mittagspause in der Buchhandlung nebenan, wo es ein Café im zweiten Stock gab. Ich musste lächeln, als ich mir vorstellte, wie sich Miriam währenddessen die Zeit vertreiben würde, eingezwängt zwischen zahllosen Touristen, die sich bei Blackwell’s zwischen den Oxford-Führern und den Krimis um die Postkartenständer scharten.

Ich sicherte mir ein Sandwich und eine Tasse Tee, verdrückte mich in die hinterste Ecke des überlaufenen Cafés und setzte mich dort zwischen einen mir flüchtig bekannten Kollegen aus der historischen Fakultät, der hier Zeitung las, und einen jungen Studenten, der seine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf einen MP3-Player, ein Handy und einen Computer verteilte.

Nachdem ich mein Sandwich aufgegessen hatte, legte ich beide Hände um die Teetasse und schaute aus dem Fenster. Ich runzelte die Stirn. Einer der mir unbekannten Dämonen aus dem Lesesaal lehnte am Tor zur Bibliothek und schaute zu meinem Fenster hoch.

Im selben Moment spürte ich zwei weiche Druckstellen auf meinen Wangen, sanft und flüchtig wie ein Kuss. Ich blickte auf und in das Gesicht eines weiteren Dämons. Sie war schön und mit faszinierenden, widersprüchlichen Zügen ausgestattet  – der Mund war zu breit für ihr zerbrechliches Gesicht, die großen schokoladebraunen Augen saßen zu dicht beisammen, und ihr Haar war für die honiggoldene Haut viel zu blond.

»Dr. Bishop?« Ich hörte den australischen Akzent, und eisige Finger krallten sich um meine Lendenwirbel.

»Ja?« Ich sah zur Treppe, doch Miriams dunkler Kopf war nirgendwo zu sehen. »Ich bin Diana Bishop.«

Sie lächelte. »Ich heiße Agatha Wilson. Ihre Freundin unten weiß nicht, dass ich hier bin.«

Der altmodische Name passte nicht zu jemandem, der höchstens zehn Jahre älter war als ich und wesentlich modischer gekleidet. Andererseits kam mir ihr Name vertraut vor, ich entsann mich verschwommen, ihn in einem Modemagazin gelesen zu haben.

»Darf ich mich setzen?« Sie deutete auf den Stuhl, den der Historiker eben freigemacht hatte.

»Natürlich«, murmelte ich.

Am Montag war ich einem Vampir begegnet. Am Dienstag einem Hexer, der sich in meinen Kopf zu bohren versucht hatte. So wie es aussah, war Mittwoch Dämonentag.

Obwohl ich auf dem College viele dämonische Verehrer gehabt hatte, wusste ich noch weniger über Dämonen als über Vampire. Kaum jemand schien sie zu verstehen, auch Sarah hatte meine Fragen zu diesen Geschöpfen nicht beantworten können. Bei ihr hatte es sich so angehört, als würden die Dämonen eine kriminelle Unterschicht bilden. Sie waren ungeheuer klug und kreativ und hatten keine Skrupel zu lügen, zu stehlen, zu betrügen oder sogar zu morden, einfach weil sie überzeugt waren, damit durchzukommen. Noch problematischer war aus Sarahs Sicht, unter welchen Bedingungen sie geboren wurden. Niemand konnte vorherbestimmen, wo oder wann ein Dämon schlüpfen würde, denn typischerweise wurden sie von menschlichen Eltern zur Welt gebracht. Für meine Tante besiegelte das ihren ohnehin minderwertigen Status in der Hierarchie der verschiedenen Geschöpfe. Sarah hielt große Stücke auf die uralten Familientraditionen und Stammbäume der Hexen und missbilligte die Launenhaftigkeit der Dämonen.

Anfangs beschränkte sich Agatha Wilson darauf, still neben mir zu sitzen und mir beim Teetrinken zuzusehen. Dann goss sie einen atemberaubenden Wortschwall über mir aus. Sarah hatte immer behauptet, dass man sich mit einem Dämon nicht unterhalten könne, weil sie ihre Gespräche grundsätzlich in der Mitte begannen.

»So viel Energie muss uns einfach auffallen«, bemerkte sie schließlich, als hätte ich ihr eine Frage gestellt. »Natürlich waren die Hexen zu Mabon in Oxford und haben geschwatzt, als wäre die Welt nicht voller Vampire, die alles mithören.« Sie verstummte kurz. »Wir waren nicht sicher, ob es je wieder auftauchen würde.«

»Was denn?«, fragte ich leise.

»Das Buch«, vertraute sie mir flüsternd an.

»Das Buch«, wiederholte ich tonlos.

»Genau. Nach dem, was die Hexen damit angestellt haben, hätten wir nicht geglaubt, dass wir es je wieder zu Gesicht bekommen würden.«

Die Dämonin hatte den Blick ins Leere gerichtet. »Natürlich sind Sie auch eine Hexe. Vielleicht ist es falsch, überhaupt mit Ihnen zu reden. Allerdings hätte ich gedacht, dass Sie von allen Hexen sich am ehesten ausrechnen könnten, wie sie es gemacht haben. Und jetzt lese ich das hier«, sagte sie traurig, griff nach der liegengelassenen Zeitung und reichte sie mir.

Die fette Schlagzeile sprang mir sofort ins Auge: VAMPIRMORDE IN LONDON. Eilig überflog ich den Artikel.

In dem ungeklärten Mordfall an zwei Männern in Westminster gibt es laut Aussagen der Polizei keine neuen Spuren. Daniel Bennet, 22, und Jason Enright, 26, wurden am frühen Sonntagmorgen in einer Gasse hinter dem White Hart Pub an der St Alban’s Street vom Gastwirt Reg Scott tot aufgefunden. Bei beiden Männern waren die Schlagadern durchtrennt worden, außerdem fanden sich zahlreiche Wunden an Hals, Armen und Rumpf. Die Obduktion ergab, dass bei beiden Opfern ein massiver Blutverlust zum Tod geführt hatte, allerdings fanden sich am Tatort keinerlei Blutspuren.

Die im Fall der sogenannten »Vampirmorde« ermittelnden Stellen haben sich mittlerweile an Peter Knox gewandt. Der Autor mehrerer Bestseller über modernen Okkultismus, darunter Dunkle Fragen: Der Teufel in der Jetztzeit und Magie auf dem Vormarsch: Das Bedürfnis nach Mythen in der modernen Welt, wurde schon von Polizeibehörden aus der ganzen Welt um Hilfe gebeten, wenn bei einem Fall ein satanistischer Hintergrund oder ein Serienmord vermutet wurde.

»Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich hierbei um Ritualmorde handelt«, erklärte Knox auf einer Pressekonferenz. Und auch einen Serientäter schloss er aus, obgleich es Parallelen zu dem Mord an Christiana Nilsson in Kopenhagen im letzten Sommer und jenem an Sergei Morossow in St. Petersburg im Herbst 2007 gebe. Auf eine entsprechende Nachfrage hin gestand Knox allerdings zu, dass es sich bei den Morden in London um das Werk eines oder mehrerer Nachahmungstäter handeln könnte.

Während die Anwohner vorübergehend Patrouillen aufgestellt haben, sucht die Polizei die Nachbarn in ihren Wohnungen auf, um sie zu befragen und sie in dieser schwierigen Zeit mit Rat und Tat zu unterstützen. Die Behörden ermahnen die Londoner, vor allem nachts verstärkt auf ihre Sicherheit zu achten.

»Das ist nur das Machwerk eines Reporters auf der Suche nach einer zündenden Story«, sagte ich und reichte der Dämonin die Zeitung zurück. »Die Presse lebt von den Ängsten ihrer Leser.«

»Wirklich?« Sie blickte sich kurz um. »Ich bin da nicht so sicher. Ich glaube, es steckt mehr dahinter. Bei Vampiren kann man nie wissen. Sie stehen nur eine Stufe über den Tieren.« Agatha Wilsons Mund verzog sich zu einem verdrossenen Strich. »Und ihr glaubt, wir seien labil … Wie dem auch sei, es ist für uns alle gefährlich, wenn wir die Aufmerksamkeit der Menschen auf uns ziehen.«

Dieses Gerede von Hexen und Vampiren war kein Thema für einen öffentlichen Ort. Allerdings hatte der Student immer noch den Kopfhörer auf, und alle anderen Gäste waren in ihre eigenen Gedanken versunken oder steckten vertraulich die Köpfe mit ihren Begleitern zusammen.

»Ich weiß nichts über das Manuskript oder darüber, was die Hexen damit angestellt haben, Ms Wilson. Und ich habe es auch nicht«, ergänzte ich hastig, falls auch sie glaubte, ich hätte es gestohlen.

»Bitte nennen Sie mich Agatha.« Sie richtete den Blick konzentriert auf das Muster des Teppichbodens. »Dann hat es die Bibliothek wieder. Haben sie Ihnen befohlen, es zurückzugeben?«

Meinte sie die Hexen? Vampire? Die Bibliothekare? Ich entschied mich für die wahrscheinlichsten Übeltäter.

»Die Hexen?«

Agatha nickte und sah sich nervös um.

»Nein. Ich habe es einfach ins Magazin zurückbringen lassen, als ich damit fertig war.«

»Ach ja, ins Magazin«, wiederholte Agatha wissend. »Alle meinen, die Bibliothek sei nur ein Gebäude, dabei ist sie viel mehr.«

Wieder musste ich an das beklemmende Gefühl denken, das mich beschlichen hatte, sobald Sean das Manuskript aufs Förderband gelegt hatte.

»Die Bibliothek ist immer genau das, was sie nach Meinung der Hexen sein soll«, fuhr sie fort. »Aber dieses Buch gehört euch nicht. Hexen sollten nicht darüber entscheiden dürfen, wo es aufbewahrt wird und wer es zu sehen bekommt.«

»Was ist so besonders an diesem Manuskript?«

»Das Buch erklärt, warum wir hier sind.« In ihrer bebenden Stimme lag ein Anflug von Verzweiflung. »Es erzählt unsere Geschichte  – den Anfang, den Hauptteil und sogar das Ende. Wir Dämonen müssen endlich erfahren, wo wir in dieser Welt stehen. Und wir brauchen dieses Wissen dringender als die Hexen oder Vampire.« Plötzlich wirkte sie ganz und gar nicht mehr konfus. Sie glich einer Kamera, die chronisch unscharf gestellt war, bis jemand kam und am Objektiv drehte.

»Ihr wisst genau, wo ihr in dieser Welt steht«, setzte ich an. »Es gibt vier Arten von Geschöpfen  – Menschen, Dämonen, Vampire und Hexen.«

»Und woher kommen die Dämonen? Wie entstehen wir? Wozu sind wir hier?« Ihre braunen Augen blitzten wütend. »Wisst ihr, woher eure Macht kommt? Wisst ihr das?«

»Nein«, flüsterte ich kopfschüttelnd.

»Das weiß niemand«, bestätigte sie melancholisch. »Anfangs hielten die Menschen die Dämonen für Schutzengel. Dann glaubten sie, wir seien Götter, die ihren Leidenschaften zum Opfer gefallen und nun an die Erde gefesselt waren. Die Menschen hassten uns, weil wir anders waren als sie, und sie setzten ihre Kinder aus, wenn sich herausstellte, dass es Dämonen waren. Sie beschuldigten uns, ihre Seelen zu stehlen und sie in den Wahnsinn zu treiben. Wir Dämonen sind kluge Köpfe, aber wir sind nicht böse  – ganz anders als die Vampire.«

Sie sprach immer noch leise, aber ihre Stimme klang jetzt eindeutig wütend. »Wir leiden noch öfter als ihr Hexen unter der Angst und dem Neid der Menschen.«

»Wir Hexen tragen auch etliche widerwärtige Legenden mit uns herum.« Ich dachte an die Hexenjagden und die Hinrichtungen.

»Hexen werden von Hexen geboren. Vampire zeugen neue Vampire. Ihr könnt auf eure Familiengeschichten und Erinnerungen zurückgreifen, wenn ihr Trost oder Bestätigung braucht. Wir haben nichts als ein paar Geschichten, die uns von Menschen erzählt wurden. Kein Wunder, dass so viele Dämonen ihren Platz in der Welt und ihre Bestimmung nicht finden. Wir können nur darauf hoffen, irgendwann auf andere Dämonen zu stoßen und dabei zu erkennen, dass wir wie jene sind. Mein Sohn war einer der wenigen Glücklichen, die eine Dämonin zur Mutter haben. Nathaniel hatte jemanden, der die Zeichen erkannte und ihm helfen konnte, sich zurechtzufinden.« Sie wandte kurz das Gesicht ab, bis sie die Fassung wiedergefunden hatte. Als sich unsere Blicke trafen, stand Trauer in ihren Augen. »Vielleicht haben die Menschen recht. Vielleicht sind wir wirklich besessen. Ich sehe Dinge, Diana. Dinge, die ich nicht sehen sollte.«

Dämonen konnten Visionäre sein. Es wusste nur niemand, ob ihre Zukunftsvisionen so zuverlässig waren wie das Zweite Gesicht der Hexen.

»Ich sehe Blut und Angst. Ich sehe Sie«, sagte sie, und ihr Blick wurde wieder starr. »Manchmal sehe ich auch Ihren Vampir. Er wollte dieses Buch schon so lange. Stattdessen hat er Sie gefunden. Merkwürdig.«

»Wozu braucht Matthew Clairmont dieses Buch?«

Agatha zuckte mit den Achseln. »Vampire und Hexen verraten uns nicht, was sie denken. So viele Geheimnisse. Die Menschen werden uns auf die Schliche kommen, wenn wir nicht aufpassen. Menschen lieben die Macht  – und sie lieben Geheimnisse.«

»Er ist nicht mein Vampir.« Ich wurde rot.

»Bestimmt nicht?«, fragte sie und starrte dabei in die Chromverkleidung der Espressomaschine, als wäre sie ein Zauberspiegel.

»Ja«, bekräftigte ich gepresst.

»Ein kleines Buch kann ein großes Geheimnis enthalten  – ein Geheimnis, das die ganze Welt verändern könnte. Sie sind eine Hexe. Sie wissen, welche Macht Worte haben. Und der Vampir bräuchte Sie nicht, wenn er das Geheimnis kennen würde.« Agathas braune Augen sahen mich mild und voller Wärme an.

»Wenn Matthew Clairmont das Manuskript haben möchte, braucht er es doch nur zu bestellen.« Bei dieser Vorstellung überlief mich eine Gänsehaut, ohne dass ich gewusst hätte, warum.

»Wenn Sie es noch einmal bekommen«, bedrängte sie mich und packte mich am Arm, »dürfen Sie nicht vergessen, dass ihr nicht die Einzigen sein dürft, die das Geheimnis kennen. Dämonen gehören auch zur Geschichte. Versprechen Sie mir das.«

Ich spürte einen Anflug von Panik, als sie mich berührte; plötzlich merkte ich, wie heiß es im Café war und was für ein Gedränge herrschte. Instinktiv suchte ich nach dem nächsten Ausgang und konzentrierte mich gleichzeitig darauf, meinen Atem zu kontrollieren und die Anfänge einer Panikattacke abzuwehren.

»Versprochen«, murmelte ich zögernd, ohne wirklich zu wissen, wozu ich mich bereiterklärte.

»Gut.« Geistesabwesend ließ sie meinen Arm los. Ihr Blick schweifte ab. »Es war gut, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Agatha starrte schon wieder auf den Fußboden. »Wir werden uns wiedersehen. Vergessen Sie nicht, manche Versprechen sind wichtiger als andere.«

Ich stellte meine Teekanne und die Tasse in die graue Plastikwanne oben auf dem Papierkorb und warf die leere Sandwichtüte in den Müll. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, dass sich Agatha in die Sportseiten der Londoner Tageszeitung vertieft hatte, die der Historiker liegen gelassen hatte.

Auf dem Weg nach draußen sah ich Miriam nicht, aber ich spürte ihren Blick.

Während ich weg gewesen war, hatte sich das Selden End mit gewöhnlichen Menschen gefüllt, die alle mit ihrer Arbeit beschäftigt waren und nichts von den Geschöpfen ahnten, die sich um sie herum versammelt hatten. Ich beneidete sie um ihre Ignoranz. Entschlossen, mich zu konzentrieren, griff ich nach dem nächsten Manuskript, aber gleich darauf merkte ich, dass ich im Geist meine Unterhaltung bei Blackwell’s und die Ereignisse der letzten Tage durchging. Auf den ersten Blick hatten die Illustrationen in Ashmole 782 nichts mit dem zu tun, worum es laut Agatha Wilson in dem Manuskript ging. Und warum forderten Matthew Clairmont oder die Dämonin das Manuskript nicht einfach an, wenn es sie so interessierte?

Ich schloss die Augen, rief mir die Minuten in Erinnerung, die ich mit dem Manuskript verbracht hatte, und versuchte anschließend, in den Ereignissen der letzten Tage ein Muster zu erkennen, indem ich erst meinen Geist leerte und mir dann das Problem als Puzzle auf einem weißen Tisch vorstellte, auf dem ich die Einzelteile immer wieder neu arrangierte. Aber wie ich sie auch zusammenfügte, es wollte sich kein sinnvolles Bild ergeben. Frustriert schob ich den Stuhl zurück und machte mich auf den Weg zum Ausgang.

»Irgendwelche Anfragen ans Magazin?«, fragte Sean, als er mir die Manuskripte abnahm. Ich überreichte ihm einen Stapel frisch ausgefüllter Ausleihzettel. Er lächelte, als er sah, wie dick der Stapel war, sagte aber kein Wort.

Bevor ich ging, musste ich noch zwei Dinge erledigen. Das erste gebot die Höflichkeit. Ich wusste nicht, wie die Vampire das angestellt hatten, aber sie hatten mich davor bewahrt, von einem endlosen Strom verschiedener Geschöpfe im Selden End aufgesogen zu werden. Hexen und Vampire hatten nicht oft Gelegenheit, einander zu danken, aber Clairmont hatte mich in zwei Tagen zweimal beschützt. Ich wollte auf gar keinen Fall undankbar wirken oder so bigott wie Sarah und ihre Freundinnen vom Hexenkonvent von Madison.

»Professor Clairmont?«

Der Vampir sah auf.

»Vielen Dank«, sagte ich nur und sah ihm dabei in die Augen, bis er den Blick abwandte.

»Keine Ursache«, murmelte er, und ich hörte ihm die Überraschung an.

Die zweite Sache war kalkuliert. Ich wusste zwar nicht, warum, doch offenbar brauchte Matthew Clairmont mich. Aber ich brauchte ihn auch. Er sollte mir verraten, warum Ashmole 782 so viel Aufmerksamkeit erregte.

»Nennen Sie mich doch Diana«, sagte ich schnell, bevor mich der Mut verlassen konnte.

Matthew Clairmont lächelte.

Mein Herz hörte für einen Sekundenbruchteil zu schlagen auf. Das war nicht das leise, höfliche Lächeln, an das ich mich inzwischen gewöhnt hatte. Diesmal hoben sich die Lippen tatsächlich, und sein ganzes Gesicht schien zu leuchten. O Gott, er ist so unbeschreiblich schön, dachte ich, wieder einmal leicht benommen.

»Gern«, sagte er leise, »aber dann musst du mich Matthew nennen.«

Ich nickte stumm, während mein Herz jetzt Purzelbäume schlug. Etwas breitete sich durch meinen ganzen Körper aus und löste die Angst, die sich nach der unerwarteten Begegnung mit Agatha Wilson in mir festgefressen hatte.

Matthews Nasenflügel bebten leicht. Sein Lächeln wurde breiter. Was immer in meinem Körper gerade passiert war, er hatte es gerochen. Schlimmer noch, er schien zu wissen, was sich in mir abspielte.

Ich wurde rot.

»Noch einen schönen Abend, Diana.« Er sprach meinen Namen beinahe genießerisch aus und ließ ihn exotisch und fremdartig klingen.

»Guten Abend, Matthew.« Hastig trat ich den Rückzug an.

Als ich an jenem Abend in der Dämmerung auf dem stillen Fluss ruderte, sah ich hin und wieder einen grauen, verschwommenen Fleck über den Uferweg huschen, immer ein kleines Stück voraus, fast wie ein dunkler Stern, der mich nach Hause lotste.