21

Als ich am nächsten Morgen aus der Dusche kam, erwartete mich ein Vampir mit einem Frühstückstablett in den Händen.

»Ich habe Marthe gesagt, dass du heute Vormittag arbeiten möchtest«, erklärte Matthew und hob die Wärmehaube über dem Tablett an.

»Ihr beide verwöhnt mich.« Ich faltete die Serviette auf, die auf einem Stuhl bereitlag.

»Ich glaube nicht, dass dein Charakter akut gefährdet ist.« Matthew beugte sich über mich und küsste mich mit lustvoll verhangenem Blick. »Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?«

»Ausgezeichnet.« Ich nahm ihm den Teller ab und wurde rot, als mir wieder einfiel, wozu ich ihn gestern Abend eingeladen hatte. Ich spürte immer noch einen leichten Stich, wenn ich mich an seine freundliche Abfuhr erinnerte, aber der Kuss heute Morgen überzeugte mich, dass uns mehr verband als reine Freundschaft und wir uns in eine neue Richtung bewegten.

Nach meinem Frühstück gingen wir nach unten, schalteten beide Computer ein und machten uns ans Werk. Matthew hatte eine ganz gewöhnliche, englische Vulgata-Bibel aus dem neunzehnten Jahrhundert neben das Manuskript auf den Tisch gelegt.

»Danke«, rief ich ihm über die Schulter zu und hob die Bibel hoch.

»Ich habe sie unten gefunden. Offenbar ist dir die eine, die ich besitze, nicht gut genug.« Er grinste.

»Ich werde auf gar keinen Fall eine Gutenberg-Bibel als Nachschlagewerk missbrauchen, Matthew.« Ich klang strenger als beabsichtigt und ein bisschen lehrerinnenhaft.

»Ich kenne die Bibel in- und auswendig. Wenn du etwas wissen willst, kannst du mich auch einfach fragen«, schlug er vor.

»Ich werde auch dich nicht als Nachschlagewerk missbrauchen.«

»Wie du meinst.« Er zuckte mit den Achseln und lächelte wieder.

Mit dem Computer neben mir und dem alchemistischen Manuskript vor mir war ich bald nur noch mit Lesen, Analysieren und Notieren meiner Ideen beschäftigt. Nur einmal wurde ich abgelenkt, als ich Matthew um ein kleines Gewicht bat, mit dem ich während des Tippens die Buchseiten offen halten konnte. Er kramte herum und kam schließlich mit einer Bronzemedaille mit dem Porträt Ludwig des Vierzehnten sowie einem kleinen Holzfuß an, der, wie er behauptete, von einem deutschen Engel stammte. Er wollte mir die beiden Gegenstände nicht ohne ein Pfand überlassen. Schließlich konnte ich ihn mit mehreren Küssen zufriedenstellen.

Aurora Consurgens war einer der schönsten Texte in der alchemistischen Tradition, eine Meditation über die weibliche Gestalt der Weisheit, in der gleichzeitig die chemische Aussöhnung von entgegengesetzten Naturkräften abgehandelt wurde. Der Text in Matthews Ausgabe unterschied sich kaum von dem in den Handschriften, die ich in Zürich, Glasgow und London studiert hatte. Umso deutlicher unterschieden sich die Illustrationen.

Die Künstlerin, Bourgot Le Noir, war eine wahre Meisterin ihrer Zunft gewesen. Jede Illustration war präzise und liebevoll ausgeführt. Aber ihr Talent beschränkte sich nicht auf technisches Können. Aus ihren weiblichen Figuren sprach eine ungeheure Empfindsamkeit. Bourgots Weisheitsfigur war kraftvoll, aber sie wirkte gleichzeitig weich. Auf der ersten Illustration, auf der die Weisheit die Verkörperungen der sieben Metalle unter ihrem Umhang beschirmte, zeigte ihre Miene einen kraftvollen, mütterlichen Stolz.

Es gab zwei Illustrationen  – genau wie Matthew versprochen hatte  –, die in keiner anderen bekannten Kopie der Aurora Consurgens enthalten waren. Beide gehörten zur letzten Parabel, die sich mit der chemischen Hochzeit von Gold und Silber beschäftigte. Die erste Illustration stand neben ein paar Sätzen zum weiblichen Prinzip in der alchemistischen Wandlung. Diese Figur, die oft als Königin in einem weißen Kleid voller Mondsymbole gezeigt wurde, um ihre Verbindung mit dem Silber zu verdeutlichen, war von Bourgot in eine wunderschöne, aber auch angsteinflößende Kreatur mit silbernen Schlangen statt Haaren verwandelt worden, deren Gesicht im Schatten lag wie ein Mond während einer Mondfinsternis. Stumm las ich den dazugehörigen lateinischen Text und übersetzte ihn für mich: »Wendet euch mir zu von ganzem Herzen. Weist mich nicht ab, weil ich im Schatten bin und dunkel, denn das Feuer der Sonne hat mich verwandelt. Die Meere haben mich umschlungen. Die Erde wurde verdorben durch meine Werke. Die Nacht kam über die Erde, als ich in die morastige Tiefe sank, und meine Substanz wurde verborgen.«

Die Mondkönigin hielt einen Stern in der ausgestreckten Hand. »Aus den Tiefen des Wassers rief ich nach euch, und aus den Tiefen der Erde werde ich euch alle anrufen, die ihr vorübergeht«, las ich weiter. »Achtet auf mich. Seht mich an. Und wenn ihr einen findet, der mir gleicht, werde ich ihm den Morgenstern schenken.« Meine Lippen sprachen die Worte nach, und Bourgots Illustration erweckte den Text in der Miene der Mondkönigin zum Leben, wunderbar klar zeigte sie ihre Angst vor Zurückweisung und einen schüchternen Stolz.

Die zweite Illustration, die in keiner anderen Handschrift der Aurora Consurgens auftauchte, folgte auf der nächsten Seite und begleitete die Worte, die das männliche Prinzip, der goldene Sonnenkönig, sprach. Mir stellten sich förmlich die Nackenhaare auf, als ich Bourgots Darstellung eines schweren Steinsarkophags sah, dessen Deckel gerade so weit zur Seite geschoben worden war, dass man einen goldenen Leichnam darin erkennen konnte. Friedlich hatte der König die Augen geschlossen, und aus seiner Miene sprach Hoffnung, so als träumte er davon, aus seinem Gefängnis freizukommen. »Ich werde mich erheben und durch die Stadt wandern. In den Straßen werde ich eine reine Frau suchen, die ich heiraten kann«, las ich, »mit edlem Antlitz, noch edlerem Körper und in edelstem Gewand. Sie soll den Stein vor dem Eingang zu meinem Grab beiseiterollen und mir Flügel wie die einer Taube verleihen, sodass ich mit ihr in den Himmel fliegen und dort ewig und in Frieden leben kann.« Die Passage erinnerte mich an Matthews Pilgerzeichen und den winzigen Lazarussarg. Ich griff nach der Bibel.

»Markus 16, Psalm 55 und Deuteronomium 32, Vers 40.« Matthews Stimme durchschnitt die Stille und ratterte die Referenzstellen herunter wie eine vollautomatische Bibelkonkordanz.

»Woher hast du gewusst, was ich gerade lese?« Ich drehte mich ein Stück zur Seite, um ihn besser sehen zu können.

»Du hast die Lippen bewegt«, erwiderte er, den Blick stur auf den Bildschirm gerichtet, und ließ die Finger weiter über die Tasten fliegen.

Die Lippen angestrengt zusammenpressend, beugte ich mich wieder über meinen Text. Der Autor hatte auf jede Bibelpassage Bezug genommen, die mit der alchemistischen Geschichte von Tod und Schöpfung zu tun hatte, und alles umgeformt und zusammengefügt. Ich zog die Bibel über den Tisch zu mir her. Sie war in schwarzes Leder gebunden, und auf dem Umschlag prangte ein goldenes Kreuz. Ich schlug das Markusevangelium auf und überflog Kapitel 16. Da kam die Stelle, Markus 16:3: »Und sie sprachen zueinander: Wer wird uns den Stein von der Tür der Gruft wegwälzen?«

»Gefunden?«, erkundigte Matthew sich freundlich.

»Ja.«

»Gut.«

Wieder wurde es still im Raum.

»Wo finde ich die Stelle über den Morgenstern?« Manchmal war mein heidnischer Hintergrund beruflich eine echte Belastung.

»Offenbarung 2, Vers 28.«

»Danke.«

»Gern geschehen.« Von seinem Schreibtisch drang ein ersticktes Lachen zu mir herüber. Ich beugte mich über das Manuskript und ignorierte ihn.

Nachdem ich zwei Stunden lang winzige gotische Handschriften entziffert und nach den dazu passenden Bibelstellen gefahndet hatte, war ich nur zu gern bereit, reiten zu gehen, sobald Matthew vorschlug, eine Pause zu machen. Als Bonus versprach er mir zu erzählen, wie er im siebzehnten Jahrhundert den Physiologen William Harvey kennengelernt hatte.

»Das ist keine besonders interessante Geschichte«, hatte er zuvor noch protestiert.

»Für dich vielleicht nicht. Aber für eine Wissenschaftshistorikerin? Näher werde ich dem Mann kaum kommen, der herausgefunden hat, dass das Herz wie eine Pumpe arbeitet.«

Seit wir auf Sept-Tours angekommen waren, hatten wir die Sonne nicht viel gesehen, aber das störte uns beide nicht. Matthew wirkte seitdem viel entspannter, und ich war zu meiner Überraschung froh, Oxford verlassen zu haben. Gillians Drohungen, das Foto von meinen Eltern, selbst Peter Knox  – all das trat mit jeder Stunde weiter in den Hintergrund.

Während wir durch den Garten gingen, plauderte Matthew angeregt über ein Arbeitsproblem, bei dem es um einen DNA-Strang ging, der eigentlich in einer Blutprobe vorhanden sein sollte, es aber nicht war. Er skizzierte ein Chromosom in die Luft, um mir die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, und wies auf die betreffende Stelle, und ich nickte gehorsam, auch wenn mir verschlossen blieb, worum genau es ging. Die Worte purzelten immer weiter aus seinem Mund, bis er irgendwann den Arm um meine Schulter legte und mich an seine Seite zog.

Wir bogen um eine Hecke. Vor dem Tor, durch das wir gestern geritten waren, stand ein Mann in Schwarz. So wie er am Stamm einer Kastanie lehnte, mit der Eleganz eines Leoparden auf der Lauer, konnte er eigentlich nur ein Vampir sein.

Matthew schob mich hinter sich.

Der Mann löste sich geschmeidig von der rauen Borke und kam auf uns zugeschlendert. Das bleiche Gesicht und die großen, dunklen Augen, die durch das Schwarz seiner Lederjacke, Jeans und Stiefel noch tiefer wirkten, ließen keinen Zweifel daran, dass er ein Vampir war. Diesem Vampir war es egal, ob jemand wusste, dass er anders war. Seine Wolfsmiene war der einzige Makel in dem ansonsten engelsgleichen Antlitz mit den symmetrischen Zügen und den dunklen Haaren, die sich bis auf seine Schultern lockten. Er war kleiner und leichter als Matthew, trotzdem strahlte er nicht zu unterschätzende Kraft aus. Bei seinem Blick gefror mir das Fleisch unter der Haut, und die Kälte breitete sich aus wie ein Blutfleck.

»Domenico«, begrüßte Matthew ihn ruhig, allerdings lauter als sonst.

»Matthew.« Der Vampir warf Matthew einen Blick zu, aus dem kalter Hass sprach.

»Wir haben uns lange nicht gesehen.« Matthew blieb so gelassen, als wäre ein unangemeldeter Vampir auf Besuch das Normalste auf der Welt.

Domenico sah ihn nachdenklich an. »Wann war das noch mal? In Ferrara? Als wir beide gegen den Papst kämpften  – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, wenn ich mich recht erinnere. Ich versuchte Venedig zu retten. Du versuchtest die Tempelritter zu retten.«

Matthew nickte bedächtig, ohne den Blick von dem Vampir zu nehmen. »Ich glaube, du hast recht.«

»Danach, mein Freund, warst du wie vom Erdboden verschwunden. Dabei haben wir in unserer Jugend so viele Abenteuer zusammen erlebt: auf den Ozeanen, im Heiligen Land. Venedig war für einen Vampir wie dich immer voller Vergnügungen, Matthew.« Scheinbar besorgt schüttelte Domenico den Kopf. Der Vampir im Tor des Châteaus sah wirklich aus wie ein Venezianer  – oder wie eine unheilige Kreuzung zwischen einem Engel und einem Teufel. »Warum hast du mich nie besucht, wenn du aus Frankreich in eines deiner vielen Verstecke fliehen musstest?«

»Falls ich damals irgendwen beleidigt habe, Domenico, ist das gewiss zu lange her, als dass es uns heute noch beschäftigen sollte.«

»Vielleicht, aber eines hat sich in all den Jahren nicht geändert: Immer wenn es irgendwo eine Krise gibt, ist ein de Clermont in der Nähe.« Er sah mich an, und etwas wie Gier leuchtete in seinem Gesicht auf. »Das muss die Hexe sein, von der ich so viel gehört habe.«

»Diana, geh wieder ins Haus«, befahl Matthew mir scharf.

Ich konnte die Gefahr spüren, aber ich zögerte, weil ich ihn um keinen Preis allein lassen wollte.

»Geh!«, wiederholte er, und diesmal war seine Stimme scharf wie ein Schwert.

Unser Vampirbesucher erblickte etwas hinter mir und begann zu lächeln. Eine eisige Brise wehte an mir vorbei, und ein kalter, harter Arm hakte sich in meinen.

Domenico machte einen formvollendeten Kratzfuß. »Madame, es ist mir eine Freude, Sie bei so guter Gesundheit zu sehen. Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«

»Ich habe dich gerochen«, erklärte Ysabeau verächtlich. »Du kommst hierher, in mein Haus, ohne eingeladen worden zu sein? Was würde deine Mutter sagen, wenn sie wüsste, dass du dich so benimmst?«

»Wenn meine Mutter noch am Leben wäre, könnten wir sie fragen«, antwortete Domenico mit kaum verhohlener wilder Wut.

»Maman, bring Diana ins Haus.«

»Natürlich, Matthew. Dann könnt ihr euch ungestört unterhalten.« Ysabeau machte kehrt und zog mich mit sich fort.

»Ihr seid mich schneller wieder los, wenn ihr mich meine Botschaft überbringen lasst«, rief Domenico uns nach. »Falls ich noch einmal kommen muss, dann bestimmt nicht allein. Der heutige Besuch ist eine Geste der Höflichkeit dir gegenüber, Ysabeau.«

»Sie hat das Buch nicht«, wies Matthew ihn scharf zurecht.

»Ich bin nicht auf das verfluchte Hexenbuch aus, Matthew. Das können sie ruhig behalten. Mich hat die Kongregation geschickt.«

Ysabeau atmete langsam und tief aus, so als hätte sie tagelang die Luft angehalten. Eine Frage blubberte in mir hoch, doch Ysabeau brachte mich mit einem Blick zum Schweigen.

»Es überrascht mich, Domenico, dass du bei deinen vielen neuen Aufgaben noch Zeit hast, alte Freunde zu besuchen.« Aus Matthews Stimme sprach tiefste Verachtung. »Warum vergeudet die Kongregation ihre Zeit damit, den de Clermonts einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, wenn gleichzeitig Vampire überall in Europa blutleere Leichen hinterlassen, die von den Menschen gefunden werden?«

»Es ist Vampiren nicht verboten, sich von Menschen zu ernähren  – auch wenn ich diese Sorglosigkeit missbillige. Wie du weißt, folgt uns Vampiren der Tod auf Schritt und Tritt.« Domenico tat die brutalen Morde mit einem Achselzucken ab, und mir jagte ein eisiger Schauer über den Rücken, als ich erkannte, wie wenig ihn das zerbrechliche Leben von uns Warmblütern interessierte. »Dagegen verbietet der Kodex eindeutig jede Verbindung zwischen einem Vampir und einer Hexe.«

Ich drehte mich um und starrte Domenico an. »Was haben Sie da gesagt?«

»Sie kann sprechen!« Domenico klatschte in ironischer Freude in die Hände. »Warum soll die Hexe nicht an unserer Unterhaltung teilhaben?«

Matthew fasste nach hinten und zog mich nach vorn. Ysabeau hatte mich unter dem anderen Arm eingehakt. Wir bildeten eine kurze, feste Kette aus Vampir, Hexe und Vampirin.

»Diana Bishop.« Domenico verbeugte sich wieder. »Es ist mir eine Ehre, eine Hexe aus einer so alten und angesehenen Familie kennenzulernen, wo es doch nur noch wenige so alte Familien gibt.« Jedes Wort klang nach einer Drohung.

»Wer sind Sie?«, fragte ich. »Und warum sollte es Sie interessieren, mit wem ich meine Zeit verbringe?«

Der Venezianer sah mich neugierig an, dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. »Man hat mich gewarnt, dass Sie ebenso streitbar seien wie Ihr Vater, aber ich wollte das nicht glauben.«

Meine Finger begannen leise zu kribbeln, und Ysabeau verstärkte kaum merklich ihren Griff.

»Habe ich die Hexe verärgert?« Domenicos Blick haftete an Ysabeaus Arm.

»Sag uns, was du zu sagen hast, und verschwinde dann von unserem Grund«, sagte Matthew.

»Ich heiße Domenico Michele. Ich kenne Matthew, seit ich wiedergeboren wurde, und Ysabeau beinahe genauso lange. Natürlich kenne ich beide nicht so gut, wie ich die bezaubernde Louisa kannte. Aber wir sollten nicht leichtfertig von den Toten sprechen.« Der Venezianer bekreuzigte sich heuchlerisch.

»Du solltest möglichst überhaupt nicht von meiner Schwester sprechen. « Matthew blieb äußerlich immer noch ruhig, aber Ysabeau sah aus, als wollte sie ihn jeden Moment töten, und ihre Lippen waren schneeweiß.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, mischte ich mich ein und lenkte Domenicos Aufmerksamkeit erneut auf mich.

In den Augen des Venezianers funkelte offene Anerkennung.

»Diana.« Matthew konnte das Rumoren in seiner Kehle nicht unterdrücken. Er war kurz davor, mich anzuknurren. Marthe kam aufgeregt aus der Küche gelaufen.

»Sie ist feuriger als die meisten ihrer Art, wie ich sehe. Riskierst du deshalb so viel, nur damit du sie bei dir behalten kannst? Amüsiert sie dich? Oder hast du vor, dich an ihr sattzutrinken, bis sie dich langweilt und du sie wegwirfst wie die anderen Warmblüter?«

Matthews Hände zuckten an den Lazarussarg, der sich unter seinem Pullover abzeichnete. Seit wir in Sept-Tours angekommen waren, hatte er ihn nicht mehr berührt.

Domenicos scharfem Auge entging die Geste nicht, und er reagierte mit einem unversöhnlichen Lächeln. »Gewissensbisse?«

Dass Domenico Matthew so provozierte, machte mich derart wütend, dass ich den Mund öffnete, um ihn zurechtzuweisen.

»Diana, du gehst sofort ins Haus zurück.« Matthews Tonfall ließ darauf schließen, dass wir später ein ernstes Gespräch führen würden. Er schubste mich unauffällig in Ysabeaus Richtung und baute sich noch abweisender zwischen seiner Mutter, mir und dem düsteren Venezianer auf. Inzwischen war auch Marthe zu uns gestoßen und verschränkte die Arme in einer verblüffenden Imitation von Matthews Geste vor der Brust.

»Nicht bevor nicht die Hexe gehört hat, was ich zu sagen habe. Ich bin hier, um eine Warnung auszusprechen, Diana Bishop. Beziehungen zwischen Hexen und Vampiren sind untersagt. Sie werden dieses Haus verlassen und weder Matthew de Clermont noch irgendjemanden aus seiner Familie wiedersehen. Andernfalls wird die Kongregation alle nötigen Schritte unternehmen, um den Pakt zu bewahren.«

»Ich kenne Ihre Kongregation nicht, und ich bin keinem Pakt beigetreten«, erklärte ich ihm immer noch wütend. »Außerdem kann man einen Pakt nicht erzwingen. Ein Pakt wird freiwillig geschlossen.«

»Sie sind nicht nur Historikerin, sondern auch Juristin? Ihr modernen Frauen mit eurer ausgefeilten Ausbildung fasziniert mich immer wieder. Nur in der Theologie sind Frauen nicht zu gebrauchen«, fuhr Domenico sorgenvoll fort. »Glauben Sie, wir hätten damals den Ideen dieses Häretikers Calvin angehangen, als wir uns gegenseitig dieses Versprechen gaben? Als der Pakt geschlossen wurde, galt er für alle Vampire, Dämonen und Hexen  – vergangene, gegenwärtige und zukünftige. Es geht hier nicht um einen Weg, den man nach Belieben einschlagen kann.«

»Du hast deine Warnung ausgesprochen, Domenico«, sagte Matthew mit samtweicher Stimme.

»Mehr habe ich der Hexe auch nicht zu sagen«, erwiderte der Venezianer. »Dir allerdings sehr wohl.«

»Dann wird Diana jetzt ins Haus zurückkehren. Bring sie hier weg, Maman«, befahl er angespannt.

Diesmal erfüllte seine Mutter seinen Wunsch ohne zu zögern, und Marthe folgte uns. »Nicht«, zischte Ysabeau, als ich mich zu Matthew umdrehen wollte.

»Wo kam dieses Ding denn her?«, fragte Marthe, als wir sicher im Haus angekommen waren.

»Vermutlich aus der Hölle«, sagte Ysabeau. Sie legte kurz die Fingerspitzen an mein Gesicht, zuckte aber sofort zurück, als sie die Wärme in meinen zornesroten Wangen spürte. »Sie sind tapfer, mein Mädchen, aber das eben war töricht. Sie sind kein Vampir. Begeben Sie sich nicht in Gefahr, indem Sie mit Domenico oder einem seiner Verbündeten streiten. Halten Sie sich von denen fern.«

Ysabeau ließ mir keine Zeit für eine Erwiderung, sondern eilte, mich weiterhin eingehakt, in rasendem Tempo durch die Küche, den Speisesaal, den Salon und in die große Halle. Schließlich zerrte sie mich zu dem Türstock, hinter dem die Treppe zum wuchtigsten Turm des Schlosses lag. Schon bei dem Gedanken an den Aufstieg verkrampften sich meine Waden.

»Wir müssen«, beharrte sie. »Dort wird Matthew uns suchen.«

Angst und Wut trieben mich die erste Hälfte der Treppe hinauf. Die zweite Hälfte bewältigte ich mit blanker Willenskraft. Als ich den Fuß über die letzte Stufe hob, fand ich mich auf einem flachen Dach wieder, von dem aus man in alle Richtungen schauen konnte. Hier oben wehte eine Brise, die meine geflochtenen Haare lockerte und die feuchte Luft um mich herum zum Tanzen brachte.

Ysabeau schritt sofort zu einem Fahnenmast, der sich noch einmal vier Meter in den Himmel erhob. Sie hisste ein gegabeltes schwarzes Banner mit einem silbernen Uroboros darauf. Der Stoff entfaltete sich im Zwielicht, bis die Schlange mit dem glänzenden Schwanz in ihrem Maul deutlich zu sehen war. Ich beugte mich zwischen zwei Zinnen über die Brüstung, und Domenico sah zu mir auf.

Im nächsten Moment wurde auf einem Gebäude im Ort ein ähnliches Banner gehisst, und eine Glocke schlug an. Männer und Frauen traten aus den Häusern, Bars, Geschäften und Büros und wandten sich Sept-Tours zu, wo das uralte Symbol für Beständigkeit und Wiedergeburt im Wind flatterte. Ich sah Ysabeau an, und die Frage stand mir deutlich im Gesicht.

»Unser Familienwappen und eine Warnung an das Dorf, auf der Hut zu sein«, erklärte sie. »Wir hissen das Banner nur, wenn Fremde im Schloss sind. Die Dorfbewohner haben sich daran gewöhnt, unter Vampiren zu leben, aber auch wenn sie von uns nichts zu befürchten haben, bewahren wir das Banner für Augenblicke wie diesen auf. Die Welt ist voller Vampire, denen man nicht trauen kann, Diana. Domenico Michele ist einer von ihnen.«

»Das hätten Sie mir nicht zu sagen brauchen. Wer zum Teufel ist er?«

»Ein uralter Freund von Matthew«, murmelte Ysabeau, den Blick fest auf ihren Sohn geheftet. »Und genau das macht ihn zu einem äußerst gefährlichen Feind.«

Ich sah wieder zu Matthew hinab, der immer noch mit Domenico sprach, wobei beide Abstand hielten. Plötzlich trafen sich die beiden in einem hektischen grauschwarzen Wirbel, und im nächsten Moment flog der Venezianer gegen den Kastanienbaum, an dem er gelehnt hatte, als wir aus dem Tor getreten waren. Ein lautes Krachen hallte über das Château.

»Gut gemacht«, murmelte Ysabeau.

»Wo ist Marthe?« Ich sah über die Schulter zur Treppe.

»Unten in der Halle. Nur für alle Fälle.« Ysabeaus scharfer Blick lag wie gebannt auf ihrem Sohn.

»Würde Domenico tatsächlich hier heraufkommen und mir die Kehle aufreißen?«

Ysabeau bedachte mich mit ihrem schwarzen, kalten Blick. »Das wäre zu einfach, meine Liebe. Erst würde er mit Ihnen spielen. Er spielt immer erst mit seiner Beute. Und Domenico liebt es, sich vor Publikum zu produzieren.«

Ich schluckte schwer. »Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Bestimmt, wenn Sie tatsächlich über solche Kräfte verfügen, wie Matthew meint. Ich habe festgestellt, dass Hexen sehr gut darin sind, sich zu schützen, wenn sie sich ein wenig Mühe geben und es ihnen nicht an Mut fehlt«, sagte Ysabeau.

»Was ist das für eine Kongregation, von der Domenico gesprochen hat?«, fragte ich.

»Ein neunköpfiger Rat  – mit jeweils drei Mitgliedern aus den Orden der Dämonen, Hexen und Vampire. Er wurde während der Kreuzzüge ins Leben gerufen, um zu verhindern, dass die Menschen auf uns aufmerksam wurden. Wir waren damals recht unbedacht und mischten uns leichtfertig in ihre Politik und in andere menschliche Verrücktheiten ein.« Ysabeau klang verbittert. »Ehrgeiz, Stolz und gierige Geschöpfe wie Michele, die nie zufrieden waren mit ihrem Los und ständig mehr wollten, zwangen uns, den Pakt zu schließen.«

Die Vorstellung, dass Matthew und ich an Verabredungen gebunden sein sollten, die irgendwelche mittelalterlichen Kreaturen getroffen hatten, war lächerlich.

Die Brise löste ein paar Strähnen von Ysabeaus schweren, honigblonden Haaren und wehte sie um ihr Gesicht. »Sobald wir uns untereinander mischten, haben wir Verdacht erregt. Sobald wir uns für ihre Angelegenheiten interessierten, weckte unsere Klugheit ihr Misstrauen. Diese armen Geschöpfe sind nicht besonders helle, aber sie sind auch nicht ganz dumm.«

»›Mischen‹ heißt in diesem Fall: keine gemeinsamen Abendessen oder Tänze.«

»Keine Abendessen, keine Tänze  – auch keine Küsse oder Schlaflieder«, bemerkte Ysabeau spitz. »Und was nach dem Küssen und Tanzen kommt, ist erst recht verboten. Bevor der Pakt geschlossen wurde, platzten wir fast vor Arroganz. Damals gab es viel mehr von uns, und wir hatten uns angewöhnt, uns zu nehmen, was uns gefiel.«

»Was deckt dieses Versprechen sonst noch ab?«

»Keine Politik, keine Religion. Zu viele Prinzen und Päpste waren damals nichtmenschliche Geschöpfe. Als die Menschen begannen, Chroniken zu verfassen, wurde es immer komplizierter, von einem Leben ins nächste zu wechseln.« Ysabeau schauderte. »Weil die Menschen uns immer genauer beobachteten, war es für uns Vampire bald schwierig, einen glaubhaften Tod vorzutäuschen und dann ein neues Leben zu beginnen.«

Ich warf einen kurzen Blick auf Matthew und Domenico, aber beide standen noch vor den Mauern des Châteaus. »Also«, wiederholte ich und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Keine Verbrüderung unter verschiedenen Arten von Geschöpfen. Keine Einmischung in menschliche Politik oder Religion. Noch etwas?« Offenbar rührte die Xenophobie meiner Tante und ihr erbitterter Widerstand gegen mein Jurastudium daher, dass sie diese uralte Übereinkunft nicht wirklich verstanden hatte.

»Ja. Sollte ein Geschöpf den Pakt brechen, dann ist es Aufgabe der Kongregation, dafür zu sorgen, dass dieses Fehlverhalten unterbunden und der Eid nicht verletzt wird.«

»Und wenn zwei Geschöpfe den Pakt brechen?«

Die Stille dehnte sich zum Zerreißen.

»Soweit ich weiß, ist das noch nie vorgekommen«, antwortete sie grimmig. »Und daher ist es nur gut, dass ihr es nicht getan habt.«

Gestern hatte ich Matthew die simple Frage gestellt, ob er sich zu mir legen wollte, und er hatte genau gewusst, dass das mitnichten eine simple Frage war. Es war nicht so, wie ich vermutet hatte, nämlich dass er mir oder seinen Gefühlen misstraut hätte. Nein, Matthew hatte erst wissen wollen, wie weit uns die Kongregation würde gehen lassen, bevor sie eingriff.

Die Antwort hatten wir postwendend erhalten. Man würde uns keinen Schritt weiter gehen lassen.

Meine Erleichterung schlug in Zorn um. Wenn sich niemand beschwert und sich unsere Beziehung ungestört weiterentwickelt hätte, dann hätte er mir nie von der Kongregation oder dem Pakt erzählt. Und sein Schweigen hätte sich auf meine Familie ebenso wie auf seine ausgewirkt. Vielleicht hätte ich bis ans Ende meiner Tage meine Tante und Ysabeau für bigott gehalten. Stattdessen erfüllten beide nur ein Versprechen, das vor langer Zeit abgegeben worden war  – was mir zwar unverständlich, aber doch verzeihlich war.

»Ihr Sohn muss endlich aufhören, Geheimnisse vor mir zu haben.« Mein Zorn kochte hoch, bis meine Fingerspitzen wieder kribbelten. »Und Sie sollten sich weniger Gedanken über die Kongregation machen als darüber, was ich mit ihm anstellen werde, wenn er mir wieder unter die Augen tritt.«

Sie schnaubte. »Sie werden nicht allzu viel anstellen können, weil er Sie sofort dafür rügen wird, dass Sie in Domenicos Gegenwart seine Autorität in Zweifel gezogen haben.«

»Ich stehe nicht unter seiner Autorität.«

»Sie, meine Liebe, müssen noch viel über Vampire lernen«, stellte sie selbstzufrieden fest.

»Und Sie über mich. Genau wie die Kongregation.«

Ysabeau packte mich bei den Schultern und bohrte die Fingernägel in meine Oberarme. »Das ist kein Spiel, Diana. Matthew ist bereit, sich gegen Kreaturen zu stellen, die er seit Jahrhunderten kennt, nur um Sie zu schützen. Ich bitte Sie inständig, das nicht zuzulassen. Andernfalls wird man ihn umbringen.«

»Matthew ist sein eigener Herr, Ysabeau«, gab ich kühl zurück. »Ich werde ihm nicht vorschreiben, was er zu tun hat.«

»Nein, trotzdem steht es in Ihrer Macht, ihn wegzuschicken. Erklären Sie ihm, dass Sie sich weigern, seinetwegen den Pakt zu brechen  – oder dass Sie bloß Ihre Neugier stillen wollten  –, dafür sind Hexen schließlich berühmt.« Sie stieß mich weg. »Wenn Sie ihn lieben, werden Sie genau wissen, was Sie sagen müssen.«

»Es ist vorbei«, rief Marthe vom Treppenaufgang aus.

Wir eilten an die Brüstung. Ein schwarzes Pferd mit Reiter galoppierte von den Stallungen weg und setzte über den Zaun der Koppel, bevor es mit donnernden Hufen im Wald verschwand.