24
Aus weiter Ferne gewahrte ich eine schwarze Wolke, die die Erde überzog und sie verschlang und meine Seele bedeckte, bis die Wasser in sie einströmten und sie faulig und verderbt wurde, weil sie die untere Hölle und den Schatten des Todes gesehen hatte. Ein Sturm hatte mich ertränkt«, las ich laut in Matthews Ausgabe der Aurora Consurgens.
Ich beugte mich über den Computer und tippte meine Anmerkungen zu der Bildsprache ein, mit der dieser unbekannte Autor das Nigredo, einen der gefährlichen Schritte bei der alchemistischen Transformation, umschrieben hatte. In diesem Abschnitt des Verwandlungsprozesses gaben die vermischten Substanzen wie Quecksilber und Blei giftige Dämpfe ab, die dem Alchemisten gefährlich werden konnten. Passenderweise hielt sich eine der Fratzen, die Bourgot le Noir gemalt hatte, die Nase zu, um die im Text erwähnte Wolke nicht zu riechen.
»Ziehen Sie sich die Reitsachen an.«
Ich sah von den Manuskriptseiten auf.
»Matthew hat mir das Versprechen abgenommen, mit Ihnen ins Freie zu gehen. Er sagte, Sie bräuchten das, damit Sie nicht krank werden«, erklärte Ysabeau.
»Das ist nicht nötig, Ysabeau. Domenico und die Hexenflut haben meine Adrenalinvorräte erschöpft, falls Sie sich deswegen Sorgen machen.«
»Matthew hat Ihnen doch bestimmt erzählt, wie betörend Angst für Vampire riecht.«
»Marcus hat es mir erzählt«, berichtigte ich. »Genauer gesagt hat er mir erzählt, wie Angst schmeckt. Wie riecht sie?«
Ysabeau zuckte mit den Achseln. »So wie sie schmeckt. Vielleicht noch etwas exotischer – mit einem Hauch Moschus. Ich war nie besonders angetan davon. Ich ziehe das Töten der Jagd vor. Aber jede, wie es ihr beliebt.«
»Ich leide in letzter Zeit kaum noch unter Panikattacken. Deswegen müssen Sie nicht mit mir reiten gehen.« Ich beugte mich wieder über meine Arbeit.
»Warum sind sie Ihrer Meinung nach seltener geworden?«, fragte Ysabeau.
»Das weiß ich beim besten Willen nicht.« Ich seufzte und sah Matthews Mutter an.
»Leiden Sie schon lange darunter?«
»Seit ich sieben war.«
»Was ist damals passiert?«
»Da wurden meine Eltern in Nigeria getötet«, antwortete ich knapp.
»Das war das Bild, das man Ihnen geschickt hat – das dazu geführt hat, dass Matthew Sie nach Sept-Tours brachte.«
Als ich nickte, zog sich Ysabeaus Mund zu der vertrauten dünnen Linie zusammen. »Schweine.«
Man konnte sie Schlimmeres schimpfen, aber »Schweine« traf es ziemlich gut.
»Panik oder keine Panik«, bestimmte Ysabeau, »wir reiten aus, wie Matthew es gewollt hat.«
Ich fuhr den Computer herunter und ging nach oben, um mich umzuziehen. Dank Marthe lagen meine Reitsachen ordentlich zusammengefaltet im Bad, nur die Stiefel hatte ich zusammen mit dem Helm und der Weste im Stall gelassen. Ich stieg in die schwarze Reithose, zog einen schwarzen Rollkragenpullover über und schlüpfte mit warmen Socken in ein paar Slipper, bevor ich wieder nach unten ging, um nach Matthews Mutter zu suchen.
»Ich bin hier drin«, rief sie. Ich folgte ihrem Ruf in einen kleinen Raum, der in warmem Terrakottabraun gestrichen war. Er war mit altem Porzellan und Geweihen dekoriert und mit einer wuchtigen alten Kommode ausgestattet, in der das Geschirr und Besteck eines ganzen Restaurants Platz gefunden hätte. Ysabeau sah mich über den Rand der Le Monde an und tastete mich mit ihren Augen ab. »Marthe hat mir erzählt, dass Sie gut geschlafen haben.«
»Ja, danke.« Ich trat von einem Fuß auf den anderen.
Marthe ersparte mir weitere Peinlichkeiten, indem sie eine Kanne Tee brachte. Auch sie nahm mich von Kopf bis Fuß in Augenschein.
»Es geht Ihnen heute besser«, stellte sie schließlich fest und reichte mir eine Tasse. Mit ernster Miene stand sie da, bis Matthews Mutter die Zeitung beiseitegelegt hatte, dann verschwand sie wieder.
Als ich meinen Tee getrunken hatte, gingen wir zu den Ställen. Ysabeau musste mir mit den Stiefeln zur Hand gehen, die immer noch zu steif waren, als dass ich sie allein an- oder ausziehen konnte, und sie beobachtete aufmerksam, wie ich meinen Schildkrötenpanzer von Weste anlegte und den Helm aufsetzte. Ganz eindeutig hatte Matthew sie instruiert, dass ich beides anlegen musste. Ysabeau trug natürlich nur eine braune Steppjacke als Schutz. Beim Reiten war es besonders praktisch, dass Vampirfleisch mehr oder weniger unzerstörbar war.
Auf der Koppel standen Fiddat und Rakasa nebeneinander. Sie sahen aus wie Spiegelbilder.
»Ysabeau«, protestierte ich, »Georges hat Rakasa falsch gesattelt. Ich kann nicht im Damensattel reiten.«
»Fürchten Sie sich?« Matthews Mutter sah mich abschätzend an.
»Nein!« Ich zügelte meinen Zorn. »Ich reite nur lieber im Herrensitz.«
»Woher wollen Sie das wissen?« In ihren Smaragdaugen flackerte ein tückischer Funke auf.
Sekundenlang standen wir schweigend da und sahen uns an. Rakasa stampfte mit dem Huf auf und sah über die Schulter zu uns her.
Wollt ihr jetzt reiten oder reden?, schien sie zu fragen.
Benimm dich, rief ich sie barsch zur Ordnung, ging zu ihr und legte ihre Fessel auf mein Knie.
»Das hat Georges schon erledigt«, verkündete Ysabeau gelangweilt.
»Ich will mich persönlich überzeugen, bevor ich mich auf ein Pferd setze.« Ich prüfte Rakasas Hufe, fuhr mit den Händen die Zügel nach und schob dann die Finger unter den Sattel.
»Genau wie Philippe früher.« Aus Ysabeaus Stimme sprach widerwillige Anerkennung. Mit kaum verhohlener Ungeduld sah sie mir zu, bis ich fertig war. Dann führte sie Fiddat zu einer kleinen Holzleiter und wartete ab, bis ich ihr gefolgt war. Nachdem sie mir in den ungewohnten Sattel geholfen hatte, sprang sie auf ihr eigenes Pferd. Ich sah nur einmal zu ihr hinüber und wusste sofort, dass mir ein anstrengender Vormittag bevorstand. Ihrer Haltung nach zu urteilen ritt Ysabeau besser als Matthew – und der war der beste Reiter, der mir bisher begegnet war.
»Führen Sie ihn einmal im Kreis«, sagte Ysabeau. »Ich will sichergehen, dass Sie nicht herunterfallen und sich das Genick brechen.«
»Sie können mir vertrauen, Ysabeau.« Lass mich nicht fallen, handelte ich mit Rakasa, dann sorge ich dafür, dass du bis an dein Lebensende jeden Tag einen Apfel bekommst. Die Ohren meiner Stute zuckten vor und wieder zurück, und sie wieherte leise. Wir umkreisten zweimal die Koppel, bevor ich vor Matthews Mutter anhielt. »Zufrieden?«
»Sie reiten besser, als ich erwartet hätte«, gab sie zu. »Wahrscheinlich könnten Sie sogar springen, aber ich habe Matthew versprochen, auch das zu unterlassen.«
»Er hat dir einen Haufen Versprechen abgenommen, bevor er losgefahren ist«, murmelte ich vor mich hin und hoffte, dass sie mich nicht hörte.
»Allerdings.« Natürlich war ihr mein Gemurmel nicht entgangen. »Und manche sind schwerer zu halten als andere.«
Wir passierten das offene Koppeltor. Georges tippte sich an den Hut und schloss dann grinsend und kopfschüttelnd das Tor hinter uns.
Matthews Mutter blieb auf relativ ebenem Gelände, bis ich mich an den fremden Sattel gewöhnt hatte. Der Trick war, den Körper gerade zu halten, auch wenn man dabei das Gefühl hatte, jeden Moment vom Pferd zu purzeln.
»Das ist gar nicht so schlecht«, meinte ich nach zwanzig Minuten.
»Seitdem die Sättel zwei Hörner haben, ist es einfacher«, sagte Ysabeau. »Davor war ein Damensattel höchstens zu gebrauchen, wenn das Pferd von einem Mann herumgeführt wurde«, sagte sie mit hörbarer Verachtung. »Erst als die italienische Königin einen Sattelknauf und Steigbügel an ihren Sattel montieren ließ, konnten wir die Pferde selbst lenken. Die Geliebte ihres Mannes ritt im Herrensitz, damit sie ihn auf seinen Ausritten begleiten konnte. Katharina wurde immer zu Hause gelassen, was für eine Ehefrau ausgesprochen unangenehm ist.« Sie durchbohrte mich mit einem giftigen Blick. »Heinrichs Hure hieß nach der Göttin der Jagd, genau wie Sie.«
»Ich hätte mich bestimmt nicht mit Katharina de Medici angelegt.« Ich schüttelte den Kopf.
»Die Mätresse des Königs, Diana von Poitiers, war viel gefährlicher«, meinte Ysabeau düster. »Sie war eine Hexe.«
»Wirklich oder metaphorisch?«, fragte ich interessiert.
»Beides«, antwortete Matthews Mutter in einem Tonfall, mit dem man Farbe hätte wegätzen können. Ich lachte. Ysabeau sah mich überrascht an und lachte dann ebenfalls.
Wir ritten weiter. Plötzlich begann Ysabeau zu schnuppern und richtete sich im nächsten Moment hellwach im Sattel auf.
»Was ist?«, fragte ich ängstlich und zog an Rakasas Zügel.
»Ein Hase.« Sie trieb Fiddat in einen leichten Galopp. Ich folgte ihr dichtauf, denn ich wollte nicht ausprobieren, ob eine Hexe im Wald tatsächlich so schwer aufzuspüren war, wie Matthew angedeutet hatte.
Wir galoppierten durch die Bäume und dann auf ein freies Feld. Ysabeau hielt Fiddat an, und ich lenkte Rakasa neben sie.
»Haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Vampir tötet?«, Ysabeau beobachtete genau, wie ich reagierte.
»Nein«, antwortete ich gleichmütig.
»Hasen sind klein. Damit fangen wir an. Warten Sie hier.« Sie schwang sich aus dem Sattel und sprang leichtfüßig auf den Boden. Fiddat blieb gehorsam stehen und sah seiner Herrin zu. »Diana«, sagte sie scharf, ohne auch nur einmal ihre Beute aus dem Blick zu lassen, »kommen Sie nicht in meine Nähe, solange ich jage oder trinke. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.« In meinem Kopf überschlugen sich die Bilder. Ysabeau wollte einen Hasen jagen, ihn töten und vor meinen Augen sein Blut trinken? Da würde ich auf keinen Fall in ihre Nähe kommen wollen.
Matthews Mutter schoss über die Wiese davon, so schnell, dass ich sie nicht im Auge behalten konnte. Auf einmal hielt sie inne wie ein Falke kurz vor dem Sturzflug, dann bückte sie sich und hielt im nächsten Moment ein verängstigtes Häschen an den Ohren. Triumphierend hob Ysabeau das Tier in die Höhe, bevor sie die Zähne mitten in sein Herz schlug.
Hasen mögen nicht besonders groß sein, aber wenn man ihnen bei lebendigem Leib das Herz zerfetzt, bluten sie stärker, als man meint. Es war ein grauenvoller Anblick. Ysabeau sog das Blut aus dem Tier, das in kürzester Zeit zu zappeln aufhörte, dann wischte sie sich mit dem Fell den Mund ab und schleuderte den Kadaver ins Gras. Drei Sekunden später schwang sie sich wieder in den Sattel. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und ihre Augen funkelten lebhafter als sonst. Sobald sie aufgestiegen war, sah sie mich an.
»Und?«, fragte sie. »Sollen wir nach etwas Größerem Ausschau halten, oder möchten Sie lieber zurückreiten?«
Ysabeau de Clermont stellte mich auf die Probe.
»Nach Ihnen«, sagte ich grimmig und drückte Rakasa die Hacken in die Flanken.
Ab da maß ich den Ausritt nicht mehr an der Bewegung der Sonne, die sich noch hinter den Wolken versteckte, sondern an den immer heftigeren Blutströmen, die Ysabeaus hungriger Mund aus den erbeuteten Tieren sog. Obwohl sie dabei relativ gesittet blieb, würde ich in der nächsten Zeit wohl kein Steak essen wollen.
Nach dem Hasen, dem zu groß geratenen Eichhörnchen, das laut Ysabeau ein Murmeltier war, einem Fuchs und einem Mufflon war ich gegen den blutigen Anblick abgestumpft – hatte ich wenigstens angenommen. Doch als Ysabeau einem jungen Rehbock nachsetzte, spürte ich ein Kribbeln in meinem Inneren.
»Ysabeau«, protestierte ich. »Sie können unmöglich noch hungrig sein. Lassen Sie ihn laufen.«
»Was? Die Göttin der Jagd hat etwas dagegen, dass ich einem Rehbock nachsetze?« Sie sagte das spöttisch, aber sie sah mich neugierig dabei an.
»Ja«, bestätigte ich knapp.
»Und ich habe etwas dagegen, dass Sie meinem Sohn nachsetzen.« Ysabeau schwang sich von ihrem Pferd.
Es juckte mich in den Fingern einzugreifen, und ich konnte mich nur mit Mühe von Ysabeau fernhalten, während sie sich an ihre Beute heranpirschte. Nach jedem Riss hatten ihre Augen verraten, dass sie ihre Emotionen – und Taten – nicht wirklich unter Kontrolle hatte.
Der Rehbock versuchte zu entkommen. Er schaffte es sogar, ins Unterholz zu springen, doch Ysabeau verschreckte das Tier so sehr, dass es ins Freie zurückfloh. Danach hatte der müde werdende Rehbock keine Chance mehr. Ysabeau tötete schnell, und der Rehbock musste nicht leiden, trotzdem musste ich mir auf die Lippe beißen, um nicht aufzuschreien.
»So«, sagte sie zufrieden und kehrte zu Fiddat zurück. »Jetzt können wir nach Sept-Tours zurückreiten.«
Wortlos wendete ich Rakasa zum Château hin.
Ysabeau griff meinem Pferd in die Zügel. Auf ihrer cremefarbenen Bluse leuchteten winzige Blutströpfchen. »Glauben Sie immer noch, dass Vampire elegante Geschöpfe sind? Glauben Sie immer noch, dass es einfach wäre, mit meinem Sohn zusammenzuleben, obwohl Sie wissen, dass er töten muss, um zu überleben?«
Es fiel mir schwer, »Matthew« und »töten« in einem Satz zusammenzubringen. Vielleicht würde ich noch das Blut auf seinen Lippen schmecken, sollte ich ihn eines Tages küssen, nachdem er von der Jagd zurückkehrte. Und Tage wie der, den ich eben mit Ysabeau verbracht hatte, würden die Regel werden. »Wenn Sie damit erreichen wollen, dass ich mich vor Ihrem Sohn ekle, dann haben Sie versagt«, antwortete ich unbeirrt. »Dazu braucht es mehr.«
»Marthe meinte auch, das würde nicht ausreichen, damit Sie sich von ihm abwenden«, gestand sie.
»Sie hatte recht.« Ich blieb kühl. »Können wir jetzt heimreiten?«
Schweigend ritten wir auf die Bäume zu. Als wir unter dem grünen Dach des Waldes waren, wandte sich Ysabeau mir zu. »Verstehen Sie, warum Sie widerspruchslos alles tun müssen, was Matthew Ihnen aufträgt?«
Ich seufzte. »Ich dachte, der Unterricht wäre für heute beendet.«
»Glauben Sie, unsere Ernährungsgewohnheiten sind das Einzige, was zwischen Ihnen und meinem Sohn steht?«
»Also raus mit der Sprache, Ysabeau. Warum muss ich alles tun, was Matthew sagt?«
»Weil er der stärkste Vampir im Château ist. Er ist das Oberhaupt unseres Hauses.«
Ich starrte sie fassungslos an. »Wollen Sie mir allen Ernstes erklären, ich müsse auf ihn hören, weil er der Leitwolf ist?«
»Glauben Sie etwa, dass Sie es sind?« Ysabeau schnaubte.
»Nein«, gestand ich ihr zu. Ysabeau war ebenfalls keine Leitwölfin. Sie tat, was Matthew ihr auftrug. Genau wie Marcus, Miriam und jeder Vampir in der Bodleian Library. Selbst Domenico hatte letztendlich einen Rückzieher gemacht. »Sind das die Regeln des Clermont-Rudels?«
Ysabeau nickte, und ihre grünen Augen glitzerten. »Es dient nur Ihrer Sicherheit – und der von uns allen –, wenn Sie gehorchen. Das ist kein Spiel.«
»Ich verstehe, Ysabeau.« Allmählich verlor ich die Geduld.
»Nein«, widersprach sie leise. »Sie werden es erst verstehen, wenn es Ihnen einmal vor Augen geführt wird, so wie ich Ihnen gerade vor Augen geführt habe, wie es ist, wenn ein Vampir tötet. Bis dahin sind das nur Worte. Eines Tages wird jemand wegen Ihres Eigensinnes sterben. Dann werden Sie begreifen, warum ich Ihnen das erklärt habe.«
Ohne weitere Gespräche kehrten wir zum Château zurück. Als wir durch Marthes Reich im Erdgeschoss eilten, kam sie mit einem kleinen Hühnchen in der Hand aus der Küche. Ich wurde blass. Marthe bemerkte die winzigen Blutspritzer auf Ysabeaus Manschetten und schnappte nach Luft.
»Sie muss das wissen«, zischte Ysabeau.
Marthe sagte etwas auf Okzitanisch, das sich verdächtig nach einem Fluch anhörte, und nickte mir dann zu. »Hier, Mädchen, kommen Sie mit, dann zeige ich Ihnen, wie man meinen Tee macht.«
Jetzt verdüsterte sich zur Abwechslung Ysabeaus Miene. Marthe machte mir etwas zu trinken und reichte mir einen Teller mit ein paar krümeligen, mit Nüssen bestreuten Keksen. Hähnchen kam vorerst nicht in Frage.
Mehrere Stunden ließ Marthe mich getrocknete Kräuter und Gewürze in kleine Häufchen sortieren, bis ich mir alle Namen eingeprägt hatte. Bis zum Nachmittag konnte ich sie entweder dem Geruch oder dem Aussehen nach bestimmen.
»Petersilie, Ingwer. Mutterkraut. Rosmarin. Salbei. Wilde Möhrensamen. Beifuß. Polei-Minze. Engelwurz. Weinraute. Gänsefingerkraut. Wacholderwurzel.« Ich deutete der Reihe nach darauf.
»Noch mal«, befahl Marthe fröhlich und überreichte mir ein Bündel von Musselinbeuteln.
Ich löste die Schnüre, legte die Beutel, genau wie Marthe es tat, nebeneinander auf dem Tisch aus und rezitierte erneut die verschiedenen Namen.
»Gut. Jetzt füllen Sie eine Fingerspitze von jedem in jeden Beutel.«
»Warum mischen wir nicht alles zusammen und löffeln es dann in die Beutel?« Ich nahm mit spitzen Fingern eine Prise Polei und zog die Nase kraus, als mir der Minzegeruch entgegenschlug.
»Weil dann vielleicht eines fehlt. In jedem Beutel muss jedes einzelne Kraut sein – alle zwölf.«
»Würde ein so kleiner Samen wirklich den Geschmack beeinflussen?« Ich hielt einen winzigen Möhrensamen zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Von jedem eine Fingerspitze voll«, wiederholte Marthe. »Noch mal.«
Die erfahrenen Hände der Vampirfrau huschten mit sicherem Griff von einem Häufchen zum nächsten, füllten die Beutel und zogen die Bändel wieder zu. Nachdem wir alles aufgeteilt hatten, goss Marthe eine Tasse Tee mit einem von mir gefüllten Beutel auf.
»Er schmeckt köstlich«, sagte ich und nippte glücklich an meinem selbst zusammengestellten Kräutertee.
»Nehmen Sie ihn nach Oxford mit. Jeden Tag eine Tasse. Der hält Sie gesund.« Sie begann die Beutel in eine Dose zu füllen. »Und jetzt wissen Sie, wie Sie ihn machen können.«
»Marthe, Sie müssen mir nicht alles davon mitgeben«, protestierte ich.
»Sie werden das für Marthe trinken, eine Tasse am Tag. Ja?«
»Natürlich.« Wenigstens das konnte ich für meine letzte Verbündete in diesem Haus tun.
Nach dem Tee ging ich hinauf in Matthews Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein. Nach dem langen Ritt schmerzten meine Unterarme, darum zog ich mit meinem Computer und dem Manuskript an seinen Schreibtisch um, wo ich hoffentlich bequemer arbeiten konnte als an dem Tisch am Fenster. Dummerweise war der Ledersessel für jemanden von Matthews Größe gebaut, weshalb meine Füße in der Luft baumelten.
Andererseits fühlte ich mich Matthew näher, wenn ich in seinem Sessel saß, darum blieb ich sitzen, während ich darauf wartete, dass der Computer hochfuhr. Mein Blick fiel auf ein dunkles Objekt, das im obersten Regalfach steckte. Es verschmolz fast mit dem dunklen Holz und den Lederrücken der Bücher und blieb dadurch einem zufälligen Blick verborgen. Von Matthews Schreibtisch jedoch waren die Umrisse klar zu erkennen.
Es war kein Buch, sondern ein alter, achteckiger Holzblock. In jede Seite waren winzige Bogenfenster geschnitzt. Das Gebilde war schwarz, rissig und vom Alter verzogen.
Ich spürte einen leisen Stich, als ich begriff, dass es ein Kinderspielzeug war.
Matthew hatte es für Lucas angefertigt, bevor Matthew zum Vampir geworden war, damals, als er an der ersten Kirche gebaut hatte. Er hatte es in einen Winkel des Regals geschoben, wo es niemandem auffallen würde – außer ihm selbst. Er musste jedes Mal darauf blicken, wenn er an seinem Schreibtisch saß.
Wenn ich mit Matthew zusammen war, konnte ich mir nur zu leicht einbilden, dass wir allein auf dieser Welt waren. Nicht einmal Domenicos Warnungen oder Ysabeaus Mutproben hatten mein Gefühl erschüttert, dass es nur von uns abhing, wie nahe wir uns letztendlich kamen.
Doch dieser kleine Holzturm, der vor unvorstellbar langer Zeit mit so viel Liebe angefertigt worden war, brachte meine Illusionen zum Einsturz. Es waren auch Kinder im Spiel, lebende und tote. Hinter uns standen Familien mit langer, komplizierter Abstammung und tief verwurzelten Vorurteilen, von denen nicht einmal ich frei war. Und Sarah und Em wussten immer noch nicht, dass ich mich in einen Vampir verliebt hatte. Es war Zeit, sie aufzuklären.
Im Salon arrangierte Ysabeau eben Blumen in einer hohen Vase, die auf einem unbezahlbar kostbaren Louis-XIV.-Sekretär edelster Herkunft stand – der noch nie den Besitzer gewechselt hatte.
»Ysabeau?« Ich klang unsicher. »Könnte ich vielleicht irgendwo telefonieren?«
»Er wird Sie anrufen, wenn er mit Ihnen sprechen will.« Sie schob behutsam einen Zweig mit rot-gelben Blättern zwischen die weißen und goldenen Blumen.
»Ich will nicht Matthew anrufen, Ysabeau. Ich muss mit meiner Tante sprechen.«
»Die Hexe, die neulich Abend angerufen hat?«, fragte sie. »Wie heißt sie?«
»Sarah«, antwortete ich stirnrunzelnd.
»Und sie lebt mit einer anderen Frau zusammen, einer weiteren Hexe, nicht wahr?« Jetzt füllte Ysabeau die Vase mit weißen Rosen auf.
»Ja, sie heißt Emily. Ist das ein Problem?«
»Aber nein.« Ysabeau sah mich über die Blüten an. »Sie sind beide Hexen. Nur das zählt.«
»Und sie lieben sich.«
»Sarah ist ein guter Name«, fuhr Ysabeau fort, als hätte ich nichts gesagt. »Sie kennen natürlich die dazugehörige Legende.«
Ich schüttelte den Kopf. Ysabeaus Themenwechsel waren fast so schwindelerregend wie die Stimmungsumschwünge ihres Sohnes.
»Die Mutter Isaaks hieß Sarai – die Streitsüchtige –, aber als sie schwanger wurde, benannte Gott sie in Sarah um, was Prinzessin bedeutet.«
»Was meine Tante angeht, würde Sarai besser passen.« Ich wartete immer noch darauf, dass Ysabeau mir verriet, wo das Telefon stand.
»Emily ist auch ein guter Name, ein kraftvoller, römischer Name.« Ysabeau knipste mit ihren scharfen Fingernägeln einen Rosenstiel ab.
»Was bedeutet Emily, Ysabeau?« Zum Glück bestand meine Familie nur aus zwei Personen.
»Es bedeutet die Fleißige. Natürlich hatte deine Mutter den interessantesten Namen. Rebecca bedeutet die Gefangene oder Gefesselte«, erklärte Ysabeau. Eine Falte kerbte sich in ihre Stirn, während sie die Vase erst von der einen, dann von der anderen Seite studierte. »Ein interessanter Name für eine Hexe.«
»Und was bedeutet Ihr Name?«, fragte ich ungeduldig.
»Ich hieß nicht immer Ysabeau, aber Philippe fand, dass der Name zu mir passte. Es bedeutet Gottes Versprechen.« Ysabeau zögerte, sah mir lange ins Gesicht und fasste schließlich einen Entschluss. »Mit vollem Namen heiße ich Geneviève Mélisande Hélène Ysabeau Aude de Clermont.«
»Wie schön.« Ich merkte, wie meine Ungeduld nachließ, während ich mir ausmalte, welche Geschichte sich hinter den vielen Namen verbarg.
Ysabeau schenkte mir ein kleines Lächeln. »Namen sind wichtig.«
»Hat Matthew noch mehr Namen?« Ich nahm eine weiße Rose aus dem Korb und reichte sie ihr. Sie bedankte sich murmelnd.
»Natürlich. Wir geben unseren Kindern grundsätzlich mehrere Namen, wenn sie wiedergeboren werden. Aber Matthew hieß schon so, als er zu uns kam, und er wollte seinen Namen behalten. Damals war das Christentum noch jung, und Philippe fand, dass es praktisch sein könnte, wenn unser Sohn nach einem Evangelisten benannt ist.«
»Wie heißt er noch?«
»Sein voller Name lautet Matthew Gabriel Philippe Bertrand Sébastien de Clermont. Er machte sich auch sehr gut als Sébastien und ganz passabel als Gabriel. Bertrand hasst er, und auf Philippe reagiert er grundsätzlich nicht.«
»Was stört ihn an Philippe?«
»Es war der Lieblingsname seines Vaters.« Ysabeaus Hände kamen für einen Moment zur Ruhe. »Er ist tot, müssen Sie wissen. Die Nazis enttarnten ihn als Kämpfer der Résistance.«
In meiner Vision hatte sie Matthew erklärt, dass sein Vater von Hexen gefangengenommen worden sei.
»Nazis, Ysabeau, oder Hexen?«, fragte ich leise, das Schlimmste fürchtend.
»Hat Matthew Ihnen das erzählt?« Ysabeau sah mich entsetzt an.
»Nein. Ich habe Sie in einer meiner Visionen gestern gesehen. Sie haben geweint.«
»Die Hexen und die Nazis töteten Philippe gemeinsam«, antwortete sie nach langem Schweigen. »Noch ist der Schmerz frisch und scharf, aber im Lauf der Zeit wird er verblassen. Nach seinem Tod jagte ich jahrelang ausschließlich in Argentinien und Deutschland. Das half mir, nicht verrückt zu werden.«
»Es tut mir so leid, Ysabeau.« Die Worte drückten mein Mitgefühl nur unzureichend aus, aber sie kamen von Herzen. Matthews Mutter hörte offenbar, dass ich es ehrlich meinte, denn sie schenkte mir ein zaghaftes Lächeln.
»Es ist nicht Ihre Schuld. Sie waren nicht dabei.«
»Wie würden Sie mich nennen, wenn Sie mir einen Namen geben müssten?«, fragte ich leise und reichte Ysabeau den nächsten Stängel.
»Matthew hat recht. Zu Ihnen passt nur Diana.« Sie sprach den Namen wie immer französisch aus, mit der Betonung auf der ersten Silbe. »Für Sie gibt es keine anderen Namen. Sie sind einfach Diana.« Ysabeau deutete mit einem bleichen Finger auf die Tür zur Bibliothek. »Das Telefon steht dort drin.«
Ich setzte mich an den Schreibtisch der Bibliothek, schaltete die Lampe ein, wählte die Nummer in New York und hoffte, dass Sarah und Em zu Hause waren.
»Diana.« Sarah klang erleichtert. »Em hat gesagt, dass du es bist.«
»Bitte entschuldigt, dass ich gestern Abend nicht zurückrufen konnte. Es ist so viel passiert.« Ich nahm einen Stift und ließ ihn zwischen den Fingern rotieren.
»Möchtest du darüber sprechen?«, fragte Sarah. Mir rutschte fast der Hörer aus der Hand. Meine Tante verlangte sonst immer, dass wir über alles sprachen – gebeten hatte sie noch nie.
»Ist Em auch da? Ich möchte die Geschichte nicht zweimal erzählen.«
Em griff nach dem Zweithörer und begrüßte mich warmherzig und mitfühlend. »Hi, Diana. Wo bist du?«
»Bei Matthews Mutter in der Nähe von Lyon.«
»Bei Matthews Mutter?« Em interessierte sich für Abstammungslinien. Nicht nur für ihre eigenen, die weit zurückreichten und sich ebenso weit verzweigten, sondern auch für die ihrer Mitmenschen.
»Ysabeau de Clermont.« Ich versuchte den Namen möglichst so auszusprechen, wie Ysabeau es tat, mit langen Vokalen und halb verschluckten Konsonanten. »Eine sehr eindrucksvolle Erscheinung, Em. Manchmal glaube ich, allein ihretwegen fürchten sich die Menschen so vor Vampiren. Ysabeau kommt mir vor wie aus einem Märchen.«
Es blieb still. »Soll das heißen, du bist bei Mélisande de Clermont?«, fragte Em eindringlich. »Ich dachte gar nicht an die de Clermonts, als du mir von Matthew erzähltest.
Sei vorsichtig, Diana«, warnte sie. »Mélisande de Clermont hat traurige Berühmtheit erlangt. Sie hasst alle Hexen und hat nach dem Zweiten Weltkrieg halb Berlin leer gesogen.«
»Sie hat allen Grund, Hexen zu hassen.« Ich massierte meine Schläfen. »Es überrascht mich, dass sie mich überhaupt in ihrem Haus duldet.« Wenn es umgekehrt gewesen wäre und Vampire schuld am Tod meiner Eltern gewesen wären, hätte ich das nicht so schnell verziehen.
»Was ist mit dem Wasser?«, warf Sarah ein. »Mir macht vor allem die Vision mit dem Sturm Angst, die Em hatte.«
»Ach, als Matthew gestern abfuhr, fing ich zu regnen an.« Schon bei der nasskalten Erinnerung begann ich zu schlottern.
»Eine Hexenflut«, hauchte Sarah. »Was hat sie ausgelöst?«
»Ich weiß es nicht, Sarah. Ich fühlte mich so … leer. Als Matthew durch das Tor fuhr, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, gegen die ich angekämpft hatte, seit Domenico aufgetaucht war.«
»Was für ein Domenico?« Emily ging schon wieder ihren geistigen Karteikasten wichtiger nichtmenschlicher Geschöpfe durch.
»Michele – ein venezianischer Vampir.« Mein Blut begann sofort wieder zu kochen. »Und wenn er noch einmal in meine Nähe kommt, reiße ich ihm den Kopf ab, Vampir hin oder her.«
»Er ist gefährlich!«, rief Em aus. »Dieses Geschöpf hält sich an keine Regeln.«
»Das habe ich schon oft genug zu hören bekommen, und ihr könnt ganz ruhig bleiben, denn seither stehe ich vierundzwanzig Stunden am Tag unter Bewachung. Macht euch also keine Sorgen.«
»Wir werden uns erst keine Sorgen mehr machen, wenn du dich nicht mehr unter lauter Vampiren herumtreibst«, bemerkte Sarah.
»Dann werdet ihr euch noch lange Sorgen machen müssen«, gab ich störrisch zurück. »Ich liebe Matthew, Sarah.«
»Das geht nicht, Diana. Vampire und Hexen …«, setzte Sarah an.
»Domenico hat mir von dem Pakt erzählt«, warf ich ein. »Ich werde niemanden sonst bitten, dagegen zu verstoßen, und ich verstehe, dass ihr deswegen vielleicht mit mir brechen wollt oder müsst. Aber ich habe keine Wahl.«
»Aber die Kongregation wird alles unternehmen, um diese Beziehung zu beenden«, meinte Em mit Nachdruck.
»Auch das habe ich schon gehört. Dann werden sie mich umbringen müssen.« Bis dahin hatte ich die Worte nicht laut ausgesprochen, dabei gingen sie mir seit dem vergangenen Abend im Kopf herum. »Matthew werden sie nicht so schnell los, aber ich bin ein ziemlich leichtes Ziel.«
»Du kannst nicht offenen Auges ins Verderben marschieren.« Em kämpfte mit den Tränen.
»Ihre Mutter hat es getan«, sagte Sarah leise.
»Was ist mit meiner Mutter?« Meine Stimme brach, als die Rede auf meine Mutter kam, und meine Fassung auch.
»Rebecca hat sich Stephen in die Arme geworfen, obwohl alle meinten, es sei keine gute Idee, wenn sich zwei so mächtige Hexen zusammentun. Und sie wollte nicht hören, als man ihr riet, nicht nach Nigeria zu gehen.«
»Umso dringender sollte Diana jetzt auf uns hören«, sagte Em. »Du kennst ihn erst seit ein paar Wochen. Komm heim, und versuch ihn zu vergessen.«
»Ihn vergessen?« Wie lächerlich. »Ich bin nicht nur in ihn verknallt. Ich habe noch nie etwas Ähnliches für jemanden empfunden.«
»Lass sie, Em. Wir haben in dieser Familie oft genug solche Gespräche geführt.« Sarah atmete in einem Seufzer aus, der bis in die Auvergne zu spüren war. »Ich hätte mir zwar ein anderes Leben für dich gewünscht, aber wir müssen unsere Entscheidungen selbst fällen. So wie es deine Mutter getan hat. Und ich auch – was deiner Großmutter übrigens gar nicht recht war. Jetzt bist du dran. Aber keine Bishop lässt je eine andere Bishop im Stich.«
In meinen Augen brannten Tränen. »Danke, Sarah.«
»Außerdem«, begann sich Sarah in Rage zu reden, »kann die Kongregation zur Hölle fahren, wenn Gestalten wie Domenico Michele darin sitzen!«
»Was meint Matthew zu alldem?«, fragte Em. »Es überrascht mich, dass er dich allein lässt, nachdem ihr gerade erst beschlossen habt, mit einer tausendjährigen Tradition zu brechen.«
»Matthew hat mir noch nicht verraten, was er für mich empfindet.« Ich verbog konzentriert eine Briefklammer.
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
Schließlich sagte Sarah: »Worauf wartet er?«
Ich lachte laut. »Ihr habt mich doch gerade noch gewarnt, ich soll mich von Matthew fernhalten. Und jetzt regt ihr euch auf, weil er sich weigert, mich in noch größere Gefahr zu bringen?«
»Du willst mit ihm zusammen sein. Das sollte ausreichen.«
»Das ist keine arrangierte magische Hochzeit, Sarah. Ich entscheide für mich selbst. Und er für sich.« Die winzige Uhr mit dem Porzellanziffernblatt auf dem Schreibtisch zeigte an, dass seit seiner Abfahrt vierundzwanzig Stunden vergangen waren.
»Wenn du entschlossen bist, bei diesen Geschöpfen zu bleiben, dann nimm dich in Acht«, warnte mich Sarah, bevor wir uns verabschiedeten. »Und wenn du heimkommen musst, dann komm heim.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, schlug die Uhr die halbe Stunde: In Oxford war es bereits dunkel.
Zum Teufel mit der ewigen Warterei. Ich griff wieder zum Hörer und wählte seine Nummer.
»Diana?« Die Nervosität war ihm anzuhören.
Ich lachte. »Hast du gewusst, dass ich es bin, oder hast du die Nummer auf dem Display?«
»Es geht dir gut.« Die Nervosität wich tiefer Erleichterung.
»Ja, deine Mutter hält mich schon den ganzen Tag auf Trab.«
»Das habe ich befürchtet. Was für Lügen hat sie dir erzählt?«
Die aufreibenderen Ereignisse dieses Tages konnten warten. »Nur die Wahrheit«, sagte ich. »Dass ihr Sohn eine diabolische Kombination aus Lancelot und Superman ist.«
»Das klingt nach Ysabeau.« In seiner Stimme lag ein leises Lachen. »Ich bin wirklich erleichtert, dass sie sich nicht von Grund auf verändert hat, nachdem sie eine Nacht unter demselben Dach wie eine Hexe verbracht hat.«
Mir war es möglich, ihn über die Entfernung mit Halbwahrheiten abzuspeisen. Ich selbst sah ihn deutlich im All Souls in seinem Morris-Sessel sitzen. Der Raum badete im weichen Licht der Lampen, und seine Haut leuchtete wie poliertes Perlmutt.
»Was trinkst du gerade?« Das war das einzige Detail, das meine Fantasie nicht liefern konnte.
»Seit wann interessierst du dich für Wein?«, fragte er überrascht.
»Seit ich weiß, wie viel es darüber zu wissen gibt.« Seit ich weiß, dass du dich für Wein interessierst, du Idiot.
»Heute Abend einen Spanier – Vega Sicilia.«
»Von wann?«
»Welcher Jahrgang, meinst du?«, neckte Matthew mich. »Ein 1964er.«
»Für deine Verhältnisse also ein ziemliches Baby, oder?«, neckte ich ihn ebenfalls, erleichtert, dass sich seine Laune aufgehellt hatte.
»Ein Kleinkind«, bestätigte er. Ich brauchte keinen sechsten Sinn, um zu wissen, dass er lächelte.
»Wie lief’s bei dir heute?«
»Gut. Wir haben die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt, obwohl nichts gestohlen wurde. Jemand hat versucht, sich in den Computer zu hacken, aber Miriam hat mir versichert, dass ihr System nicht zu knacken sei.«
»Wann kommst du zurück?« Die Frage war mir unversehens entwischt, und das Schweigen, das daraufhin einsetzte, dauerte unangenehm lang. Ich versuchte mir einzureden, dass es an der Verbindung lag.
»Ich weiß nicht«, antwortete er kühl. »Sobald ich kann.«
»Möchtest du mit deiner Mutter sprechen? Ich kann sie dir geben.« Ich musste mich anstrengen, damit meine Stimme nicht zitterte, so weh tat mir, wie unnahbar er plötzlich war.
»Nein, richte ihr nur aus, dass weder das Haus noch das Labor beschädigt wurden.«
Wir verabschiedeten uns. Die Brust war mir so eng, dass ich kaum Luft bekam. Als ich endlich aufstehen und mich umdrehen konnte, sah ich Matthews Mutter in der Tür stehen.
»Das war Matthew. Im Haus wurde nichts beschädigt. Ich bin müde, Ysabeau, und nicht besonders hungrig. Ich gehe wohl lieber ins Bett.« Es war fast acht Uhr und damit spät genug, um sich zurückziehen zu können.
»Natürlich.« Ysabeaus Augen glitzerten, als sie mir den Weg freigab. »Schlafen Sie gut, Diana.«