27
Der Tag begann im Morgengrauen damit, dass ich Matthew direkt neben mir spürte und mich die gleiche heiße Begierde durchschoss wie am Vortag im Hof. Die Lust weckte mich schneller als jeder Wecker. Er reagierte dankenswerterweise genauso schnell und begann mich innig zu küssen.
»Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf«, murmelte er zwischen zwei Küssen. »Ich hatte schon Angst, ich müsste die Blaskapelle aus dem Dorf anmarschieren lassen, und der einzige Trompeter, der den Weckruf beherrschte, ist letztes Jahr gestorben.«
Mir fiel auf, dass er die Ampulle nicht mehr trug.
»Wo hast du dein Pilgerzeichen gelassen?« Damit lieferte ich ihm die perfekte Gelegenheit, mir von den Lazarusrittern zu erzählen, doch er ließ sie ungenützt verstreichen.
»Ich brauche es nicht mehr«, sagte er und lenkte mich ab, indem er meine Locke um seinen Finger wickelte und sie dann zur Seite zog, damit er mich auf die empfindsame Stelle hinter meinem Ohr küssen konnte. »Erzähl es mir«, drängte ich und wand mich leicht unter seiner Berührung.
»Später«, sagte er und ließ die Lippen abwärts in die Mulde zwischen Hals und Schulter wandern.
Mein Körper vereitelte alle weiteren Versuche, ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Wir überließen uns beide unserem Instinkt, erforschten einander durch die trennende Kleidung hindurch und erspürten jedes Schaudern, jede Gänsehaut, jedes leise Stöhnen. Als ich mich weiter vorwagte, weil ich endlich nackte Haut fühlen wollte, hielt Matthew mich zurück.
»Keine Eile. Wir haben Zeit.«
»Vampire«, brachte ich nur noch heraus, bevor mich seine Lippen zum Schweigen brachten.
Wir lagen immer noch hinter zugezogenen Vorhängen in meinem Bett, als Marthe ins Zimmer kam. Sie stellte das Frühstückstablett mit betont lautem Klappern auf dem Tisch ab und warf verbissen wie ein Schotte beim Baumstammwerfen zwei frische Scheite auf die Glut. Matthew linste zwischen den Vorhängen hindurch, wünschte ihr einen wunderschönen Morgen und erklärte, dass ich rasend hungrig sei.
Aus Marthe ergoss sich ein okzitanischer Schwall, dann verschwand sie, leise vor sich hin summend. Er weigerte sich zu übersetzen, weil der Text zu unanständig für meine feinen Ohren sei.
An diesem Morgen sah Matthew mir nicht still beim Essen zu, sondern beschwerte sich, dass ihm langweilig sei. Er tat das mit einem frechen Funkeln in den Augen und ließ dabei die Finger auf seinen Schenkeln tanzen.
»Nach dem Frühstück gehen wir reiten«, versprach ich ihm, gabelte etwas Ei in meinen Mund und nahm einen brühend heißen Schluck Tee. »Meine Arbeit kann bis später warten.«
»Reiten allein wird da nicht helfen«, schnurrte Matthew.
Nur durch Küsse ließ sich seine Langeweile vertreiben. Als Matthew mir endlich zugestand, dass es Zeit zum Ausreiten sei, fühlten sich meine Lippen wund an, und ich spürte so intensiv wie nie zuvor, wie mein Nervensystem verwoben war.
Während ich duschte, ging er nach unten, um sich umzuziehen. Marthe kam nach oben, um das Tablett abzuräumen, und ich erzählte ihr von meinem Plan, während ich mein Haar zu einem dicken Zopf flocht. Ihre Augen wurden groß, als ich zum entscheidenden Teil meines Vorhabens kam, aber sie erklärte sich einverstanden, ein paar Sandwiches und eine Flasche Wasser in den Stall zu bringen, damit George sie in Rakasas Satteltasche packte.
Danach musste ich nur noch Matthew informieren.
Er saß summend am Schreibtisch, klapperte auf dem Computer herum und griff gelegentlich nach seinem Handy, um seine Nachrichten abzufragen. Lächelnd sah er auf.
»Da bist du ja«, stellte er fest. »Ich dachte schon, ich müsste dich aus dem Wasser fischen.«
Sofort durchschoss mich heiße Lust, und meine Knie wurden weich. Das Gefühl war umso intensiver, als ich wusste, dass ich gleich mit einem Satz das Lächeln von seinem Gesicht wischen würde.
Hoffentlich ist das richtig, flüsterte ich mir lautlos zu und ließ von hinten die Hände auf seine Schultern sinken. Matthew kippte den Kopf rückwärts gegen meine Brust und lächelte zu mir auf.
»Küss mich«, kommandierte er.
Ich erfüllte seinen Wunsch und staunte, wie vertraut wir uns schon waren. Dies war ganz anders als in Romanen und Filmen, wo die Liebe als etwas Anstrengendes, Kompliziertes dargestellt wurde. Matthew zu lieben war nicht, wie in einen Sturm zu segeln, es war, als würde ich in den Hafen einlaufen.
»Wie schaffst du das nur?«, fragte ich ihn und legte die Hände an sein Gesicht. »Ich habe das Gefühl, dich schon ewig zu kennen.«
Matthew lächelte glücklich und beugte sich wieder über seinen Computer, um die diversen Programme zu schließen. Währenddessen trank ich seinen würzigen Duft und strich seine Haare glatt.
»Ein wunderbares Gefühl«, sagte er und lehnte sich in meine Hand.
Es war an der Zeit, ihm den Tag zu verderben. Ich ging in die Hocke und legte mein Kinn auf seine Schulter.
»Nimm mich mit zum Jagen.«
Jeder Muskel in seinem Körper versteifte sich.
»Das ist nicht komisch, Diana«, sagte er eisig.
»Das soll es auch gar nicht sein.« Mein Kinn und meine Hände blieben, wo sie waren. Er versuchte mich abzuschütteln, aber das ließ ich nicht zu. Ich brachte zwar nicht den Mut auf, ihm ins Gesicht zu sehen, aber er würde sich nicht entziehen können. »Das muss sein, Matthew. Du musst wissen, dass du mir trauen kannst.«
Er sprang aus seinem Stuhl und ließ mir damit keine Wahl, als zurückzutreten und ihn loszulassen. Eine Hand auf die Stelle gepresst, wo er die Ampulle getragen hatte, stapfte Matthew davon. Kein gutes Zeichen.
»Vampire gehen nicht mit Warmblütern jagen, Diana.«
Das war auch kein gutes Zeichen. Er log mich an.
»Tun sie wohl«, widersprach ich leise. »Du gehst mit Hamish jagen.«
»Das ist etwas anderes. Ich kenne ihn seit Jahren, und ich liege nicht mit ihm in einem Bett.« Matthews Stimme war rau, und er starrte eisern auf sein Bücherregal.
Langsam ging ich auf ihn zu. »Wenn Hamish mit dir jagen gehen kann, kann ich es auch.«
»Nein.« Unter seinem Pullover zeichnete sich scharf das Relief seiner Muskeln ab.
»Ysabeau hat mich mitgenommen.«
Die Stille im Raum war ohrenbetäubend. Matthew holte tief und zittrig Luft, und die Muskeln in seinen Schultern begannen zu zucken. Ich machte wieder einen Schritt auf ihn zu.
»Nicht«, wies er mich rau zurück. »Komm nicht in meine Nähe, wenn ich wütend bin.«
Ich ermahnte mich, dass heute ich bestimmen würde. Nach ein paar schnellen Schritten stand ich direkt hinter ihm. Auf diese Weise musste er meinen Geruch und meinen Puls wahrnehmen, der langsam und ruhig ging.
»Ich wollte dich nicht wütend machen.«
»Ich bin auch nicht auf dich wütend.« Er klang verbittert. »Dafür wird mir meine Mutter eine Menge zu erklären haben. Im Lauf der letzten Jahrhunderte hat sie meine Geduld schon oft auf die Probe gestellt, aber dich zum Jagen mitzunehmen ist unverzeihlich.«
»Ysabeau hat mich gefragt, ob ich lieber zum Château zurückreiten wollte.«
»Sie hätte dich gar nicht vor die Wahl stellen dürfen!«, bellte er und drehte sich zu mir um. »Vampire haben sich nicht in der Gewalt, wenn sie jagen – jedenfalls nicht völlig. Meiner Mutter kann man keinesfalls trauen, wenn sie Blut gerochen hat. Für sie zählt allein das Töten und Trinken. Wenn ihr der Wind deine Witterung zugetragen hätte, hätte sie dich erlegt, und zwar ohne lange nachzudenken.«
Matthew hatte heftiger reagiert, als ich erwartet hatte. Aber nachdem ich schon mit einem Fuß im Feuer stand, konnte ich den anderen auch noch nachziehen.
»Deine Mutter wollte dich nur beschützen. Sie hatte Angst, dass ich vielleicht nicht begreife, worauf ich mich einlasse. Du hättest dasselbe für Lucas getan.« Wieder setzte ein langes, tiefes Schweigen ein.
»Sie hatte kein Recht, dir von Lucas zu erzählen. Er gehört mir, nicht ihr.« Matthew wurde nicht laut, aber so giftig hatte ich ihn noch nie gehört. Sein Blick zuckte zu dem Regalfach hoch, in dem der Turm stand.
»Dir und Blanca«, sagte ich genauso leise.
»Die Lebensgeschichten eines Vampirs darf nur er selbst erzählen – und niemand sonst. Wir sind vielleicht Gesetzlose, du und ich, aber meine Mutter hat in den letzten Tagen ebenfalls gegen eine ganze Reihe von Regeln verstoßen.« Wieder griff er nach der nicht vorhandenen Bethanien-Ampulle.
Leise und mit sicherem Schritt, so als wäre er ein nervöser Hengst, den ich vom Auskeilen abhalten wollte, ging ich die letzten Schritte auf ihn zu. Als ich direkt vor ihm stand, nahm ich seine Arme.
»Ysabeau hat mir noch mehr erzählt. Wir haben über deinen Vater gesprochen. Sie hat mir nicht nur alle ihre Namen verraten, sondern auch deine, und sie hat mir erklärt, welche du nicht magst. Ich weiß noch nicht genau, was das zu bedeuten hat, aber ich bin mir sicher, dass sie das nicht jedem erzählt. Und sie hat mir erzählt, wie sie dich gemacht hat. Das Lied, mit dem sie die Hexenflut zum Versiegen gebracht hat, war dasselbe, das sie dir vorsang, als du zum Vampir geworden warst.« Als du nicht aufhören konntest zu jagen.
Matthew musste sich anstrengen, um mir in die Augen zu sehen. In seinen Pupillen entdeckte ich einen Schmerz und eine Verletzlichkeit, die er bis zu diesem Augenblick sorgsam vor mir verborgen hatte. Der Anblick brach mir das Herz.
»Ich kann das nicht riskieren, Diana«, sagte er. »Ich will dich – mehr als ich jemals jemanden gewollt habe. Ich begehre dich mit meinem Körper, ich begehre dich mit meinem Herzen. Falls meine Konzentration auch nur einen Sekundenbruchteil nachlässt, während wir jagen, könnte dein Geruch den eines Hirschen überlagern, und meine Jagdlust könnte sich mit meiner Lust nach dir vermischen.«
»Ich gehöre dir bereits.« Ich hielt ihn mit Händen, Augen, Geist und Herz fest. »Du brauchst mich nicht mehr zu jagen. Du hast mich bereits erlegt.«
»So funktioniert das nicht«, sagte er. »Ich werde dich nie wirklich besitzen. Ich werde immer mehr wollen, als du mir geben kannst.«
»Heute Morgen im Bett war das anders.« Meine Wangen begannen zu glühen, als ich daran denken musste, wie er mich abgewiesen hatte. »Ich war mehr als bereit, mich dir hinzugeben, aber du hast nein gesagt.«
»Ich habe nicht nein gesagt – ich sagte, später.«
»Jagst du genauso? Erst verführen, dann hinauszögern und zuletzt unterwerfen?«
Er schauderte. Das genügte mir als Antwort.
»Zeig es mir«, verlangte ich wieder.
»Nein.«
»Zeig es mir!«
Er knurrte, aber ich blieb standhaft. Das Grollen war eine Warnung, keine Drohung.
»Ich weiß, dass du Angst hast. Die habe ich auch.« In seinen Augen blitzte Bedauern auf, und ich brummte ungeduldig. »Zum letzten Mal, ich habe keine Angst vor dir. Meine eigenen Kräfte machen mir Angst. Du hast die Hexenflut nicht gesehen, Matthew. Als das Wasser in mir aufzusteigen begann, hätte ich jeden und alles auslöschen können, ohne auch nur den Hauch von Reue zu spüren. Du bist nicht das einzige gefährliche Geschöpf in diesem Raum. Aber wir müssen lernen, wie wir zusammen sein können, obwohl wir sind, was wir sind.«
Er lachte bitter auf. »Vielleicht ist es deshalb verboten, dass sich Vampire und Hexen mischen. Vielleicht ist es doch zu schwierig, alle diese Grenzen hinter sich zu lassen.«
»Das glaubst du nicht wirklich«, erklärte ich heftig, nahm seine Hand und hielt sie an mein Gesicht. Die kalte Berührung auf meinen erhitzten Wangen jagte ein köstliches Gefühl durch meinen Körper, und mein Herz begann wie üblich anerkennend zu pochen. »Was wir füreinander empfinden, ist nicht falsch – es kann nicht falsch sein.«
»Diana.« Er schüttelte den Kopf und wollte seine Finger zurückziehen.
Ich fasste ihn fester und drehte die Handfläche nach oben. Seine Lebenslinie war lang und glatt, und nachdem ich sie nachgefahren war, ließ ich meine Finger auf seinen Adern ruhen. Fast schwarz lagen sie unter der weißen Haut, und Matthew erschauerte unter meiner Berührung. Ich sah immer noch Schmerz in seinen Augen, aber seine Wut war halb verraucht.
»Es ist nicht falsch. Das weißt du selbst. Und du musst endlich begreifen, dass du auch mir vertrauen kannst.« Ich verschränkte meine Finger mit seinen und ließ ihm Zeit zum Nachdenken. Aber ich ließ nicht los.
»Ich nehme dich mit zum Jagen«, gab sich Matthew schließlich geschlagen, »vorausgesetzt, du kommst nicht in meine Nähe und steigst nicht von Rakasa ab. Wenn du auch nur den Verdacht hast, dass ich dich ansehe – dass ich auch nur an dich denke –, machst du kehrt und reitest sofort nach Hause zu Marthe.«
Nachdem die Entscheidung gefallen war, eilte Matthew steif nach unten, wartete aber jedes Mal geduldig auf mich, wenn er merkte, dass ich nicht nachkam. Als er an der Tür zum Salon vorbeisegelte, stand Ysabeau aus ihrem Sessel auf.
»Komm«, sagte er angespannt, packte mich am Ellbogen und zog mich nach unten.
Ysabeau war uns dicht auf den Fersen, als wir in die Küche kamen, wo Marthe in der Tür zur Speisekammer stand und mich und Matthew beäugte, als wären wir die Hauptdarsteller einer Nachmittagssoap. Beide spürten auch ohne Erklärung, dass etwas nicht stimmte.
»Ich weiß nicht, wann wir zurückkommen«, verkündete Matthew über seine Schulter hinweg. Seine Finger lockerten sich nicht, und er zog mich so schnell weiter, dass ich mich nur entschuldigend zu Marthe umdrehen und bedauernd das Gesicht verziehen konnte.
»Elle a plus de courage que j’ai pensée«, murmelte Ysabeau Marthe zu.
»Ja, Mutter. Diana ist mutiger, als wir es verdient haben, du und ich. Und wenn du sie noch einmal auf die Probe stellst, wirst du uns beide nicht wiedersehen. Verstanden?«
»Natürlich, Matthew«, sagte Ysabeau. Das sagte sie immer, wenn sie sich nicht festlegen wollte.
Auf dem Weg zum Stall sprach Matthew kein Wort. Immer wieder sah er aus, als wollte er umkehren und mit mir zum Château zurückgehen. An der Stalltür hielt er mich an den Schultern fest und suchte in meiner Miene und meiner Haltung nach Anzeichen von Angst. Trotzig schob ich das Kinn vor.
»Sollen wir?« Ich deutete auf die Koppel.
Er brummte ärgerlich und rief nach Georges. Balthasar wieherte aufgeregt und fing den Apfel auf, den ich in seine Richtung warf. Zum Glück kam ich inzwischen ohne fremde Hilfe in meine Stiefel, auch wenn ich länger brauchte als Matthew, der argwöhnisch beobachtete, wie ich die Weste verschloss und den Kinnriemen des Helmes straffzog.
»Nimm die«, sagte er und reichte mir eine geflochtene Reitgerte.
»Die brauche ich nicht.«
»Du nimmst die Gerte, Diana.«
Ich nahm sie und beschloss, sie bei der ersten Gelegenheit ins Unterholz zu werfen.
»Und wenn du sie wegwirfst, kehren wir sofort um.«
Glaubte er wirklich, ich würde ihn mit der Gerte abwehren? Ich schob sie mit dem Griff nach oben in meinen Stiefel und stapfte hinaus auf die Koppel.
Die Pferde begannen unruhig auf und ab zu laufen, sobald wir in Sichtweite kamen. Genau wie Ysabeau spürten beide, dass etwas nicht stimmte. Rakasa nahm den Apfel, den ich ihr schuldete, und ich strich mit den Fingern über ihr Fell, wobei ich leise auf sie einredete, um sie zu beruhigen. Matthew machte sich keine Umstände mit Dahr. Blitzschnell und ganz sachlich kontrollierte er Sattel und Zaumzeug. Als ich fertig war, hob mich Matthew auf Rakasas Rücken. Seine Hände lagen fest um meine Taille, aber er hielt mich keinen Augenblick länger fest als unbedingt nötig. Er wollte vermeiden, dass ihm mein Geruch anhaftete.
Im Wald überzeugte sich Matthew, dass die Gerte immer noch in meinem Stiefel steckte.
»Dein Steigbügel muss verkürzt werden«, bemerkte er, als wir die Pferde traben ließen. Er wollte, dass das Zaumzeug straff genug saß, falls ich vor ihm fliehen musste. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, ließ Rakasa anhalten und straffte die Bügelriemen.
Das inzwischen vertraute Feld kam in Sicht, und Matthew schnupperte aufmerksam. Er packte Rakasas Zügel und brachte sie zum Stehen. Er kochte immer noch vor Wut.
»Da drüben ist ein Hase.« Matthew nickte zum westlichen Rand des Feldes hin.
»Hasen hatte ich schon«, sagte ich ruhig. »Murmeltiere, Ziegen und ein Reh auch.«
Matthew fluchte. Es war ein kurzer aber umfassender Fluch, und ich hoffte, dass uns Ysabeaus scharfe Ohren nicht hören konnten.
»›Zur Strecke gebracht‹, trifft die Situation ziemlich gut, oder?«
»Ich jage anders als meine Mutter, die ihre Beute erst zu Tode erschreckt und sich dann darauf stürzt. Ich kann für dich einen Hasen töten oder vielleicht auch eine Ziege. Aber ich werde mich nicht an einen Hirsch anpirschen, solange du in meiner Nähe bist.« Matthew hatte das Kinn eigensinnig vorgereckt.
»Hör auf, mir etwas vorspielen zu wollen, und vertrau mir endlich.« Ich deutete auf meine Satteltasche. »Ich kann warten.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht wenn du in der Nähe bist.«
»Seit ich dich kennengelernt habe«, erklärte ich ihm ruhig, »hast du mir alle Vorzüge eines Lebens als Vampir gezeigt. Du schmeckst Dinge, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Du erinnerst dich an Ereignisse und Menschen, die ich nur aus Büchern kenne. Du riechst es, wenn ich meine Meinung ändere oder dich küssen will. Du hast mir eine Welt von Sinneseindrücken gezeigt, von der ich bis dahin nichts geahnt hatte.«
Ich verstummte kurz, weil ich hoffte, dass ich Fortschritte machte. Doch ich trat auf der Stelle.
»Gleichzeitig hast du gesehen, wie ich mich übergeben habe, wie ich deinen Teppich in Brand gesetzt und völlig die Fassung verloren habe, als ich etwas zugeschickt bekam, mit dem ich nicht gerechnet habe. Die Wasserspiele sind dir entgangen, aber auch die waren kein schöner Anblick. Im Gegenzug bitte ich dich darum, mich zusehen zu lassen, wie du dich ernährst. Das ist entscheidend für mich, Matthew. Wenn du das nicht ertragen kannst, dann tun wir der Kongregation einen Gefallen und blasen die ganze Sache ab.«
»Dieu. Wirst du niemals aufhören, mich zu überraschen?« Matthew hob den Kopf und starrte in die Ferne. Plötzlich wurde er von einem jungen Hirsch abgelenkt, der auf der Hügelkuppe stand. Der Hirsch äste friedlich, und da der Wind in unsere Richtung ging, hatte er uns noch nicht gewittert.
Danke, hauchte ich im Stillen. Es war ein Geschenk der Götter, dass der Hirsch so unvermutet aufgetaucht war. Matthews Blick heftete sich auf die Beute, und sein Zorn verflog, während er mit seinem übermenschlich scharfen Gespür die Umgebung in sich aufnahm. Ich beobachtete den Vampir gebannt und achtete auf ein Anzeichen darauf, was er gerade dachte oder empfand, aber ich konnte keines entdecken.
Wag es nicht, dich zu bewegen, warnte ich Rakasa, die ihre Muskeln anspannte, als wollte sie im nächsten Moment ausbrechen. Sie bohrte die Hufe in die Erde und verharrte in Habachtstellung.
Matthew spürte, dass der Wind wechselte, und griff nach Rakasas Zügeln. Langsam lenkte er beide Pferde nach rechts. Der junge Hirsch hob den Kopf und sah kurz nach unten, aber gleich darauf begann er wieder zu äsen. Matthews Blick huschte über das Gelände, kam kurz auf einem Hasen zu liegen und verharrte für einen Moment, als ein Fuchs seinen Kopf aus seinem Bau reckte. Er registrierte auch den Falken, der über uns kreiste und auf dem Wind ritt wie ein Surfer auf den Wellen. Ich begann zu begreifen, wie er die Geschöpfe in der Bibliothek unter Kontrolle gebracht hatte. Auf diesem Feld gab es kein Lebewesen, das er nicht geortet und identifiziert hatte und das er nicht nach ein paar Minuten Beobachtung hätte töten können. Matthew führte die Pferde Schritt für Schritt auf die Bäume zu, wo mir die Geräusche und Gerüche der anderen Tiere als Tarnung dienten. Wir schreckten ein getüpfeltes, katzenähnliches Tier mit langem gestreiftem Schwanz auf. So wie Matthew den Körper anspannte, war es klar, dass er ihm gern nachgejagt wäre, und wäre er allein gewesen, hätte er es bestimmt erlegt, bevor er sich dem Hirsch genähert hätte. Mühsam wandte er den Blick von dem davonhetzenden Tier ab.
Wir brauchten beinahe eine Stunde, um vom unteren Ende der Wiese aus am Waldrand entlangzuschleichen, bis wir knapp unter der Hügelkuppe waren. Dort saß Matthew ab, indem er das Bein über Dahrs Hals schwang. Er schlug das Pferd auf den Rumpf, woraufhin es gehorsam kehrtmachte und in Richtung Stall trabte.
Während des ganzen Manövers hatte Matthew Rakasas Zügel kein einziges Mal losgelassen, und er behielt sie auch jetzt fest in der Hand. Er führte die Stute an den Waldrand und holte tief Luft, wobei er jede Witterung ortete. Lautlos brachte er uns in ein kleines Dickicht von niedrigen Birken.
Dann duckte sich der Vampir und verharrte mit gebeugten Knien in einer Position, die ein Mensch keine vier Minuten durchgehalten hätte. Matthew blieb fast zwei Stunden so stehen. Mir schliefen die Füße in den Steigbügeln ein.
Matthew hatte nicht übertrieben, als er mir die Unterschiede zwischen seiner Jagdmethode und der seiner Mutter erklärt hatte. Ysabeau ging es vor allem darum, ein biologisches Bedürfnis zu stillen. Sie brauchte Blut, die Tiere hatten welches, und sie nahm es ihnen so effizient wie möglich ab, ohne Gewissensbisse zu empfinden, weil für ihr Überleben andere Wesen sterben mussten. Für ihren Sohn war die Sache eindeutig komplizierter. Auch er brauchte Blut als Nahrung. Aber Matthew fühlte sich mit seiner Beute auf eine Weise verbunden, die mich an den respektvollen Tonfall in seinen Artikeln über die Wölfe denken ließ. Für Matthew ging es beim Jagen vor allem um Strategie, er wollte seine animalische Intelligenz mit einem anderen Wesen messen, das die Welt genauso sah und empfand wie er.
Ich musste an unser morgendliches Spiel im Bett denken und schloss die Augen, weil mich ein Blitz der Begierde durchschoss. Ich begehrte ihn hier im Wald, wo er gleich ein Tier töten würde, genauso intensiv wie in meinem Bett, und plötzlich verstand ich, wieso Matthew Bedenken hatte, mit mir jagen zu gehen. Jagen und Sexualität waren auf eine Weise verknüpft, die mir bis zu diesem Moment nie wirklich klar gewesen war.
Er atmete leise aus, machte sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg und pirschte geduckt am Waldrand entlang. Erst als Matthew über den Hügelkamm lief, hob der Hirsch den Kopf, um festzustellen, was für eine merkwürdige Kreatur da angelaufen kam.
Er brauchte nur wenige Sekunden, um Matthew als Bedrohung zu erkennen, doch das war länger, als ich gebraucht hätte. Mir stellten sich alle Haare auf, und ich fürchtete mich für den Hirsch genauso wie für Ysabeaus Rehbock. Der Hirsch schoss los und floh in hohen Sprüngen hügelabwärts. Aber Matthew war schneller und schnitt dem Tier den Weg ab, bevor es meinem Versteck zu nahe kommen konnte. Er jagte es wieder den Hügel hoch und über dem Kamm. Mit jedem Schritt kam Matthew ihm näher, mit jedem Schritt wurde der Hirsch nervöser.
Ich weiß, dass du Angst hast, sagte ich leise und hoffte, dass der Hirsch mich hörte. Er muss das tun. Er macht das nicht zum Vergnügen oder um dir weh zu tun. Er macht das, um zu überleben.
Rakasa drehte den Kopf und sah mich beunruhigt an. Ich beugte mich vor, um sie zu beschwichtigen, und ließ die Hand auf ihrem Hals liegen.
Bleib stehen, beschwor ich den Hirsch. Hör auf zu fliehen. Nicht einmal du bist schnell genug, um diesem Geschöpf zu entkommen. Der Hirsch wurde langsamer und stolperte über ein Loch im Boden. Er rannte direkt auf mich zu, so als könnte er meine Stimme hören und würde auf sie zuhalten.
Matthew streckte die Hand aus, bekam den Hirsch am Geweih zu fassen und riss seinen Kopf zur Seite. Der Hirsch fiel auf den Rücken und blieb schwer keuchend liegen. Matthew sank auf die Knie, knapp zehn Meter vor meinem Dickicht, und hielt den Kopf des Tieres fest. Der Hirsch versuchte noch einmal sich freizustrampeln.
Lass los, sagte ich traurig. Es ist Zeit. Dies ist das Geschöpf, das dein Leben beenden wird.
Der Hirsch schlug ein letztes Mal resigniert und ängstlich aus und kam dann zur Ruhe. Matthew sah seiner Beute tief in die Augen, als warte er auf deren Einverständnis, sein Werk zu vollenden, dann schlug er so schnell zu, dass ich nur einen Nebel aus Schwarz und Weiß erkennen konnte, und hatte im nächsten Moment die Zähne in den Hals des Hirsches gesenkt.
Während er trank, sickerte das Leben aus dem Tier, und Matthew wurde von neuer Energie durchströmt. Ein frischer Eisengeruch lag in der Luft, obwohl kein einziger Tropfen Blut zu Boden fiel. Auch nachdem der Hirsch seine Lebenskraft verloren hatte, harrte Matthew reglos kniend und mit gesenktem Kopf neben dem Kadaver aus.
Ich drückte Rakasa die Hacken in die Flanken. Matthews Rücken versteifte sich, als ich auf ihn zukam. Er sah auf, und aus seinen graugrünen Augen strahlte tiefe Befriedigung. Ich zog die Reitgerte aus dem Stiefel und schleuderte sie mit aller Kraft von mir. Sie segelte ins Gehölz, wo sie sich hoffnungslos in einem Stechginsterstrauch verhedderte. Matthew sah mir interessiert zu, aber die Gefahr, dass er mich mit einem Reh verwechseln könnte, war eindeutig gebannt.
Langsam nahm ich den Helm herunter und stieg ab, obwohl ich ihm dabei den Rücken zuwenden musste. Selbst jetzt, wo er sich selbst nicht traute, traute ich ihm. Die Hand leicht auf seine Schulter legend, sank ich in die Knie und legte den Helm neben den starren Augen des Hirsches ab.
»Deine Art zu jagen gefällt mir besser als Ysabeaus. Dem Hirsch auch, glaube ich.«
»Jagt meine Mutter wirklich so anders als ich?« Matthews französischer Akzent hatte sich verstärkt, und seine Stimme klang noch weicher und hypnotischer als sonst. Er roch auch anders.
»Sie jagt, um ein biologisches Bedürfnis zu stillen«, antwortete ich schlicht. »Du jagst, weil du dich dabei wirklich lebendig fühlst. Und ihr beide habt eine Übereinkunft getroffen.« Ich deutete auf den Hirsch. »Am Ende hat er mit dir Frieden geschlossen, glaube ich.«
Matthew sah mich so eindringlich an, dass sein schneekühler Blick auf meiner Haut vereiste. »Hast du mit dem Hirsch geredet, so wie du mit Balthasar und Rakasa geredet hast?«
»Ich habe mich nicht eingemischt, wenn du das meinst«, beteuerte ich hastig. »Du hast ihn ganz allein erlegt.« Vielleicht waren Vampiren derlei Dinge ja wichtig.
Matthew schauderte. Er sah von dem Hirsch auf und erhob sich mit jener Geschmeidigkeit, an der man zweifelsfrei den Vampir erkannte.
Eine lange, schlanke Hand senkte sich zu mir herab. »Komm. Dir wird kalt, wenn du auf dem Boden kniest.«
Ich legte meine Hand in seine, stand auf und fragte mich, wer den Hirschkadaver beseitigen würde. Wahrscheinlich würden sich Marthe und Georges darum kümmern. Rakasa graste zufrieden, ohne sich darum zu kümmern, dass direkt neben ihr ein totes Tier lag. Ohne dass ich gewusst hätte warum, war ich plötzlich rasend hungrig.
Rakasa, rief ich sie lautlos. Sie sah auf und kam zu mir.
»Stört es dich, wenn ich etwas esse?«, fragte ich unsicher, weil ich nicht genau abschätzen konnte, wie Matthew darauf reagieren würde.
Sein Mund zuckte. »Nein. Nach dem, was du heute ansehen musstest, kann ich zumindest zusehen, wie du ein Sandwich isst.«
»Für mich gibt es da jedenfalls keinen Unterschied, Matthew.« Ich löste die Schnalle von Rakasas Satteltasche und schickte ein stilles Dankeswort zum Château. Marthe, die Gute, hatte Käsesandwiches eingepackt. Nachdem ich den schlimmsten Hunger gestillt hatte, wischte ich die Krümel von meinen Händen.
Matthew beobachtete mich mit dem Blick eines Falken. »Stört dich das eigentlich?«, fragte er ruhig.
»Was?« Ich hatte ihm doch schon gesagt, dass es mich nicht störte, wie er den Hirsch getötet hatte.
»Blanca und Lucas. Dass ich verheiratet war und ein Kind hatte.«
»Mich stört nicht ein einziger Moment, in dem du irgendein Geschöpf, ob lebendig oder tot, geliebt hast«, sagte ich zögernd, »solange du nur in diesem Moment mit mir zusammen sein willst.«
»Nur in diesem Moment?«, fragte er, eine Braue zu einem Fragezeichen hochgezogen.
»Es ist der einzige Moment, der zählt.« Eigentlich war alles ganz einfach. »Wer so lange gelebt hat wie du, hat auch eine Vergangenheit, Matthew. Du warst kein Mönch, und ich erwarte nicht, dass du alle vergisst, die du unterwegs zurücklassen musstest. Wie sollte es möglich sein, dass du noch nie geliebt wurdest, wo ich dich so sehr liebe?«
Matthew drückte mich an seine Brust. Ich schmiegte mich glücklich an ihn, froh, dass die Jagd nicht in einer Katastrophe geendet hatte und dass sein Zorn nachzulassen schien. Er glomm immer noch – das erkannte ich an der Anspannung in seinem Gesicht und seinen Schultern –, aber er drohte uns nicht mehr zu verschlingen. Seine langen Finger umfassten mein Kinn und hoben mein Gesicht an.
»Würde es dich sehr stören, wenn ich dich jetzt küssen würde?« Matthew wandte kurz den Blick ab, als er das fragte.
»Natürlich nicht.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um seinem Mund näher zu kommen. Als er dennoch zögerte, streckte ich die Arme nach oben und verschränkte die Hände hinter seinem Hals. »Sei kein Idiot. Küss mich.«
Er tat es, kurz, aber fest. Auf seinen Lippen lag noch eine Spur von Blut, aber das war weder gruselig noch unangenehm. Es war einfach Matthew.
»Du weißt, dass wir keine Kinder bekommen können«, sagte er und hielt mich dabei so fest in den Armen, dass sich unsere Gesichter fast berührten. »Vampire können auf traditionelle Weise keine Kinder zeugen. Macht dir das etwas aus?«
»Man kann auf mehr als eine Weise Kinder bekommen.« Über Kinder hatte ich mir bis dahin noch nie Gedanken gemacht. »Ysabeau hat dich gemacht, und du gehörst genauso zu ihr wie Lucas zu dir und Blanca gehörte. Außerdem gibt es so viele Kinder auf der Welt, die keine Eltern haben.« Ich musste an den Moment denken, als Sarah und Em mir eröffnet hatten, dass meine Eltern nicht mehr nach Hause kommen würden. »Wir könnten welche aufnehmen – ein ganzes Waisenhaus voll, wenn wir wollten.«
»Ich habe seit vielen Jahren keinen Vampir mehr gemacht«, sagte er. »Ich kann es immer noch, aber ich hoffe, du wünschst dir keine große Familie.«
»Meine Familie hat sich mit dir, Marthe und Ysabeau in den vergangenen drei Wochen verdoppelt. Ich weiß nicht, ob ich noch mehr Familienmitglieder ertragen würde.«
»Einen musst du noch hinzuzählen.«
Meine Augen wurden groß. »Eure Familie ist noch größer?«
»Oh, viel größer«, meinte er trocken. »Unsere Stammbäume sind deutlich komplizierter als die von euch Hexen. Schließlich haben wir immer drei Abstammungslinien, nicht nur zwei. Aber ich meine ein Familienmitglied, das du bereits kennst.«
»Marcus?« Ich dachte an den jungen amerikanischen Vampir und seine Chucks.
Matthew nickte. »Er wird dir seine Geschichte selbst erzählen müssen – ich bin kein solcher Bilderstürmer wie meine Mutter, selbst wenn ich mich in eine Hexe verliebt habe. Ich habe ihn vor über zweihundert Jahren gemacht. Und ich bin stolz auf ihn und darauf, wie er sein Leben meistert.«
»Aber du wolltest trotzdem nicht zulassen, dass er mir Blut abnimmt«, stellte ich stirnrunzelnd fest. »Er ist dein Sohn. Warum vertraust du ihm nicht?« Eltern sollten ihren Kindern trauen.
»Er wurde mit meinem Blut zum Vampir gemacht, meine Geliebte.« Matthew sah mich gleichzeitig geduldig und besitzergreifend an. »Warum sollte er dich nicht genauso unwiderstehlich finden wie ich? Vergiss nicht, keiner von uns ist immun gegen den Lockruf des Blutes. Ich traue ihm eher als jedem anderen, aber ich werde mich nie völlig entspannen können, wenn dir ein Vampir zu nahe kommt.«
»Nicht einmal Marthe?« Ich war entsetzt. Ich vertraute Marthe vollkommen.
»Nicht einmal Marthe«, bestätigte er entschieden. »Allerdings bist du ganz und gar nicht ihr Typ. Sie bevorzugt Blut von wesentlich kräftigeren Geschöpfen.«
»Wegen Marthe oder Ysabeau brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Ich sagte das genauso entschieden wie er.
»Nimm dich vor meiner Mutter in Acht«, widersprach mir Matthew. »Mein Vater hatte mich ermahnt, ihr nie den Rücken zuzudrehen, und er hatte recht. Sie fand Hexen immer faszinierend und war immer neidisch auf sie. Unter den richtigen Umständen und in der richtigen Stimmung…?« Er schüttelte den Kopf.
»Und nicht zu vergessen, was Philippe passiert ist.«
Matthew erstarrte.
»Mein zweites Gesicht meldet sich immer öfter, Matthew. Ich habe gesehen, wie Ysabeau dir von den Hexen erzählte, die deinen Vater gefangengenommen hatten. Sie hat keinen Grund, mir zu vertrauen, trotzdem hat sie mich in ihrem Haus aufgenommen. Die eigentliche Bedrohung ist die Kongregation. Und auch von der würde uns keine Gefahr drohen, wenn du mich zum Vampir machen würdest.«
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Meine Mutter und ich werden uns ausgiebig darüber unterhalten müssen, welche Gesprächsthemen angemessen sind und welche nicht.«
»Du kannst die Welt der Vampire – deine Welt – nicht vor mir verschließen. Ich bin mittendrin. Ich muss wissen, wie sie funktioniert und welche Regeln gelten.« In mir flammte Zorn auf, der durch meine Arme zu meinen Fingernägeln schoss und dort in blauen Flammenbogen ausbrach.
Matthews Augen wurden groß.
»Du bist nicht die einzige furchterregende Kreatur hier, verstehst du?« Ich schwenkte meine feuerspeienden Hände zwischen uns, bis der Vampir den Kopf schüttelte. »Hör auf, meinen Beschützer spielen zu wollen, und lass mich an deinem Leben teilhaben. Ich will keinen Sir Lancelot. Sei einfach du selbst – Matthew Clairmont. Mit deinen scharfen Vampirzähnen und deiner furchteinflößenden Mutter, mit deinen Reagenzgläschen voller Blut und deiner DNA, deiner anmaßenden Arroganz und deinem nervigen scharfen Geruchssinn.«
Kaum hatte ich das ausgesprochen, erloschen die blauen Funken, die von meinen Fingerspitzen sprühten. Sie zogen sich zu meinen Ellbogen zurück und warteten dort, falls ich sie noch einmal brauchen sollte.
»Wenn ich dir jetzt näher komme«, meinte Matthew gelassen, so als würde er mich nach der Zeit oder dem Wetter fragen, »sprühst du dann gleich wieder Funken, oder war es das vorerst?«
»Ich glaube, vorerst bin ich fertig.«
»Du glaubst?« Wieder zog er eine Braue hoch.
»Ich habe mich absolut unter Kontrolle«, verkündete ich und dachte dabei reumütig an die Brandlöcher in seinem Teppich in Oxford.
Blitzschnell hatte Matthew mich in die Arme geschlossen.
»Uff!«, beschwerte ich mich, als er seine Ellbogen in meine Rippen presste.
»Und du bescherst mir mit deinem Mut, deinen Feuerwerksfingern und deinen unmöglichen Kommentaren noch graue Haare – was man bei Vampiren übrigens lange nicht für möglich gehalten hätte.« Matthew gab mir einen innigen Kuss, und danach fehlten mir die Worte, die unmöglichen genauso wie alle anderen auch. Mein Ohr lag auf seiner Brust, wo ich geduldig auf einen Herzschlag lauschte. Als ich einen hörte, drückte ich ihn glücklich und freute mich, nicht die Einzige zu sein, der das Herz überging.
»Du hast gewonnen, ma vaillante fille«, sagte er und drückte mich mit aller Kraft. »Ich werde versuchen – versuchen –, dich nicht mehr so zu behüten. Und du darfst nie unterschätzen, wie gefährlich Vampire sein können.«
Es war schwer, »gefährlich« und »Vampir« unter einen Hut zu bringen, während ich so geborgen an seiner Brust lag. Rakasa betrachtete uns nachsichtig und kaute auf einem Grasbüschel, das links und rechts aus ihrem Maul ragte.
»Bist du fertig?« Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf.
»Wenn du damit meinst, ob ich noch jagen muss, lautet die Antwort nein.«
»Rakasa explodiert gleich. Sie frisst die ganze Zeit Gras. Und sie kann uns nicht beide tragen.« Ich umfasste prüfend Matthews Hüften und Hintern.
Ihm stockte der Atem, dann gab er ein Schnurren von sich, das ganz anders klang als jenes, das er ausstieß, wenn er wütend war.
»Du reitest, und ich laufe nebenher«, schlug er nach einem weiteren langen, lustvollen Kuss vor.
»Wir gehen beide zu Fuß.« Nachdem ich stundenlang im Sattel gesessen hatte, war ich nicht allzu wild darauf, wieder auf Rakasas Rücken zu steigen.
Als Matthew uns durch das Tor des Château führte, dämmerte es bereits. Sept-Tours war hell erleuchtet, jede einzelne Lampe war in einer stummen Begrüßung entzündet.
»Daheim«, sagte ich und spürte, wie mir bei dem Anblick warm ums Herz wurde.
Statt auf das Gebäude sah Matthew mich an und lächelte. »Daheim.«