12
Nichts in meiner kulinarischen Erziehung hatte mich darauf vorbereitet, was man serviert, wenn man einen Vampir zum Abendessen erwartet.
In der Bibliothek verbrachte ich fast den ganzen Tag im Internet, wo ich nach Rezepten mit rohen Zutaten suchte, während meine Handschriften vergessen auf meinem Arbeitsplatz lagen. Matthew hatte behauptet, er würde alles essen, aber das war bestimmt nicht wahr. Ein Vampir, der sich hauptsächlich von Blut ernährte, vertrug bestimmt eher ungekochte Nahrung. Andererseits war Matthew so höflich, dass er ohne jeden Zweifel alles essen würde, was ich ihm anbot.
Nach umfassenden gastronomischen Studien verließ ich die Bibliothek früher als sonst. Matthew hatte das Fort Bishop heute allein gesichert, was Miriam bestimmt als Erleichterung empfunden hatte. Weder Peter Knox noch Gillian Chamberlain hatten sich im Lesesaal blicken lassen, was ich als Erleichterung empfunden hatte. Selbst Matthew wirkte gut gelaunt, als ich den Gang entlangkam, um meine Handschriften zurückzugeben.
An der Radcliffe Camera, unter deren Kuppel die Studenten im Grundstudium über ihren Büchern brüteten, und den mittelalterlichen Mauern des Jesus College vorbei ging ich in die Markthalle zum Einkaufen. Die Einkaufsliste in der Hand, hielt ich zuerst bei einem Metzgereistand, wo ich frisches Wild und einen Hasen kaufte, und ging anschließend zum Fischhändler, um schottischen Lachs zu erstehen.
Aßen Vampire Gemüse?
Dank meines Handys konnte ich in der zoologischen Fakultät anrufen und mich nach den Ernährungsgewohnheiten der Wölfe erkundigen. Was für Wölfe?, wurde ich gefragt. Ich hatte vor langer Zeit auf einem Studienausflug in den Bostoner Zoo graue europäische Wölfe gesehen, außerdem war Grau Matthews Lieblingsfarbe, darum fiel die Wahl auf sie. Nachdem die gelangweilte Stimme am anderen Ende eine lange Liste leckerer Säugetiere heruntergerasselt und erklärt hatte, dass es sich dabei um die »Lieblingsspeisen« der Wölfe handele, erklärte sie mir, dass Wölfe auch Nüsse, Samen und Beeren äßen. »Aber Sie sollten sie nicht füttern!«, wurde ich gewarnt. »Das sind keine Haustiere!«
»Danke für den Rat.« Ich musste mir Mühe geben, nicht zu kichern.
Der Gemüsehändler verkaufte mir die letzten schwarzen Johannisbeeren des Sommers und ein paar duftende Walderdbeeren. Eine Tüte Maronen landete ebenfalls in meiner schwerer werdenden Einkaufstasche.
Danach ging es in den Weinladen, wo ich der Gnade eines Önologischen Evangelisten ausgeliefert war, der mich als Erstes fragte, ob der »Gentleman sich mit Wein auskennt«. Damit brachte er mich sofort ins Schleudern. Der Verkäufer nutzte meine Verwirrung aus, um mir für den Jahresetat eines Kleinstaates ein paar bemerkenswerte französische und deutsche Weine anzudrehen. Danach verfrachtete er mich in ein Taxi, damit ich mich während der Fahrt zum College von dem Preisschock erholen konnte.
In meinem Apartment befreite ich den zerkratzten Tisch aus dem achtzehnten Jahrhundert, der mir gleichzeitig als Arbeits- und Esstisch diente, von allen Papieren und zerrte ihn dann vor den Kamin. Ich deckte ihn liebevoll mit dem alten Geschirr und Besteck aus meinem Schrank sowie mit zwei schweren Kristallkelchen, Überbleibseln aus einem Set, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für den Gemeinschaftsraum erstanden worden war. Meine loyalen Küchendamen hatten mich mit einem Stapel von frisch gestärktem Leinen ausgestattet, das jetzt teils die Tischplatte bedeckte, teils zusammengefaltet neben dem Besteck lag und teils das verschrammte Tablett verschönerte, mit dem ich das Essen aus der Küche tragen würde.
Sobald ich mit den Vorbereitungen angefangen hatte, begriff ich, dass man nicht viel Zeit braucht, um für einen Vampir zu kochen. Eigentlich braucht man überhaupt nicht zu kochen.
Um sieben Uhr standen die Kerzen bereit, das Essen war bis auf ein paar letzte Handgriffe fertig, und das Einzige, was noch herzurichten war, war ich.
Meine Garderobe enthielt praktisch nichts, was dem Programmpunkt »Dinner mit einem Vampir« entsprochen hätte. Auf gar keinen Fall würde ich mich in einem Kostüm oder in dem Outfit, das ich bei meinem Besuch bei Professor Marsh getragen hatte, mit Matthew zu Tisch setzen. Schwarze Hosen und Leggings besaß ich im Überfluss, durch die Bank mit mehr oder weniger Lycra versetzt, aber praktisch alle waren mit Tee- oder Fettflecken oder beidem besprenkelt. Schließlich förderte ich eine halbwegs brauchbare schwarze Hose zutage, die allerdings verdächtig nach einem Pyjama-Unterteil aussah, wenn auch einem ziemlich eleganten. Die würde reichen müssen.
In BH und Hose eilte ich ins Bad und zerrte den Kamm durch mein schulterlanges strohblondes Haar. Nicht genug, dass es völlig verknotet war, es provozierte mich zusätzlich, indem es sich bei jeder Berührung durch den Kamm aufstellte. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, ihm mit dem Glätteisen zu Leibe zu rücken, aber die Chancen standen gut, dass ich exakt den halben Kopf gebändigt hätte, wenn Matthew auftauchte. Er würde pünktlich auf die Minute vor der Tür stehen. Das war mir klar.
Während ich mir die Zähne putzte, kam ich zu dem Schluss, dass mir nichts anderes übrig bleiben würde, als mir die Haare aus dem Gesicht zu kämmen und sie in einen Knoten zu binden. Dadurch wirkten zwar mein Kinn und meine Nase spitzer, andererseits erweckte ich damit wenigstens die Illusion von Wangenknochen, und noch dazu konnten mir die Haare nicht in die Augen fallen, von denen sie in letzter Zeit scheinbar magnetisch angezogen wurden. Kaum hatte ich alle Haare mit Haarnadeln befestigt, löste sich die erste Strähne. Ich seufzte.
Aus dem Spiegel blickte mich das Gesicht meiner Mutter an. Ich musste daran denken, wie schön sie ausgesehen hatte, wenn sie sich zum Abendessen hinsetzte, und fragte mich, wie sie es geschafft hatte, dass ihre hellen Brauen und Wimpern so deutlich hervorgetreten waren, oder wieso ihr breiter Mund so anders gewirkt hatte, wenn sie mich oder meinen Vater anlächelte. Nach einem Blick auf die Uhr sparte ich mir den Versuch, eine ähnliche Transformation mit kosmetischen Mitteln zu bewerkstelligen. Ich hatte nur noch drei Minuten, um eine Bluse auszusuchen, wenn ich Matthew Clairmont, den angesehenen Professor der Biochemie und Neurowissenschaften, nicht in Unterwäsche begrüßen wollte.
Mein Kleiderschrank bot mir zwei Alternativen – schwarz oder mitternachtsblau. Die blaue hatte den Vorteil, sauber zu sein, in diesem Fall ein entscheidender Faktor. Außerdem hatte sie einen komischen Kragen, der hinten hochstand und sich wie ein Flügel um mein Gesicht schwang, ehe er in einen V-förmigen Ausschnitt abfiel. Die Ärmel waren relativ eng und mündeten in langen, steifen Manschetten, die leicht ausgestellt waren und irgendwo über dem Handrücken endeten. Gerade als ich den zweiten Silberohrring anlegte, klopfte es an der Tür.
Mein Herz begann zu flattern, als hätte ich ein Date. Ich zerquetschte den Gedanken augenblicklich.
Als ich die Tür öffnete, stand Matthew vor mir, groß und schneidig wie ein Märchenprinz. Anders als sonst trug er ausschließlich Schwarz, was ihn noch umwerfender aussehen ließ – und noch vampirhafter.
Er wartete geduldig auf dem Treppenabsatz, bis ich ihn begutachtet hatte.
»Wo sind meine Manieren geblieben? Bitte komm herein, Matthew. Genügt das als förmliche Einladung in mein Haus?« Das hatte ich irgendwo im Fernsehen gesehen oder in einem Buch gelesen.
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Das meiste von dem, was du über Vampire zu wissen meinst, kannst du getrost vergessen. Es gibt keine mystische Barriere, die sich zwischen mir und einer schönen Jungfer erhebt.« Matthew musste leicht den Kopf einziehen, als er durch die Tür trat. In der einen Hand hielt er eine Flasche Wein, in der anderen ein paar weiße Rosen.
»Für dich.« Er betrachtete mich wohlgefällig und überreichte mir die Blumen. »Kann ich die irgendwo bis zum Dessert abstellen?« Er sah auf die Flasche.
»Danke, ich liebe Rosen. Wie wär’s mit dem Fensterbrett?«, schlug ich vor und verschwand in die Küche, um eine Vase zu suchen. Meine andere Vase war in Wahrheit eine Weinkaraffe, wie ich dank des Weinkellners aus dem Gemeinschaftsraum des Lehrpersonals wusste, der mich ein paar Stunden zuvor in meinem Apartment besucht und sie mir gezeigt hatte, nachdem ich behauptet hatte, ich würde so etwas nicht besitzen.
»Perfekt«, erwiderte Matthew.
Als ich mit den Blumen zurückkehrte, war er damit beschäftigt, durchs Zimmer zu schlendern und die Kupferstiche zu betrachten.
»Die sind gar nicht schlecht«, erklärte er, während ich die Vase auf eine vernarbte Kommode aus der napoleonischen Zeit stellte.
»Leider sind es fast nur Jagdszenen.«
»Das ist mir nicht entgangen«, antwortete Matthew mit amüsiertem Lächeln. Ich wurde knallrot.
»Bist du hungrig?« Die Knabbereien und Drinks, die eine gute Gastgeberin vor dem Dinner servierte, hatte ich völlig vergessen.
»Ich könnte durchaus etwas essen«, sagte der Vampir grinsend.
Ich zog mich in die sichere Küche zurück und nahm zwei Teller aus dem Kühlschrank. Als ersten Gang gab es Räucherlachs mit frischem Dill nebst einem kleinen, artistisch aufgehäuften Kegel aus Kapern und gehackten Gürkchen, der auch als Garnitur zählen konnte, falls der Vampir kein Grünzeug vertrug.
Als ich mit den Tellern ins Zimmer trat, stand Matthew wartend neben dem Stuhl, der am weitesten von der Küche entfernt war. Der Wein stand in einer hohen Silberschale bereit, in der ich mein Kleingeld aufbewahrt hatte, die aber, wie mir der Weinkellner aus dem Gemeinschaftsraum bei seinem Besuch erläutert hatte, eigentlich für Weinflaschen gedacht war. Matthew setzte sich, während ich eine Flasche mit deutschem Riesling entkorkte. Ich schenkte zwei Gläser ein, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, und setzte mich dann an den Tisch.
Mein Gast hielt das Weinglas unter seine lange Adlernase und versank in tiefer Konzentration. Ich wartete darauf, dass er aus seiner Trance erwachte, und fragte mich währenddessen, wie viele Riechzellen Vampire wohl besaßen, verglichen beispielsweise mit Hunden.
Ich hatte wirklich keine Ahnung von Vampiren.
»Sehr nett«, urteilte er schließlich, öffnete die Augen und lächelte mich an.
»Für den Wein bin ich nicht verantwortlich«, versicherte ich eilig und klatschte mir die Serviette auf den Schoß. »Der Mann im Weingeschäft hat ihn ausgesucht, also gib mir nicht die Schuld, wenn er nicht schmeckt.«
»Sehr nett«, sagte er wieder, »und der Lachs sieht wirklich gut aus.«
Matthew griff nach Messer und Gabel und spießte ein Stück Fisch auf. Während ich ihn unter gesenkten Wimpern hervor beobachtete, um festzustellen, ob er ihn tatsächlich essen würde, piekte ich ein Gurkenstückchen, eine Kaper und etwas Lachs auf meine Gabelzinken.
»Du isst nicht wie eine Amerikanerin«, stellte er nach einem Schluck Wein fest.
»Nein«, bestätigte ich und sah erst auf die Gabel in meiner Linken, dann auf das Messer in meiner Rechten. »Ich nehme an, dazu war ich zu lange in England. Kannst du das wirklich essen?«, platzte es aus mir heraus, weil ich es nicht mehr aushielt.
Er lachte. »O ja, und Räucherlachs mag ich wirklich.«
»Aber du isst nicht alles«, beharrte ich und sah dabei wieder auf meinen Teller.
»Nein«, gab er zu, »aber von den meisten Sachen bringe ich durchaus ein paar Bissen hinunter. Es schmeckt mir nur nicht besonders, wenn es nicht roh ist.«
»Das ist eigenartig, schließlich haben Vampire doch so hoch entwickelte Sinnesorgane. Man sollte meinen, dass für sie jedes Essen fantastisch schmeckt.« Mein Lachs schmeckte so sauber wie frisches Quellwasser.
Er griff nach seinem Weinglas und schaute in die blassgoldene Flüssigkeit. »Wein schmeckt fantastisch. Dagegen schmeckt alles, was zu Tode gekocht wurde, für einen Vampir widerwärtig.«
Ich ging mein geplantes Menü durch und atmete innerlich auf.
»Aber wenn dir das Essen nicht schmeckt, warum lädst du mich dann immer wieder zum Essen ein?«, fragte ich.
Matthews Blick zuckte über meine Wangen und Augen, bevor er auf meinem Mund zu liegen kam. »Es fällt mir leichter, in deiner Nähe zu sein, wenn du isst. Bei dem Geruch von gekochtem Essen wird mir übel.«
Ich blinzelte ihn verwirrt an.
»Solange mir übel ist, werde ich nicht hungrig«, erklärte Matthew vergrämt.
»Ach so!« Die Steinchen fügten sich zusammen. Dass er meinen Geruch mochte, wusste ich bereits. Offenbar regte das seinen Appetit an.
Ach so. Ich wurde wieder rot.
»Ich dachte, du würdest das wissen«, setzte er sanfter hinzu, »und hättest mich deshalb zum Essen eingeladen.«
Ich schüttelte den Kopf und stellte das nächste Lachspäckchen zusammen. »Wahrscheinlich weiß ich noch weniger über Vampire als die meisten Menschen. Und das Wenige, was meine Tante Sarah mir beigebracht hat, zählt auch nur unter Vorbehalt, weil sie so viele Vorurteile hat. Zum Beispiel ist sie ganz strikt, was eure Ernährung angeht. Sie meint, Vampire würden ausschließlich Blut zu sich nehmen, weil sie nicht mehr zum Überleben brauchen. Aber das stimmt nicht, oder?«
Matthews Augen wurden schmal, und seine Stimme vereiste. »Nein. Du brauchst Wasser, um zu überleben. Trinkst du deshalb nichts anderes?«
»Sollte ich das lieber nicht ansprechen?« Meine Fragen reizten ihn. Nervös schlang ich die Füße um die Stuhlbeine und merkte im selben Moment, dass ich vergessen hatte, Schuhe anzuziehen. Ich hatte meinen Gast barfuß empfangen.
»Wahrscheinlich kannst du nicht gegen deine Neugier an«, erwiderte Matthew, nachdem er ausgiebig über meine Frage nachgedacht hatte. »Ich trinke Wein, und ich esse auch – am liebsten ungekochte Sachen oder kalte Speisen, die möglichst nicht riechen.«
»Aber das Essen und der Wein nähren dich nicht«, vermutete ich. »Du brauchst Blut – welcher Art auch immer.« Er zuckte zusammen. »Und du brauchst auch nicht draußen zu warten, bis ich dich in mein Haus gebeten habe. Wo liege ich sonst noch falsch?«
Matthews Miene kündete von strapazierter Geduld. Das Weinglas in der Hand, lehnte er sich zurück. Ich stand halb auf und beugte mich über den Tisch, um ihm nachzuschenken. Wenn ich ihn schon mit Fragen überschüttete, konnte ich ihm wenigstens Wein einschenken. Dummerweise musste ich mich dabei über die Kerzen beugen und hätte um ein Haar meine Bluse in Flammen gesetzt. Matthew nahm mir die Weinflasche ab.
»Soll ich das nicht lieber übernehmen?«, schlug er vor. Er schenkte erst sich Wein ein und danach mein Glas voll, bevor er antwortete: »Das meiste, was du über mich – über Vampire – weißt, haben sich die Menschen zusammengeträumt. Nichtmenschliche Wesen machen ihnen Angst. Und damit meine ich nicht nur uns Vampire.«
»Schwarze Hüte, schwarze Katzen, fliegende Besen.« Das war die unheilige Dreifaltigkeit der Hexenfolkore, die alljährlich an Halloween zu lächerlich grellem Leben erwachte.
»Ganz genau.« Matthew nickte. »Irgendwo steckt in jeder dieser Geschichten ein Körnchen Wahrheit, etwas, das die Menschen verängstigte und ihnen half, uns zu verleugnen. Der stärkste menschliche Charakterzug ist die Fähigkeit, alles Unangenehme zu verdrängen. Ich habe übermenschliche Kräfte und ein langes Leben, du verfügst über übernatürliche Fähigkeiten, Dämonen beweisen ehrfurchtgebietende kreative Kräfte. Menschen können sich einreden, dass oben unten und schwarz weiß ist. Das ist ihre besondere Gabe.«
»Und welches Körnchen Wahrheit steckt in der Geschichte, dass Vampire ein Haus erst betreten können, wenn sie hereingebeten wurden?« , kam ich zurück auf das Empfangsprotokoll.
»Wir sind ständig von Menschen umgeben. Sie weigern sich, unsere Existenz anzuerkennen, weil wir nicht in ihre begrenzte Welt passen. Wenn sie uns erst einlassen – uns so sehen, wie wir wirklich sind –, dann werden sie uns nicht mehr los, so wie du jemanden, den du in deine Wohnung eingeladen hast, nur schwer wieder hinauswerfen kannst. Dann können sie uns nicht mehr ignorieren.«
»Damit verhält es sich also ähnlich wie bei den Geschichten über Vampire und die Sonne«, dämmerte mir. »Weil sie sich nicht eingestehen wollen, dass ihr unter ihnen wandelt, erzählen sie sich, dass ihr im Sonnenlicht sterben müsst.«
Matthew nickte wieder. »Natürlich schaffen sie es trotzdem, uns zu ignorieren. Wir können schließlich nicht immer im Haus bleiben, bis es dunkel wird. Aber nach Anbruch der Nacht fallen wir den Menschen weniger auf – und das gilt auch für euch. Du solltest ihre Gesichter sehen, wenn du einen Raum betrittst oder die Straße hinuntergehst.«
Ich dachte an meine unauffällige Kleidung und sah ihn zweifelnd an. Matthew lachte leise.
»Du glaubst mir nicht, ich weiß. Aber es stimmt. Es macht die Menschen nervös, wenn sie einen von uns bei Tageslicht sehen. Wir überfordern sie – wir sind zu groß, zu stark, zu selbstbewusst, zu kreativ, zu mächtig, zu anders geartet. Den ganzen Tag versuchen sie angestrengt, uns quadratische Klötzchen in runde Löcher zu pressen. Abends ist es einfacher, uns als verschrobene Eigenbrötler hinzustellen.«
Ich stand auf, trug die Fischteller ab und stellte dabei erleichtert fest, dass Matthew alles bis auf die Garnitur aufgegessen hatte. Er schenkte noch etwas deutschen Wein in sein Glas, während ich die nächsten beiden Teller aus dem Kühlschrank holte, auf denen mehrere Scheiben von rohem Wildfleisch lagen, das so dünn aufgeschnitten war, dass man laut dem Metzger die Oxford Mail durch sie hindurch lesen konnte. Vampire mochten kein Grünzeug. Ob sie Wurzelgemüse und Käse mochten, würde sich gleich zeigen. Ich häufte ein paar Würfel rote Bete auf jeden Teller und raspelte Parmesan darüber.
Eine Dekantierkaraffe mit breitem Boden landete auf der Mitte des Tisches und zog sofort Matthews Blick auf sich.
»Darf ich?«, fragte er, zweifellos besorgt, dass ich das College abbrennen könnte. Er griff nach dem Glasbehälter, schenkte etwas Wein in unsere Gläser und hielt seines dann unter seine Nase.
»Côte Rôtie«, erkannte er zufrieden. »Einer meiner Lieblingsweine.«
Ich fasste den schlichten Glasbehälter ins Auge. »Und du kannst das erkennen, nur indem du daran riechst?«
Er lachte. »Manche der Vampirgeschichten stimmen. Mein Geruchssinn ist außergewöhnlich scharf – genau wie meine Augen und mein Gehör. Aber selbst ein Mensch könnte dir sagen, dass das hier ein Côte Rôtie ist.« Er schloss wieder die Augen. »Ein 2003er?«
Mir klappte der Mund auf. »Ja!« Das hier war besser als ein Fernsehquiz. Auf dem Etikett war eine kleine Krone aufgedruckt gewesen. »Verrät dir deine Nase auch, von welchem Weingut er kommt?«
»Ja, aber hauptsächlich, weil ich schon einmal über den Weinberg spaziert bin, auf dem die Trauben wachsen«, gestand er fast kleinlaut, so als hätte ich ihn bei einem Taschenspielertrick ertappt.
»Du kannst riechen, von welchem Weinberg er stammt?« Ich steckte die Nase ins Glas und war froh, dass sich das leichte Pferdedungaroma verzogen hatte.
»Manchmal glaube ich, dass ich mich an alles erinnern kann, was ich je gerochen habe. Wahrscheinlich ist das nur Einbildung«, gestand er verlegen. »Aber Gerüche beschwören mächtige Erinnerungen herauf. Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie ich das erste Mal Schokolade gerochen habe.«
»Wirklich?« Interessiert beugte ich mich vor.
»Das war 1615. Der Krieg war noch nicht ausgebrochen, und der König von Frankreich hatte eine spanische Prinzessin geheiratet, die niemand leiden konnte – am wenigsten der König selbst.« Als ich lächelte, lächelte er ebenfalls, doch sein Blick blieb in die Ferne gerichtet. »Sie brachte die Schokolade nach Paris – bitter wie die Sünde und genauso dekadent. Wir tranken den Kakao schwarz, nur mit Wasser und ohne Zucker.«
Ich lachte. »Hört sich grässlich an. Zum Glück ist jemand auf die Idee gekommen, dass Schokolade süß sein sollte.«
»Das war wohl ein Mensch. Wir Vampire liebten sie bitter und schwarz.«
Wir griffen zu den Gabeln und machten uns über das Wild her. »Noch mehr schottisches Essen«, sagte ich und deutete mit dem Messer auf das Fleisch.
Matthew kaute eine Scheibe. »Rotwild. Ein junger Hirsch, dem Geschmack nach.«
Ich schüttelte fasziniert den Kopf.
»Wie gesagt«, fuhr er fort, »manche Geschichten sind wahr.«
»Kannst du fliegen?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon wusste.
Er schnaubte. »Natürlich nicht. Das überlassen wir den Hexen, schließlich könnt ihr über die Elemente gebieten. Aber wir sind schnell und stark. Wir können so schnell laufen und springen, dass die Menschen glauben, wir könnten fliegen. Außerdem sind wir effizient.«
»Effizient?« Ich legte die Gabel ab, denn ich wusste nicht recht, ob mir rohes Wild wirklich schmeckte.
»Unsere Körper verbrauchen kaum Energie. Wir können die Energie ganz darauf verwenden, uns schnell zu bewegen, wenn es sein muss.«
»Du atmest so gut wie gar nicht.« Ich dachte an unsere Yogastunde und trank einen Schluck Wein.
»Nein«, sagte Matthew. »Unsere Herzen schlagen nicht oft. Wir brauchen auch nicht oft zu essen. Wir sind Kaltblüter, das verlangsamt die meisten körperlichen Prozesse und erklärt, warum wir so lange leben.«
»Die Sargstory! Ihr schlaft nicht oft, aber wenn, dann wie tot.«
Er grinste. »Wie ich sehe, weißt du, wie der Hase läuft.«
Auf Matthews Teller lag nur noch die rote Bete, auf meinem nur noch das Wildfleisch. Ich räumte den zweiten Gang ab und bat ihn, noch etwas Wein einzuschenken.
Der Hauptgang war der einzige, der heiß gemacht werden musste, und auch das nur kurz. Ich hatte bereits einen bizarren Pseudokuchen aus gemahlenen Maronen zusammengerührt. Jetzt brauchte ich nur noch etwas Hasenfleisch anzubraten. Die Zutatenliste umfasste Rosmarin, Knoblauch und Sellerie. Ich beschloss, auf den Knoblauch zu verzichten. Bei seinem empfindlichen Geruchssinn würde der Knoblauch alles andere überdecken – das war das Körnchen Wahrheit in dieser Vampirgeschichte. Sellerie fiel ebenfalls aus. Vampire mochten absolut kein Gemüse. Gewürze hingegen schienen ihnen keine Probleme zu bereiten, darum beließ ich es bei dem Rosmarin und mahlte etwas Pfeffer über den Hasen, der in der Pfanne brutzelte.
Matthews Hasen ließ ich blutig, meinen briet ich etwas länger als angegeben, weil ich hoffte, dadurch den Geschmack nach rohem Wild zu vertreiben. Nachdem ich alles zu einem kunstvollen Haufen angeordnet hatte, servierte ich es. »Das ist leider gebraten – aber nur ganz kurz.«
»Das ist doch nicht eine Art Test, oder?« Matthew sah mich streng an.
»Nein, nein«, antwortete ich eilig. »Aber normalerweise habe ich keine Vampire zu Gast.«
»Das freut mich zu hören«, murmelte er. Er schnupperte kurz an dem Hasen. »Der riecht köstlich.« Als er sich über den Teller beugte, verstärkte die aufsteigende Wärme seinen unverkennbaren Zimt- und Nelkenduft. Matthew gabelte etwas von dem Maronenkuchen auf. Noch bevor er die Gabel in den Mund schob, wurden seine Augen groß. »Kastanien?«
»Nichts außer Kastanien, Olivenöl und etwas Backpulver.«
»Und Salz. Und Wasser, Rosmarin und Pfeffer«, kommentierte er gelassen und nahm noch einen Bissen.
»Bei deinen eingeschränkten Ernährungsgewohnheiten ist es bestimmt praktisch, dass du genau weißt, was du dir in den Mund schiebst«, grummelte ich.
Nachdem das Essen mehr oder weniger vorüber war, begann ich mich zu entspannen. Wir plauderten über Oxford, während ich die Teller abräumte und Käse, Beeren, Walnüsse und geröstete Maronen auf den Tisch stellte.
»Bedien dich«, sagte ich und stellte einen leeren Teller vor ihn hin. Matthew atmete den Duft der Walderdbeeren ein und griff glücklich seufzend nach einer Walnuss.
»Die mag ich am liebsten«, bemerkte er. Er knackte die harte Nuss problemlos mit den Fingern und ließ das Fleisch aus der Hülle springen. Der an der Schüssel hängende Nussknacker war bei einem Vampir am Tisch eindeutig überflüssig.
»Wie rieche ich eigentlich?«, fragte ich und spielte am Stiel meines Weinglases herum. Ein paar Sekunden hatte ich den Eindruck, dass er mir nicht antworten würde. Das Schweigen dehnte sich, dann sah er mich wehmütig an. Seine Lider senkten sich, und er atmete tief ein.
»Du riechst nach Weidensaft. Und nach Kamille, die von nackten Füßen zertreten wurde.« Er schnupperte wieder und ließ ein kleines, trauriges Lächeln aufscheinen. »Außerdem rieche ich Geißblatt und altes Eichenlaub«, sagte er leise im Ausatmen, »vermischt mit blühenden Haselsträuchern und den ersten Frühlingsnarzissen. Und uralte Aromen – wie Schwarznessel, Weihrauch und Frauenmantel. Gerüche, die ich vergessen zu haben glaubte.«
Er öffnete langsam die Augen, und ich blickte in die graue Tiefe, mit angehaltenem Atem, um den Bann nicht zu brechen, den er mit seinen Worten über mich gelegt hatte.
»Was ist mit mir?«, fragte er, ohne den Blick abzuwenden.
»Zimt …«, sagte ich zögerlich, »und Gewürznelken. Manchmal riechst du auch nach Nelkenblüten – nicht nach denen in den Blumenläden, sondern den altmodischen, die in englischen Bauerngärten wachsen.«
»Gartennelken.« In Matthews Augenwinkeln bildeten sich kleine Lachfältchen. »Nicht schlecht für eine Hexe.«
Ich griff nach einer Marone. Die Nuss in beiden hohlen Händen bergend, rollte ich sie hin und her und spürte, wie sich die Wärme durch meine plötzlich kalten Arme ausbreitete.
Matthew lehnte sich wieder zurück und musterte mich mit blitzschnellen Augenbewegungen. »Wie hast du entschieden, was du mir heute Abend vorsetzt?« Er deutete auf die Beeren und Nüsse, die noch übrig geblieben waren.
»Das war keine Zauberei. Die zoologische Fakultät hat mir sehr geholfen«, erklärte ich.
Er sah mich verdattert an und lachte dann laut auf. »Du hast in der zoologischen Fakultät nachgefragt, was du mir zu essen geben sollst?«
»Nicht so offen«, verteidigte ich mich. »Im Internet gab es Rezepte mit rohen Zutaten, aber nachdem ich das Fleisch gekauft hatte, wusste ich nicht mehr weiter. Darum habe ich nachgefragt, wie sich Wölfe ernähren.«
Matthew schüttelte den Kopf, aber er lächelte immer noch, und meine Verunsicherung legte sich wieder. »Danke«, sagte er schließlich. »Mir hat schon sehr lange niemand mehr etwas zu essen gemacht.«
»Gern geschehen. Am schwierigsten war der Wein.«
Matthews Augen leuchteten auf. »Wo wir gerade von Wein sprechen«, sagte er, stand auf und faltete seine Serviette zusammen. »Ich habe uns etwas für nach dem Essen mitgebracht.«
Er bat mich, zwei frische Gläser aus der Küche zu holen. Als ich zurückkam, stand eine alte, leicht schiefe Flasche auf dem Tisch. Auf dem verblassten cremefarbenen Etikett erkannte ich einen schlichten Schriftzug und eine kleine Krone. Matthew bohrte den Korkenzieher vorsichtig in den bröseligen und vom Alter geschwärzten Korken.
Seine Nasenflügel bebten, als er ihn herauszog, und sein Blick erinnerte mich an den einer Katze, die gerade einen köstlichen Kanarienvogel zwischen den Pfoten hält. Der Wein, der aus der Flasche rann, war dick wie Sirup und funkelte golden im Kerzenlicht.
»Riech mal«, befahl er und reichte mir eines der Gläser, »und sag mir dann, was du denkst.«
Ich schnupperte kurz und schnappte nach Luft. »Er riecht wie Karamell und Beeren«, antwortete ich und rätselte, wie etwas Gelbes so rot riechen konnte.
Matthew beobachtete gespannt, wie ich reagieren würde. »Nimm einen Schluck«, schlug er vor.
Die süßen Aromen des Weines explodierten in meinem Mund. Aprikosen und Vanillesoße aus der Collegeküche purzelten über meine Zunge, und mein Mund prickelte noch lange nachdem ich den Wein hinuntergeschluckt hatte. Es war, als würde ich Magie trinken.
»Was ist das?«, fragte ich schließlich, als der Geschmack abgeklungen war.
»Er wurde aus Trauben gekeltert, die vor langer, langer Zeit geerntet wurden. Es war ein heißer, sonniger Sommer.«
»Man schmeckt den Sonnenschein«, sagte ich und verdiente mir damit das nächste verzaubernde Lächeln.
»Während der Ernte schoss ein Komet über die Weinberge. Die Astronomen hatten ihn schon Monate zuvor in ihren Teleskopen beobachtet, aber im Oktober strahlte er so hell, dass man in seinem Licht beinahe lesen konnte. Die Winzer nahmen das als Zeichen, dass die Ernte gesegnet sei.«
»War das 1986? War das der Halley’sche Komet?«
Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Es war 1811.« Ich blickte fassungslos auf den fast zweihundert Jahre alten Wein in meinem Glas, als befürchtete ich, er könnte sich vor meinen Augen in Luft auflösen. »Halleys Komet kam 1759 und 1835.« Er sprach den Namen wie »Harley« aus.
»Wo hast du ihn her?« Jedenfalls nicht aus dem Weinladen neben dem Bahnhof, so viel stand fest.
»Ich habe ihn Antoine-Marie abgekauft, sobald er mir versichert hatte, dass es ein außergewöhnlicher Jahrgang werden würde«, erklärte er gut gelaunt.
Ich drehte die Flasche herum und betrachtete das Etikett genauer. Château Yquem. Selbst ich hatte schon davon gehört.
»Und seither hast du ihn aufbewahrt.« Er hatte 1615 in Paris Schokolade getrunken und 1536 von Heinrich dem Achten ein Grundstück geschenkt bekommen – warum sollte er nicht 1811 Wein gekauft haben? Außerdem war da immer noch die uralt aussehende Ampulle, die er um den Hals trug, wie ich an dem Band um seinen Nacken erkannte.
»Matthew«, sagte ich langsam und aufmerksam auf jedes Anzeichen von aufflammendem Ärger achtend. »Wie alt bist du eigentlich?«
Sein Mund erstarrte, aber seine Stimme klang heiter. »Jedenfalls älter, als ich aussehe.«
»Das weiß ich.« Ich konnte meine Ungeduld kaum zügeln.
»Warum ist dir mein Alter so wichtig?«
»Ich bin Historikerin. Wenn mir jemand erzählt, er könne sich daran erinnern, wie die Schokolade nach Frankreich kam oder wie 1811 ein Komet über den Himmel zog, dann fällt es mir schwer, nicht nachzufragen, was er sonst noch erlebt hat. 1536 hast du schon gelebt – ich war in dem Haus, das du damals gebaut hast. Hast du auch Machiavelli gekannt? Den Schwarzen Tod überlebt? Die Universität von Paris besucht, als Abaelard dort lehrte?«
Er blieb still. Meine Nackenhärchen begannen sich aufzustellen.
»Dein Pilgerzeichen verrät mir, dass du irgendwann im Heiligen Land warst. Warst du auf einem Kreuzzug dort? Hast du den Halley’schen Kometen auch 1066 über die Normandie ziehen sehen?«
Immer noch nichts.
»Der Krönung von Karl dem Großen beigewohnt? Den Fall von Karthago überlebt? Mitgeholfen, Attila von Rom fernzuhalten?«
Matthew hob den rechten Zeigefinger. »Welchen Fall Karthagos?«
»Sag du es mir!«
»Zum Teufel mit dir, Hamish Osborne«, murmelte er und krallte die Finger ins Tischtuch. Zum zweiten Mal in zwei Tagen wusste Matthew nicht, was er sagen sollte. Er starrte in die Kerze und zog dann den Finger langsam durch die Flamme. Sein Fleisch explodierte in zornigen roten Blasen und glättete sich gleich darauf wieder in weißer, kalter Perfektion, ohne dass auf seinem Gesicht auch nur der Anflug von Schmerz zu erkennen gewesen wäre.
»Ich glaube, dass mein Körper ungefähr siebenunddreißig Jahre alt ist. Ich wurde etwa zu der Zeit geboren, als Chlodwig zum Christentum konvertierte. Daran konnten sich meine Eltern erinnern, andernfalls hätte ich überhaupt keinen Anhaltspunkt. Damals interessierte sich niemand für Geburtstage. Es war viel praktischer, sich das Jahr fünfhundert zu merken und damit Schluss.« Er sah kurz zu mir auf und blickte dann wieder in die Kerze. »Als Vampir wiedergeboren wurde ich 537, und mit Ausnahme Attilas – das war vor meiner Zeit – hast du die meisten Höhe- und Tiefpunkte des Jahrtausends erfasst, das ich durchlebte, bis ich den Grundstein zu meinem Haus in Woodstock legte. Ich muss dir allerdings sagen, dass Machiavelli bei Weitem nicht so eindrucksvoll war, wie ihr alle zu glauben scheint. Er war einfach ein Florentiner Politiker – und nicht einmal ein besonders guter.« In seiner Stimme lag leichte Müdigkeit.
Matthew Clairmont war über fünfzehnhundert Jahre alt.
»Ich sollte nicht so nachbohren«, meinte ich halb entschuldigend und halb verwundert darüber, dass ich tatsächlich geglaubt hatte, ich würde mehr über den Vampir erfahren, indem ich erfragte, welchen historischen Ereignissen er beigewohnt hatte. Eine Zeile von Ben Jonson, einem Zeitgenossen Shakespeares, kam mir in den Sinn. Sie schien Matthew eher zu erfassen, als es die Krönung von Karl dem Großen vermochte. »Er war kein Mann eines Zeitalters, sondern für alle Zeit!«, murmelte ich.
»Zur Seite dir, vergess ich ganz die Zeit«, parierte er mit einem Vers von John Milton aus dem siebzehnten Jahrhundert.
Wir sahen uns an, bis wir es kaum noch aushielten, und spannen dabei den nächsten zerbrechlichen Zauber. Ich zerbrach ihn prompt.
»Was hast du im Herbst 1859 gemacht?«
Sein Gesicht verdunkelte sich. »Was hat Peter Knox dir erzählt?«
»Dass du bestimmt keine Hexe in deine Geheimnisse einweihen würdest.« Meine Stimme blieb ruhiger als ich selbst.
»Wirklich?« Matthew klang weniger wütend, als er mit Sicherheit war. Ich sah es an der Anspannung in seinem Kiefer und seinen Schultern. »Im September 1859 habe ich die Handschriften im Ashmolean Museum studiert.«
»Warum, Matthew?« Bitte erzähl es mir, flehte ich ihn innerlich an und kreuzte gleichzeitig die Finger im Schoß. Ich hatte ihn so lange provoziert, bis er mir den ersten Teil seines Geheimnisses offenbart hatte, aber den Rest sollte er mir freiwillig erzählen. Keine Spiele, keine Rätsel. Erzähl es mir einfach.
»Ich hatte gerade ein Manuskript gelesen, das bald in Druck gehen sollte. Ein Naturforscher in Cambridge hatte es verfasst.« Matthew stellte sein Glas ab.
Meine Hand flog an meinen Mund, als mir aufging, was das für ein Datum war. Vom Ursprung. Genau wie bei Newtons großem Werk über die Physik, der Principia, brauchte man bei diesem Werk nicht den ganzen Titel zu zitieren. Jeder, der sich in der Schule mit Biologie beschäftigt hatte, kannte Darwins Vom Ursprung der Arten.
»Im vorangegangenen Sommer hatte Darwin seine Theorie der natürlichen Auslese schon in einem Artikel skizziert, doch dieses Buch war völlig anders. Es war faszinierend, wie er von leicht zu beobachtenden Veränderungen in der Natur ausging und den Leser dann Schritt für Schritt dazu brachte, etwas so Revolutionäres zu akzeptieren.«
»Aber Alchemie hat nichts mit Evolution zu tun.« Ich griff nach der Weinflasche und schenkte mir noch etwas von dem kostbaren Wein ein. Im Moment machte ich mir weniger Sorgen, dass er sich in Luft auflösen, sondern eher, dass ich den Verstand verlieren könnte.
»Lamarck glaubte, dass jede Spezies von unterschiedlichen Vorfahren abstammte. Das ähnelt verblüffend dem, was deine Alchemisten glaubten – dass es sich bei dem Stein der Weisen um das noch unbekannte Endergebnis einer natürlichen Transmutation einfacher Stoffe in höherwertige Metalle wie Kupfer, Silber und Gold handeln müsse.« Matthew streckte die Hand nach der Flasche aus, und ich reichte sie ihm.
»Aber Darwin war anderer Meinung als Lamarck, selbst wenn er in seinen ersten Schriften über die Evolution denselben Begriff – Transmutation – verwendete.«
»Er verwarf die Vorstellung von linearen Transmutationen, das stimmt. Trotzdem kann man Darwins Theorie der natürlichen Auslese als eine Abfolge von verschiedenen, miteinander verbundenen Transmutationen betrachten.«
Vielleicht hatte Matthew recht, und es steckte tatsächlich in allem Magie. Sie steckte in Newtons Theorie über die Schwerkraft und möglicherweise auch in Darwins Evolutionstheorie.
»Überall in der Welt finden sich alchemistische Handschriften.« Ich gab mir Mühe, die Details nicht aus dem Blick zu verlieren, während ich das große Bild zu erfassen versuchte. »Warum ausgerechnet die Manuskripte von Ashmole?«
»Als ich Darwin las und erkannte, wie er die alchemistische Theorie der Transmutationen auf die Biologie zu übertragen schien, fielen mir Geschichten über ein mysteriöses Buch ein, in dem es angeblich um den Ursprung unserer drei Arten ging – der Dämonen, Hexen und Vampire. Ich hatte diese Erzählungen immer als Fantasterei abgetan.« Er trank einen Schluck Wein. »Die meisten Berichte deuteten an, dass diese Erklärungen in einem alchemistischen Buch vor den Augen der Menschen versteckt worden seien. Die Veröffentlichung des Ursprungs trieb mich dazu, mich auf die Suche zu machen, ob es dieses Buch tatsächlich gab. Falls ja, dann musste Elias Ashmole es gekauft haben. Er war wirklich unheimlich geschickt darin, bizarre Handschriften aufzuspüren.«
»Du hast also schon vor hundertfünfzig Jahren hier in Oxford danach gesucht?«
»Genau«, bestätigte Matthew. »Und hundertfünfzig Jahre, bevor dir Ashmole 782 ausgehändigt wurde, bekam ich die Auskunft, dass es verschollen sei.«
Mein Puls beschleunigte sich, und er sah mich besorgt an. »Erzähl weiter.« Ich wedelte mit der Hand.
»Seither habe ich immer wieder versucht, das Manuskript in die Hände zu bekommen. Jedes andere Manuskript aus Ashmoles Sammlung war vorhanden, aber von keinem erwartete ich mir viel. Ich habe auch in anderen Bibliotheken Handschriften studiert – in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, in der Bibliothèque Nationale in Frankreich, der Medici-Bibliothek in Florenz, im Vatikan, in der Library of Congress in Washington.«
Blinzelnd versuchte ich mir vorzustellen, wie ein Vampir durch die Hallen des Vatikan wanderte.
»Die einzige Handschrift, die ich nicht in die Hand bekam, war Ashmole 782. Nachdem ich alle anderen Möglichkeiten eliminiert habe, muss es sich dabei wohl um das Manuskript handeln, das unsere Geschichte enthält – falls es überlebt hat.«
»Du hast mehr alchemistische Handschriften studiert als ich.«
»Vielleicht«, gab Matthew zu, »aber das heißt nicht, dass ich sie so gut verstanden habe wie du. Allerdings hatten alle Handschriften, die ich gesehen habe, eines gemeinsam – die absolute Gewissheit, dass die Alchemisten eine Substanz in eine andere überführen und dadurch neue Lebensformen erschaffen können.«
»Das hört sich nach Evolution an«, bemerkte ich tonlos.
»Ja«, antwortete Matthew freundlich. »Ganz genau.«
Wir gingen zu den Sofas, und ich rollte mich am Ende des einen Sofas ein, während Matthew in einer Ecke des anderen lagerte und die langen Beine von sich streckte. Praktischerweise hatte er den Wein mitgenommen. Nachdem wir es uns gemütlich gemacht hatten, drängte es mich, das Gespräch fortzusetzen.
»Letzte Woche bin ich bei Blackwell’s einer Dämonin begegnet, Agatha Wilson. Dem Internet zufolge ist sie eine berühmte Designerin. Agatha erzählte, die Dämonen würden glauben, dass es in Ashmole 782 um den Ursprung aller Arten geht – dem der Menschen eingeschlossen. Peter Knox erzählte mir eine andere Geschichte. Er meinte, es handle sich dabei um das erste Zauberbuch überhaupt, die Quelle aller Hexenkräfte. Knox glaubt, dass die Handschrift das Geheimnis der Unsterblichkeit enthält«, ich sah Matthew an, »und dass es erklärt, wie man Vampire vernichten kann. Damit kenne ich die Versionen der Dämonen und Hexen – und jetzt will ich deine hören.«
»Wir Vampire glauben, dass die verlorene Handschrift erklärt, woher wir unsere Langlebigkeit und Kraft beziehen«, sagte er. »Manche fürchten, dass bei unserer Entstehung Magie im Spiel gewesen sein könnte und dass die Hexen eine Methode finden könnten, diese Magie gegen uns zu wenden und uns zu vernichten. So wie es aussieht, könnte dieser Teil der Legende wahr sein.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum du so sicher bist, dass dieses Werk über den Ursprung – was es auch enthalten mag – in einem alchemistischen Buch verborgen ist.«
»Ein alchemistisches Buch könnte diese Geheimnisse vor aller Augen verbergen – so wie Peter Knox seine Identität als Hexer unter dem Mantel des Okkultismusexperten verbirgt. Ich glaube, es waren Vampire, die als Erste erfuhren, dass sich das Buch mit Alchemie befasst. Das passt zu gut, als dass es Zufall sein kann. Als die menschlichen Alchemisten über den Stein der Weisen schrieben, schienen sie gleichzeitig über Vampire zu schreiben. Wenn wir zum Vampir werden, werden wir beinahe unsterblich, wir werden fast alle reich, und wir bekommen die Möglichkeit, unvorstellbar viel Wissen und Erfahrung anzusammeln.«
»Das ist der Stein der Weisen, stimmt.« Die Parallelen zwischen dieser mystischen Substanz und dem Wesen, das mir gegenübersaß, waren unbestreitbar – und beängstigend. »Trotzdem kann man sich kaum vorstellen, dass so ein Buch wirklich existiert. Zum einen widersprechen sich die verschiedenen Geschichten. Und wer wäre so verrückt, so viele Informationen an einem einzigen Fleck zu speichern?«
»Genau wie bei den Legenden über Hexen und Vampire steckt auch in den vielen Geschichten über das Manuskript ein Körnchen Wahrheit. Wir müssen nur überlegen, worin dieses Körnchen bestehen könnte, und den Rest aussieben. Dann werden wir verstehen.«
Nichts in Matthews Miene ließ erkennen, dass er mich benutzen oder im Dunkeln tappen lassen wollte. Ermutigt von dem »Wir« in seiner Bemerkung beschloss ich, dass er noch mehr Informationen verdient hatte.
»Mit Ashmole 782 liegst du ganz richtig. Das Buch, das du suchst, steckt darin.«
»Erzähl weiter.« Matthew bemühte sich, seine Neugier zu zügeln.
»Oberflächlich betrachtet handelt es sich um ein alchemistisches Manuskript. Die Bilder enthalten Fehler oder bewusst falsche Darstellungen – ich weiß noch nicht genau.« Konzentriert nagte ich an meiner Unterlippe, und sein Blick wurde magisch von der kleinen Stelle angezogen, an der meine Zähne eine winzige Blutperle austreten ließen.
»Was meinst du mit ›oberflächlich betrachtet handelt es sich dabei um ein alchemistisches Manuskript‹?« Matthew hielt sich das Glas unter die Nase.
»Es ist ein Palimpsest. Aber die Tinte wurde nicht ausgewaschen. Der Text liegt unter einem Zauber verborgen. Ich hätte die Worte beinahe übersehen, so gut sind sie versteckt. Aber beim Umblättern fiel das Licht im richtigen Winkel auf das Pergament, und ich konnte erkennen, wie sich die Schrift darunter bewegt.«
»Konntest du etwas lesen?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Falls Ashmole 782 tatsächlich Informationen darüber enthält, wer wir sind, wie wir entstanden sind und wie wir vernichtet werden könnten, dann wurden sie gut verborgen.«
»Meinetwegen können sie gern verborgen bleiben«, erklärte Matthew grimmig. »Wenigstens vorerst. Allerdings dauert es nicht mehr lange, bis wir dieses Buch brauchen werden.«
»Warum? Warum sollten wir es ausgerechnet jetzt brauchen?«
»Das würde ich dir lieber zeigen als erklären. Kannst du morgen in mein Labor kommen?«
Ich nickte verwundert.
»Wir könnten nach dem Mittagessen hingehen.« Er stand auf und streckte sich. Über unserem Gespräch hatten wir die ganze Flasche geleert. »Es ist schon spät. Ich sollte jetzt gehen.«
Matthew griff nach dem Türknauf und drehte ihn. Er klapperte, und sofort sprang der Riegel zurück.
Er stutzte. »Hattest du Probleme mit deinem Schloss?«
»Nein«, sagte ich und schob den Riegel mehrmals vor und zurück. »Nicht dass ich wüsste.«
»Du solltest das Schloss von jemandem anschauen lassen«, sagte er und rüttelte wieder an dem Knauf. »Sonst schließt es vielleicht nicht richtig.«
Als ich von dem Schloss aufsah, zuckte eine nicht zu benennende Emotion über sein Gesicht.
»Wie schade, dass der Abend so ernst endete«, sagte er sanft. »Ich fand es nämlich sehr nett bei dir.«
»War das Essen wirklich okay für dich?«, fragte ich. Wir hatten uns über die Geheimnisse des Universums unterhalten, aber im Moment machte ich mir vor allem Sorgen, ob sein Magen rebellieren würde.
»Es war besser als okay«, versicherte er mir.
Ich blickte in sein wunderbares, uraltes Antlitz und merkte, wie sich mein Gesicht entspannte. Wie konnte jemand auf der Straße an ihm vorbeigehen, ohne sich nach ihm umzudrehen? Ehe ich mich’s versah, hatten sich meine Zehen in den alten Teppich gebohrt, und ich reckte mich hoch, um ihm einen kurzen Kuss auf die Wange zu geben. Seine Haut fühlte sich glatt und kühl an wie Satin, und meine Lippen wirkten auf seinem Fleisch ungewöhnlich warm.
Warum hast du das gemacht?, fragte ich mich, sobald ich wieder auf den Fersen stand und auf den wackligen Türknauf starrte, um meine Verwirrung zu überspielen.
All das hatte sich innerhalb weniger Sekunden abgespielt, aber wie ich wusste, seit ich die Notes and Queries aus dem Regal in der Bodleian gezaubert hatte, genügten ein paar Sekunden, um ein ganzes Leben umzukrempeln.
Matthew sah mich aufmerksam an. Als ich weder hysterisch wurde, noch um mein Leben zu rennen begann, beugte er sich vor und küsste mich langsam links und rechts auf die Wange wie ein Franzose. Während sein Gesicht über meines strich, inhalierte er tief mein Weidensaft- und Geißblattaroma. Als er sich wieder aufrichtete, wirkte sein Blick verschleiert.
»Gute Nacht, Diana«, sagte er lächelnd.
Im nächsten Moment lehnte ich an der geschlossenen Tür, und mein Blick fiel auf die blinkende Eins an meinem Anrufbeantworter. Zum Glück war das Gerät lautlos geschaltet.
Tante Sarah wollte mir dieselbe Frage stellen, die ich mir auch stellte.
Und ich wollte sie auf keinen Fall beantworten.