35
Nachdem der Abwasch erledigt war, gingen Matthew und ich mit dem Brief meiner Mutter, der mysteriösen Nachricht und der Seite aus Ashmole 782 ins Esszimmer. Dort breiteten wir die Papiere auf dem riesigen, abgewetzten Esstisch aus. Inzwischen wurde der Tisch kaum noch benutzt, denn es war nicht besonders praktisch, zu zweit an den Enden einer Tafel für zwölf Personen zu sitzen. Meine Tanten folgten uns, jeweils einen dampfenden Becher Kaffee in der Hand.
Sarah und Matthew beugten sich über die Seite aus der alchemistischen Handschrift.
»Warum ist die Seite so schwer?« Sarah nahm das Blatt hoch und wog es nachdenklich in der Hand.
»Für mich fühlt es sich nicht ungewöhnlich schwer an«, gestand Matthew und nahm es ihr aus der Hand. »Dafür riecht es eigentümlich, finde ich.«
Sarah schnupperte ausgiebig. »Nein, es riecht einfach alt.«
»Es ist nicht nur das. Wie alt riecht, weiß ich schließlich«, widersprach er ironisch.
Em und ich beschäftigten uns vor allem mit der rätselhaften Nachricht.
»Was soll das wohl bedeuten?«, fragte ich, zog mir einen Stuhl heraus und setzte mich.
»Ich bin mir nicht sicher.« Em zögerte. »Blut steht gewöhnlich für die Familie, den Krieg oder den Tod. Aber was soll Mangel bedeuten? Dass dem Buch diese Seite fehlt? Oder sollten deine Eltern damit gewarnt werden, dass sie nicht erleben würden, wie du aufwächst?«
»Nimm doch mal die letzte Zeile. Haben meine Eltern in Afrika irgendwas gefunden?«
»Oder warst du dieser Hexenfund?«, schlug Em freundlich vor.
»Die letzte Zeile hat bestimmt etwas damit zu tun, dass Diana Ashmole 782 entdeckt hat«, mischte sich Matthew ein und sah dabei kurz von der chemischen Vermählung auf.
»Du glaubst, dass es immer nur um mich und das Manuskript geht«, beschwerte ich mich. »In den Zeilen wird auch das Thema deines Essays für das All Souls College erwähnt – Angst und Verlangen. Findest du das nicht eigenartig?«
»Nicht eigenartiger als die Tatsache, dass die weiße Königin auf diesem Bild mein Wappen trägt.« Matthew brachte mir die Darstellung.
»Sie verkörpert das Quecksilber – das in der Alchemie für das Prinzip der Flüchtigkeit steht«, erklärte ich ihm.
»Quecksilber?« Matthew schmunzelte. »Ein metallisches Perpetuum mobile?«
»Könnte man so sagen.« Ich lächelte ebenfalls, weil ich an den Ball voll Lebensenergie denken musste, den ich ihm gegeben hatte.
»Was ist mit dem roten König?«
»Er ist stabil und geerdet.« Ich zog die Stirn in Falten. »Aber eigentlich sollte er die Sonne darstellen, und die wird nicht in Rot und Schwarz abgebildet. Normalerweise ist er nur rot.«
»Also soll der König vielleicht gar nicht mich und die Königin nicht dich zeigen.« Er berührte das bleiche Königinnengesicht mit der Fingerspitze.
»Vielleicht«, sagte ich langsam, weil mir eben eine Passage aus Matthews Aurora-Handschrift eingefallen war. »Wendet euch mir zu, ihr Menschen, und hört mich an, die ihr diese Welt bevölkert: Mein Geliebter, der rot ist, hat mich zu sich gerufen. Er hat mich gesucht und gefunden. Ich bin die Blume des Feldes, die Lilie der Täler. Ich bin die Mutter der wahren Liebe und der Angst und der Erkenntnis und der heiligen Hoffnung.«
»Was ist das?« Jetzt berührte Matthew mein Gesicht. »Es hört sich beinahe biblisch an, aber irgendwie passen die Worte nicht.«
»Es ist eine Passage aus der Aurora Consurgens, in der es um die chemische Vermählung geht.« Unsere Blicke trafen und verbanden sich. Als die Luft schwer wurde, wechselte ich das Thema. »Was meinte mein Vater, als er sagte, wir würden weit reisen müssen, um herauszufinden, was das Bild zu bedeuten hat?«
»Die Briefmarke war aus Israel. Vielleicht meinte Stephen, dass wir dorthin zurückkehren müssten.«
»In der Hebräischen Universität in Jerusalem lagern zahllose alchemistische Handschriften. Die meisten davon gehörten Isaac Newton.« Nachdem ich wusste, welche Geschichte Matthew und die Lazarusritter mit diesem Ort verband, war ich nicht allzu scharf darauf, nach Jerusalem zu reisen.
»Nach Israel zu fliegen war für deinen Vater keine weite Reise«, meinte Sarah und setzte sich uns gegenüber. Em ging um den Tisch herum und nahm neben ihr Platz.
»Und was war eine weite Reise?« Matthew griff nach dem Brief meiner Mutter und suchte auf der letzten Seite nach weiteren Anhaltspunkten.
»Das australische Outback. Wyoming. Mali. Dort ging er am liebsten auf Zeitwanderung.«
Das Wort traf mich genauso wie wenige Tage zuvor der Begriff Bannfluch. Ich wusste, dass einige Hexen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hin- und herwechseln konnten, aber ich war nie auf den Gedanken gekommen zu fragen, ob jemand in meiner Familie über diese Fähigkeit verfügt hatte. Sie war selten – fast so selten wie das Hexenfeuer.
»Stephen Proctor konnte durch die Zeit reisen?« Matthew klang so betont neutral wie immer, wenn er sich über Magie unterhielt.
Sarah nickte. »Genau. Mindestens einmal im Jahr reiste Stephen in die Vergangenheit oder Zukunft, meistens nach der jährlichen Anthropologentagung in Denver.«
»Auf der Rückseite von Rebeccas Brief steht noch etwas.« Em verdrehte den Hals, um unter das Blatt sehen zu können.
Matthew drehte es schnell um. »Ich habe die Seite fallen lassen, weil ich dich nach draußen bringen wollte, bevor die Hexenflut einsetzte. Dabei habe ich das völlig übersehen. Es ist nicht in der Handschrift deiner Mutter«, stellte er fest und reichte mir das Blatt.
Die mit Bleistift geschriebenen Buchstaben zeichneten sich durch lange Schlaufen und hohe Spitzen aus. »Vergiss nicht, Diana: Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.« Irgendwo hatte ich diese Handschrift schon einmal gesehen. In den Tiefen meiner Erinnerung blätterte ich zahllose Bilder durch, um ihre Quelle zu finden, aber ich konnte sie nicht einordnen.
»Wer sollte hinten auf Moms Brief ein Einstein-Zitat schreiben?«, fragte ich Sarah und Em und hielt ihnen das Blatt hin.
»Das sieht nach deinem Dad aus. Er nahm damals Kalligrafiestunden. Rebecca hat ihn die ganze Zeit damit aufgezogen. Seine Handschrift sah hinterher so unglaublich altmodisch aus.«
Langsam drehte ich das Blatt zu mir herum und betrachtete die Handschrift von Neuem. Vom Stil her sah sie tatsächlich aus wie aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie ähnelte den handschriftlichen Einträgen der Bibliothekare, die während der Regierungszeit von Königin Victoria die Kataloge in der Bodleian Library zusammengestellt hatten. Ich versteifte mich, sah mir die Schrift genauer an und schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist nicht möglich.« Auf gar keinen Fall hatte mein Vater einer dieser Angestellten sein können, auf keinen Fall hatte er im neunzehnten Jahrhundert Ashmole 782 um einen Untertitel ergänzen können.
Andererseits konnte mein Vater durch die Zeit wandeln. Und das Einstein-Zitat war unzweifelhaft an mich gerichtet. Ich legte das Blatt auf den Tisch zurück und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Matthew setzte sich neben mich und wartete ab. Als Sarah ungeduldig brummte, brachte er sie mit einer scharfen Geste zum Schweigen. Nach einer Weile drehte sich nicht mehr alles in meinem Kopf, und ich begann zu sprechen.
»Auf der ersten Seite des Manuskripts waren zwei Vermerke. Der eine in Tinte war von Elias Ashmole geschrieben: Anthropologia, oder ein Traktatum über den Menschen. Der zweite war in einer anderen Handschrift und mit Bleistift geschrieben: in zwei Teilen: zum Ersten anatomischer Natur, zum Zweiten psychologischer Natur.«
»Der zweite Vermerk muss später hinzugefügt worden sein«, bemerkte Matthew. »Zu Ashmoles Zeit gab es so etwas wie Psychologie noch nicht.«
»Ich dachte damals, dass er aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt.« Ich zog die Notiz meines Vaters zu mir her. »Aber jetzt könnte ich mir vorstellen, dass mein Vater das geschrieben hat.«
Im Raum wurde es still.
»Berühr die Wörter«, schlug Sarah schließlich vor. »Sieh nach, was sie dir sonst noch verraten.«
Meine Finger wanderten leicht über die Bleistiftbuchstaben. Über der Seite erblühten Bilder, in denen sich mein Vater in einem dunklen Frack mit breiten Aufschlägen und einer hoch sitzenden schwarzen Schleife über einem mit Büchern bedeckten Schreibtisch beugte. Ihnen folgten andere Szenen, in denen er in seiner vertrauten Cordjacke in seinem Arbeitszimmer saß und mit einem Bleistift der Stärke 2 ein paar Zeilen schrieb, während meine Mutter ihm weinend über die Schulter sah.
»Es stammt von ihm.« Meine Finger hoben sich bebend vom Blatt.
Matthew nahm meine Hand. »Damit warst du tapfer genug für einen Tag, ma lionne.«
»Aber dein Vater hat in der Bibliothek nicht die chemische Vermählung aus dem Buch geschnitten«, sinnierte Em. »Was hat er dann dort gewollt?«
»Stephen Proctor hat dort Ashmole 782 verhext, damit niemand außer seiner Tochter es aus dem Archiv abrufen kann.« Matthew klang überzeugt.
»Darum hat der Spruch mich also wiedererkannt. Aber warum hat er nicht genauso reagiert, als ich das Manuskript zum zweiten Mal haben wollte?«
»Weil du es da nicht gebraucht hast. O ja, du wolltest es haben«, erklärte Matthew mit einem leisen Lächeln, als ich protestieren wollte, »aber das ist etwas anderes. Vergiss nicht, deine Eltern haben deine Magie mit einem Bann belegt, damit dich niemand zwingen kann, deine Kräfte einzusetzen. Mit dem Bann, der auf dem Manuskript liegt, verhält es sich nicht anders.«
»Als ich Ashmole 782 das erste Mal abgerufen habe, wollte ich lediglich einen Punkt auf meiner Erledigungsliste abhaken. Ich kann mir kaum vorstellen, dass etwas so Belangloses eine solche Reaktion auslösen kann.«
»Deine Mutter und dein Vater konnten nicht alles vorhersehen – zum Beispiel die Tatsache, dass du dich eines Tages beruflich mit der Geschichte der Alchemie beschäftigen und daher regelmäßig in der Bodleian Library arbeiten würdest. Konnte auch Rebecca durch die Zeit wandern?«, fragte Matthew Sarah.
»Nein. Die Gabe ist höchst selten, und die begabtesten Zeitwanderer sind gewöhnlich auch erfahrene Hexer. Wenn man die richtigen Zaubersprüche und Vorsichtsmaßnahmen nicht kennt, kann man leicht irgendwo enden, wo man lieber nicht sein möchte, ganz egal, über welche magischen Kräfte man verfügt.«
»Ja«, bestätigte Matthew trocken. »Ich wüsste mehr als genug Zeiten und Orte, an denen man lieber nicht landen möchte.«
»Rebecca hat Stephen manchmal begleitet, aber dann musste er sie tragen.« Sarah lächelte Em an. »Erinnerst du dich noch an Wien? Stephen hatte beschlossen, dass er mit ihr Walzer tanzen wollte. Dann brachte er ein ganzes Jahr damit zu, sich zu überlegen, welche Haube sie für die Reise aufsetzen sollte.«
»Um zu verhindern, dass man sich verirrt, braucht man drei Objekte aus der Zeit und von dem Ort, an den man reisen möchte«, erläuterte Em. »Wenn man in die Zukunft reisen will, geht das nur mit Hexerei, weil man anders sofort die Orientierung verliert.«
Sarah griff nach dem Bild der chemischen Vermählung, gerade als interessiere sie sich nicht mehr fürs Zeitwandern. »Wofür steht das Einhorn?«
»Vergiss das Einhorn, Sarah«, sagte ich ungeduldig. »Daddy wollte bestimmt nicht, dass ich in die Vergangenheit reise, um das Manuskript zu holen. Hat er etwa gedacht, ich könnte wie er durch die Zeit wandern und es mir beschaffen, bevor es verhext wurde? Und wenn ich dort zufällig Matthew über den Weg laufen würde? Das würde das Raum-Zeit-Kontinuum ganz schön durcheinanderbringen.«
»Ach, die Relativität«, sagte Sarah abfällig. »Damit lässt sich auch nicht alles erklären.«
»Stephen hat immer behauptet, Zeitwandern sei so, wie am Bahnhof umzusteigen. Du steigst aus einem Zug und wartest am Bahnhof, bis in einem anderen Zug ein Platz frei wird. Wenn du zeitwanderst, verabschiedest du dich aus dem Hier und Jetzt und verharrst außerhalb der Zeit, bis du an einem anderen Zeitpunkt einen Platz für dich findest.«
»Ganz ähnlich wechseln Vampire ihr Leben«, sinnierte Matthew. »Wir verlassen unser altes Leben – indem wir zu sterben vorgeben oder verschwinden oder einfach wegziehen – und suchen uns ein neues. Es ist wirklich erstaunlich, wie leicht man aus einer Heimat, einem Job und einer Familie verschwinden kann.«
»Aber irgendwem fällt doch bestimmt auf, dass der Nachbar, den man letzte Woche noch gegrüßt hat, plötzlich ganz anders aussieht«, protestierte ich.
»Das ist wirklich erstaunlich«, gab Matthew zu. »Aber solange man seine Wahl mit Bedacht trifft, sagt niemand etwas. Ein paar Jahre im Heiligen Land, eine lebensbedrohliche Krankheit, die Wahrscheinlichkeit, ein Erbe zu verlieren – all das bietet Kreaturen wie Menschen einen exzellenten Vorwand, sich blind und taub zu stellen.«
»Na ja, ob es nun möglich ist oder nicht, ich kann jedenfalls nicht zeitwandern. Das stand nicht in meiner DNA-Analyse.«
»Natürlich kannst du zeitwandern. Das hast du schon als Kind gemacht.« Nicht ohne Arroganz tat Sarah Matthews wissenschaftliche Erkenntnisse als Unfug ab. »Zum ersten Mal, als du drei warst. Deine Eltern litten Todesängste, die Polizei rückte aus – es gab ein riesiges Tohuwabohu. Vier Stunden später hast du plötzlich in deinem Hochstuhl in der Küche gesessen und ein Stück Geburtstagstorte gefuttert. Offenbar hattest du Hunger bekommen und warst zu deiner eigenen Geburtstagsfeier zurückgereist. Wenn du danach wieder mal verschwunden warst, haben wir einfach gehofft, dass du in einer anderen Zeit steckst und irgendwann wieder auftauchen würdest. Und du warst oft verschwunden!«
Mein Entsetzen über die Vorstellung, dass ein Kleinkind mutterseelenallein durch die Zeit reiste, wich schnell dem Hochgefühl, dass ich damit die Macht besaß, jede historische Frage aus erster Hand zu beantworten. Meine Laune hellte sich augenblicklich auf.
Matthew hatte diese Verbindung sofort gezogen und wartete geduldig ab, bis ich ihn gedanklich eingeholt hatte. »Ganz gleich, was dein Vater wollte, du wirst nicht ins Jahr 1859 zurückreisen«, erklärte er fest und drehte dabei den Stuhl um, sodass ich ihn ansehen musste. »Du wirst auf keinen Fall an der Zeit herumdoktern. Kapiert?«
Selbst nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich in der Gegenwart bleiben würde, durfte ich von nun an keine Sekunde allein sein. Die drei reichten mich in einer stillschweigenden Choreografie, die eines Broadway-Musicals würdig gewesen wäre, von einem zum anderen weiter. Em begleitete mich nach oben, um nachzusehen, ob noch Handtücher da waren, obwohl ich genau wusste, wo der Wäscheschrank stand. Als ich aus dem Bad kam, lag Matthew auf dem Bett und spielte an seinem Handy herum. Er blieb oben, als ich nach unten ging, um mir eine Tasse Tee zu machen, weil er wusste, dass Sarah und Em mich im Familienzimmer erwarten würden.
Als ich Marthes Dose in der Hand hielt, überfiel mich das schlechte Gewissen, weil ich gestern keinen Tee getrunken und damit mein Versprechen gebrochen hatte. Fest entschlossen, heute eine Tasse zu trinken, füllte ich den Wasserkessel und öffnete die schwarze Blechdose. Sobald ich die Weinraute roch, spürte ich bei der Erinnerung daran, wie Satu mich in die Luft gezogen hatte, einen schmerzhaften Stich. Ich packte den Deckel fester und konzentrierte mich auf die anderen Duftnoten und damit auf die glücklicheren Erinnerungen an Sept-Tours. Ich vermisste die grauen Steinmauern, die Gärten, Marthe, Rakasa – und sogar Ysabeau.
»Woher hast du das, Diana?« Sarah kam in die Küche und deutete auf die Dose.
»Marthe und ich haben ihn gemacht.«
»Die Haushälterin seiner Mutter? Die auch die Medizin für deinen Rücken angerührt hat?«
»Marthe ist Ysabeaus Haushälterin, genau. Vampire haben Namen, genau wie Hexen. Du solltest sie lernen.«
Sarah schniefte. »Ich hätte gedacht, du gehst zum Arzt und holst dir ein Rezept, statt dich auf alte Kräuter zu verlassen.«
»Dr. Fowler verschreibt dir bestimmt etwas, falls du etwas Zuverlässigeres brauchst.« Auch Em war inzwischen in die Küche gekommen. »Nicht mal Sarah hält allzu viel von pflanzlichen Verhütungsmitteln.«
Ich überspielte meine Verwirrung, indem ich einen Teebeutel in die Tasse fallen ließ, und versuchte meinen Geist zu leeren, um mir nichts anmerken zu lassen. »Das reicht schon. Ich muss nicht zu Dr. Fowler gehen.«
»Stimmt. Nicht wenn du mit einem Vampir schläfst. Sie pflanzen sich nicht fort – jedenfalls nicht so, dass man es mit einem Verhütungsmittel verhindern könnte. Du musst nur deinen Hals von seinen Zähnen fernhalten.«
»Ich weiß, Sarah.«
Was gelogen war. Warum hatte Marthe so viel Mühe darauf verwendet, mir beizubringen, wie ich einen völlig unnötigen Tee zusammenstellen konnte? Matthew hatte mir erklärt, dass er keine Kinder zeugen konnte, so wie Warmblüter das taten. Ich brach das Versprechen, das ich Marthe gegeben hatte, kippte die halb geleerte Tasse ins Spülbecken und versenkte den Beutel im Müll. Die Dose wanderte auf das oberste Regalfach, wo ich sie nicht mehr zu sehen brauchte.
Am Spätnachmittag hatten wir uns ausgiebig über die Nachricht, den Brief und das Bild unterhalten, ohne dass wir der Lösung des Rätsels um Ashmole 782 einen Schritt nähergekommen wären oder begriffen hätten, inwiefern mein Vater damit zu tun hatte. Meine Tanten machten sich daran, das Abendessen vorzubereiten, was bedeutete, dass Em ein Hähnchen briet, während Sarah sich ein Glas Bourbon genehmigte und bemängelte, dass so viel Gemüse zubereitet wurde. Matthew tigerte ungewöhnlich ruhelos um die Kücheninsel herum.
»Komm schon«, sagte er und nahm meine Hand. »Du brauchst Bewegung.«
Er brauchte frische Luft, nicht ich, aber die Aussicht, nach draußen zu gehen, war verlockend. Ich durchwühlte den Schrank im Vorraum und förderte meine alten Joggingschuhe zutage. Sie waren zwar ausgelatscht, aber deutlich bequemer als Sarahs Stiefel.
Wir schafften es gerade bis zu den ersten Apfelbäumen, da wirbelte Matthew mich herum und nahm mich zwischen seinem Körper und einem alten, knorrigen Baumstamm gefangen. Die tiefen, weiten Äste schirmten uns gegen das Haus ab.
Obwohl ich in der Falle war, kam kein Hexenwind auf. Dafür meldeten sich jede Menge anderer Gefühle.
»Mein Gott, in diesem Haus hat man keine ruhige Minute«, schnaufte Matthew und presste, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte, seine Lippen auf meine.
Wir hatten praktisch keinen einzigen Augenblick für uns allein gehabt, seit er aus Oxford zurückgekehrt war. Und auch wenn das erst Tage her war, kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Seine Hand schob sich unter den Bund meiner Jeans, und ich spürte seine kühlen Finger auf meinem nackten Fleisch. Ich bekam vor Lust eine Gänsehaut, woraufhin er mich noch enger an sich zog und die andere Hand um die Wölbung meiner Brust schmiegte. Wir pressten unsere Körper von Kopf bis Fuß aneinander, trotzdem suchte er nach immer neuen Wegen, sich mit mir zu verbinden.
Schließlich blieb nur noch eine Möglichkeit. Einen Augenblick glaubte ich schon, dass Matthew sich nicht länger zurückhalten konnte und die Ehe sofort vollziehen würde – im Stehen, im Freien, in einem alles übertosenden Sturm körperlicher Begierde. Doch dann fand er die Beherrschung wieder und löste sich von mir.
»Nicht so«, keuchte er. Seine Augen waren schwarz.
»Mir ist das egal.« Ich zog ihn wieder an mich.
»Mir nicht.« Ich hörte Matthews Vampirseufzen, ein leises, abgehacktes Luftablassen. »Wenn wir uns zum ersten Mal lieben, will ich dich ganz für mich allein haben – ohne dass ständig jemand in unserer Nähe ist. Und ich will mehr als die paar gestohlenen Momente, die uns jetzt bleiben, glaub mir.«
»Ich will dich auch«, sagte ich. »Und ich bin nicht dafür bekannt, dass ich besonders geduldig wäre.«
Seine Lippen hoben sich zu einem Lächeln, dann hörte ich ein leises wollüstiges Brummen.
Matthew strich mit dem Daumen über die Vertiefung an meinem Halsansatz, und mein Blut begann zu sieden. Er legte seine Lippen auf die Stelle, an der eben noch sein Daumen gewesen war, und drückte sie sanft gegen das Lebenszeichen, das unter der Oberfläche pulsierte. Dann wanderten seine Lippen über einer Ader an meinem Hals aufwärts bis zu meinem Ohr.
»Ich könnte mich ewig damit beschäftigen, wo du gern berührt wirst. Hier zum Beispiel.« Matthew küsste mich hinters Ohr. »Und hier.« Seine Lippen strichen über meine Lider, und mir entkam ein leiser Laut. »Und hier.« Sein Daumen strich über meine Unterlippe.
»Matthew«, flüsterte ich mit flehendem Blick.
»Was ist, mon cœur?« Fasziniert beobachtete er, wie unter seiner Berührung das Blut durch meine Adern schoss.
Ich antwortete nicht, sondern zog ihn an mich, ohne mich um die Kälte, die Dunkelheit oder die raue Borke an meinem wunden Rücken zu scheren. So blieben wir stehen, bis Sarah uns von der Veranda aus rief.
»Ihr seid ja nicht besonders weit gekommen.« Ihr Schnauben war über das ganze Feld zu hören. »Das zählt wohl kaum als Spaziergang.«
Schuldbewusst wie ein Schulmädchen, das beim Knutschen in der Einfahrt erwischt wird, zog ich meinen Pullover nach unten und machte mich auf den Weg zum Haus. Matthew folgte mir leise lachend.
»Du siehst ja ungeheuer zufrieden aus«, stellte Sarah fest, als er in die Küche trat. So im hellen Lampenschein wirkte er durch und durch wie ein Vampir – und ein höchst selbstzufriedener dazu. Aber sein Blick war wesentlich ruhiger als vorher, und dafür war ich dankbar.
»Lass ihn«, fuhr Emily ungewöhnlich scharf dazwischen. Sie reichte mir den Salat und schickte mich damit an den Tisch im Familienzimmer, an dem wir gewöhnlich aßen. »Oft genug haben wir selbst unter dem Apfelbaum gestanden, als Diana noch klein war.«
»Hmpf«, machte Sarah. Sie nahm drei Weingläser und schwenkte sie in Matthews Richtung. »Hast du noch Wein übrig, Casanova?«
»Ich bin Franzose, Sarah, kein Italiener. Und ich bin ein Vampir. Ich habe immer Wein bei mir«, erwiderte Matthew mit spitzbübischem Lächeln. »Keine Angst, er wird uns bestimmt nicht ausgehen. Marcus bringt noch mehr mit. Er ist zwar kein Franzose – und leider auch kein Italiener –, aber seine Erziehung macht das wett.«
Wir setzten uns um den Tisch, und drei Hexen machten sich über Ems Brathähnchen mit Kartoffeln her. Tabitha setzte sich neben Matthews Stuhl und strich alle paar Sekunden flirtend mit dem Schwanz über seine Füße. Er achtete darauf, dass Sarahs Glas nicht leer wurde, und auch ich trank ein paar Schlucke Wein. Em fragte mehrmals, ob er etwas probieren wollte, aber Matthew lehnte jedes Mal ab.
»Ich bin nicht hungrig, Emily, aber vielen Dank.«
»Gibt es überhaupt etwas, das du essen würdest?« Em war es nicht gewohnt, dass jemand ihr Essen verweigerte.
»Nüsse«, verkündete ich. »Wenn du ihm um jeden Preis etwas zu essen besorgen willst, dann kauf ihm Nüsse.«
Em zögerte. »Und was ist mit rohem Fleisch?«
Bevor ich darauf antworten konnte, nahm Matthew meine Hand und drückte sie. »Wenn du mir etwas zu essen geben möchtest, dann am liebsten rohes Fleisch. Brühe mag ich übrigens auch – reine Brühe ohne Gemüse.«
»Essen das dein Sohn und deine Kollegin auch, oder sind das einfach nur deine Lieblingsspeisen?«
Jetzt ging mir auf, warum Matthew so ungeduldig reagiert hatte, als ich ihn nach seiner Lebensweise und seinen Essgewohnheiten gefragt hatte.
»Das essen wir Vampire meistens, wenn wir uns unter Warmblütern aufhalten.« Matthew gab meine Hand frei und schenkte sich noch mehr Wein ein.
»Wenn du Wein und Nüsse magst, gehst du bestimmt gern in Bars«, sagte Sarah ernst.
Em legte ihre Gabel ab und starrte sie an.
»Was ist?«, wollte Sarah wissen.
»Sarah Bishop, wenn du uns vor Matthews Sohn blamierst, werde ich dir das nie verzeihen.«
Mein Kichern steigerte sich schnell zu einem ausgewachsenen Lachanfall. Sarah stimmte als Erste mit ein, gefolgt von Em. Matthew saß lächelnd daneben, als hielte er uns für irre, sei aber zu höflich, um das auszusprechen.
Als wir uns wieder gefasst hatten, wandte er sich an Sarah. »Ich habe mich gefragt, ob ihr mir euer Kräuterlabor überlassen könntet, damit ich die Pigmente in dem Bild der chemischen Vermählung analysieren kann. Vielleicht finden wir dadurch heraus, wann und wo es gemalt wurde.«
»Du wirst auf keinen Fall irgendetwas von dem Bild entfernen.« Der Historikerin in mir graute vor diesem Gedanken.
»Es wird nicht beschädigt«, versicherte mir Matthew nachsichtig. »Ich weiß sehr wohl, wie man winzigste Beweisstücke analysiert.«
»Nein! Wir sollten es in Ruhe lassen, bis wir wissen, womit wir es zu tun haben.«
»Stell dich nicht so an, Diana. Außerdem ist es dafür ein bisschen spät, schließlich hast du das Buch damals zurückgegeben.« Sarah stand auf, und ihre Augen leuchteten. »Mal sehen, ob uns das Kochbuch helfen kann.«
»So, so«, kommentierte Em halblaut. »Jetzt gehörst du wirklich zur Familie, Matthew.«
Sarah verschwand in die Rezeptur und kehrte mit einem ledergebundenen Folianten in der Größe einer Familienbibel zurück. Zwischen diesen Buchdeckeln, seit beinahe vierhundert Jahren von Hexe zu Hexe weitergegeben, waren die gesammelten Erfahrungen und alle Familiensagen der Bishops zu finden. Der erste Name im Buch lautete Rebecca, und daneben stand in zierlicher, weiblicher Schrift die Jahreszahl 1617. Darunter folgten zwei Spalten mit weiteren Namen, jeder in leicht veränderter Handschrift und mit einem anderen Datum versehen. Die Namensliste setzte sich auf der Rückseite fort und bestand größtenteils aus Susannahs, Elizabeths, Margarets, Rebeccas und Sarahs. Meine Tante zeigte dieses Buch niemandem – nicht einmal anderen Hexen. Man musste zur Familie gehören, damit sie ihr Kochbuch herausholte.
»Was ist das, Sarah?« Matthews Nasenflügel sogen bebend den Geruch von altem Papier, Kräutern und Rauch auf, der von den Seiten aufstieg, sobald meine Tante das Buch öffnete.
»Das Zauberbuch der Bishops.« Sie deutete auf den ersten Namen. »Ursprünglich gehörte es Rebecca Davis, Bridget Bishops Großmutter, und dann Bridgets Mutter Rebecca Playfer. Bridget sollte das Buch später weitergeben an ihre älteste und uneheliche Tochter, die 1650 in England geboren wurde. Bridget war damals noch ein junges Mädchen und taufte ihre Tochter nach ihrer Mutter und Großmutter. Weil sie nicht für das Kind sorgen konnte, gab Bridget das Mädchen an eine Londoner Familie ab.« Sarah schnaubte leise. »Bis an ihr Lebensende hatte sie deswegen einen schlechten Ruf. Später kehrte ihre Tochter Rebecca zu ihr zurück und arbeitete in der Taverne ihrer Mutter. Bridget war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet und hatte eine weitere Tochter namens Christiane.«
»Und du stammst von dieser Christiane Bishop ab?«, fragte Matthew.
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind Rebeccas Nachkommen. Nachdem Bridget hingerichtet worden war, änderte Rebecca ihren Namen rechtmäßig in Bishop. Rebecca war Witwe, weshalb kein Ehemann Widerspruch einlegen konnte. Es war ein Akt des Trotzes.«
Matthew sah mich eingehend an. Trotz, schien er sagen zu wollen, ist eindeutig ein Charakterzug dieser Familie.
»Niemand heute kennt die Namen, die Bridget Bishop annahm – sie war dreimal verheiratet«, fuhr Sarah fort. »Alle kennen nur noch den Namen, den sie trug, als sie der Hexerei für schuldig befunden und hingerichtet wurde. Seither haben die Frauen in unserer Familie grundsätzlich den Namen Bishop angenommen, ganz egal, wen sie heirateten oder wer ihr Vater war.«
»Ich hatte kurz nach Bridgets Tod über ihre Hinrichtung gelesen«, erklärte Matthew leise. »Das war ein düsteres Zeitalter für alle nichtmenschlichen Geschöpfe. Obwohl die neu entstandenen Naturwissenschaften die Welt von allen Mysterien zu entzaubern schienen, waren die Menschen immer noch überzeugt, dass um sie herum unsichtbare Kräfte walteten. Womit sie natürlich ganz recht hatten.«
»Ganz genau. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Wissenschaft versprach, und dem, was die Menschen aus Erfahrung wussten, brachte Hunderten von Hexen den Tod.« Sarah begann in den Seiten des Zauberbuches zu blättern.
»Wonach suchst du?« Ich runzelte die Stirn. »Hat eine unserer Vorfahrinnen etwa Manuskripte konserviert? Falls nicht, wirst du in diesem Sprüchebuch kaum etwas finden.«
»Du hast ja keine Ahnung, was in diesem Sprüchebuch alles steht, Miss«, belehrte Sarah mich fröhlich. »Du hast nie einen Funken Interesse dafür gezeigt.«
Meine Lippen verschmolzen zu einem dünnen Strich. »Niemand wird dieses Manuskript beschädigen.«
»Aha, da haben wir es schon.« Sarah deutete triumphierend auf das Zauberbuch. »Einer von Margaret Bishops Zaubersprüchen aus den achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts. Sie war eine wirklich mächtige Hexe. Meine Methode, Verborgenes in Papier oder Stoffen sichtbar zu machen. Damit werden wir anfangen.« Sie stand auf, einen Finger auf die Stelle haltend.
»Wenn du auch nur einen Fleck …«, setzte ich an.
»Ich habe dich schon die ersten beiden Male gehört, Diana. Mit diesem Zauberspruch werden Dunstschwaden erzeugt. Nichts als Luft wird dein kostbares Manuskript berühren. Hör auf, so einen Aufstand zu machen.«
»Ich gehe es holen«, erbot Matthew sich hastig. Ich warf ihm einen Killerblick zu.
Nachdem er aus dem Esszimmer zurückgekommen war, das Bild behutsam auf beiden Händen tragend, verschwanden er und Sarah gemeinsam in der Rezeptur. Meine Tante redete wie ein Wasserfall, während Matthew gespannt lauschte.
»Wer hätte das gedacht?«, meinte Em kopfschüttelnd.
Em und ich erledigten den Abwasch und waren gerade dabei, das Familienzimmer aufzuräumen, wo es aussah wie nach einem Einbruch, als zwei Scheinwerfer über die Zufahrt schwenkten.
»Da kommen sie.« Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Das wird schon werden, Schätzchen. Sie sind Matthews Verwandte.« Em drückte mir aufmunternd den Arm.
Bis ich an der Haustür war, hatten Marcus und Miriam die Wagentüren bereits hinter sich zugeschlagen. Miriam wirkte in ihrem dünnen braunen Pullover mit den hochgekrempelten Ärmeln, ihrem Minirock und den knöchelhohen Stiefeln steif und fehl am Platz, und jetzt tastete sie auch noch mit gespielter Fassungslosigkeit das Haus und die Umgebung ab. Marcus, in einem kurzärmligen T-Shirt von einer Konzerttour 1982 und in Jeans, begutachtete wohlwollend die Bauweise des Hauses und atmete tief die Landluft ein – die zweifellos hauptsächlich nach Hexen und Kaffee roch.
Als die Tür aufging, sahen mich Marcus’ blaue Augen funkelnd an. »Hi, Mom, wir sind zu Hause!«
»Hat er es dir erzählt?« Ich war wütend auf Matthew, weil er sich offenbar meinem Wunsch widersetzt hatte.
»Was erzählt?« Marcus zog verwirrt die Stirn in Falten.
»Nichts, nichts«, murmelte ich. »Hallo, Marcus. Hallo, Miriam.«
»Diana.« Miriams fein geschnittenes Gesicht wirkte wie üblich verdrossen.
»Nettes Haus.« Marcus kam die Verandastufen herauf. Er hielt eine braune Flasche in den Fingern. Unter der Verandalampe begannen seine goldenen Haare und die elfenbeinweiße Haut zu schimmern.
»Willkommen. Kommt doch herein.« Ich zog ihn eilig ins Haus und hoffte, dass niemand im Vorbeifahren den Vampir auf dem Treppenabsatz bemerkt hatte.
»Wie geht es dir, Diana?« Besorgt sah er mich an, und seine Nasenflügel bebten, als er meinen Duft aufnahm. Matthew hatte ihm von La Pierre erzählt.
»Es geht mir gut.« Oben schlug eine Tür zu. »Schluss damit! Und es ist mir ernst!«
»Womit denn?« Miriam blieb wie angewurzelt stehen, und die glatten schwarzen Locken ringelten sich wie Schlangen auf ihrer Schulter.
»Nichts. Macht euch keine Sorgen.« Jetzt, wo beide Vampire sicher im Haus standen, seufzten die alten Wände auf.
»Nichts?« Miriam hatte das Seufzen ebenfalls gehört und zog die Brauen hoch.
»Das Haus ist immer ein bisschen nervös, wenn Besuch kommt, das ist alles.«
Miriam sah die Treppe hinauf und schnupperte. »Wie viele Bewohner hat das Haus?«
Das war eine simple Frage, auf die es keine simple Antwort gab.
»Schwer zu sagen«, antwortete ich knapp und wuchtete eine Reisetasche zur Treppe hin. »Was habt ihr denn da drin?«
»Das ist Miriams Tasche. Lass mich.« Marcus hob sie problemlos mit dem Zeigefinger an.
Wir gingen nach oben, wo ich den beiden ihre Zimmer zeigte. Em hatte Matthew geradeheraus gefragt, ob die beiden in einem Bett schlafen würden. Erst hatte er sie entsetzt angesehen, so ungehörig erschien ihm diese Frage, dann hatte er laut losgelacht und ihr versichert, dass die beiden unbedingt getrennt schlafen müssten, sonst hätten wir am nächsten Morgen einen toten Vampir im Haus. Den ganzen Tag über hatte er immer wieder in sich hineingelacht und gemurmelt: »Marcus und Miriam. Was für eine Vorstellung.«
Marcus sollte im Gästezimmer übernachten, in dem früher Em gewohnt hatte, und Miriam hatten wir in meinem alten Zimmer unter dem Dach einquartiert. Auf beiden Betten lagen flauschige Handtücher bereit, und ich zeigte jedem, wo sich das nächste Bad befand. Eigentlich war es wirklich einfach, einen Vampir zu beherbergen – man musste ihnen nichts zu essen anbieten, sie wollten sich nicht hinlegen, sie brauchten praktisch nichts, was ihnen das Leben angenehmer machte. Zum Glück hatte es keine Erscheinungen gegeben, und es waren auch keine Verputzstücke auf uns herabgeregnet, sodass eigentlich nichts darauf hindeutete, dass das Haus sie nicht aufnehmen wollte.
Auch wenn Matthew mit Sicherheit mitbekommen hatte, dass sein Sohn und Miriam eingetroffen waren, lag die Rezeptur so abgelegen, dass Sarah wahrscheinlich immer noch ahnungslos war. Als ich die beiden Vampire an der Wohnstube vorbeiführte, schielte Elizabeth mit Eulenaugen hinter der Tür hervor.
»Geh Großmutter suchen.« Ich drehte mich zu Marcus und Miriam um. »Entschuldigt, aber wir haben Geister.«
Marcus überspielte sein Lachen mit einem Husten. »Leben alle eure Vorfahren bei euch?«
Ich dachte kurz an meine Eltern und schüttelte schweigend den Kopf.
»Wirklich schade«, murmelte er.
Em erwartete uns mit einem breiten, freundlichen Lächeln im Familienzimmer. »Du bist bestimmt Marcus«, sagte sie, stand auf und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Emily Mather.«
»Em, das ist Matthews Kollegin Miriam Shephard.«
Miriam trat vor. Beide Frauen waren feingliedrig, doch neben Em nahm sich Miriam aus wie ein Porzellanpüppchen.
»Willkommen, Miriam.« Em sah lächelnd auf sie hinab. »Möchte einer von Ihnen etwas zu trinken? Matthew hat eine Flasche Wein geöffnet.« Sie benahm sich völlig ungezwungen, so als würde sie jeden Tag Vampirbesuch bekommen. Miriam wie Marcus schüttelten den Kopf.
»Wo ist Matthew?«, fragte Miriam und stellte damit ihre Prioritäten klar. Ihre geschärften Sinne registrierten die neue Umgebung in allen Einzelheiten. »Ich kann ihn hören.«
Wir führten die beiden Vampire zu der alten Holztür, die in Sarahs privates Heiligtum führte. Marcus und Miriam nahmen dabei weiterhin alle Aromen im Haus der Bishops auf – die Gerüche von Essen, Hexen, Kaffee und Katze. Und schon kam Tabitha kreischend aus dem dunklen Winkel neben dem Kamin gesprungen und stürzte sich auf Miriam, als wären die beiden Todfeinde.
Miriam zischte, und Tabitha erstarrte in der Bewegung. Die beiden maßen einander wie zwei Raubtiere in freier Wildbahn. Tabitha wandte als Erste den Kopf ab und begann nach mehreren endlosen Sekunden, sich ausgiebig zu putzen.
»Das ist Tabitha«, erklärte ich kleinlaut. »Sie hat Matthew ausgesprochen gern.«
In der Rezeptur beugten sich Matthew und Sarah gerade mit entrückten Mienen über einen Topf, der auf einer uralten elektrischen Kochplatte stand. Getrocknete Kräuter hingen in Bündeln von den Deckenbalken, und die uralten Öfen aus der Kolonialzeit standen einsatzbereit Spalier, als würden sie mit ihren Eisenhaken und Kränen nur darauf warten, schwere Kessel über den Kohlen zu halten.
»Der Augentrost ist entscheidend«, erläuterte Sarah eben im Tonfall einer Grundschullehrerin. »Der klart die Sicht auf.«
»Riecht ja schrecklich«, Miriam näherte sich den beiden naserümpfend.
Matthews Gesicht verdüsterte sich.
»Matthew«, begrüßte Marcus ihn gleichmütig.
»Marcus«, erwiderte sein Vater.
Sarah richtete sich auf und begutachtete die neuesten Mitglieder des Haushaltes, die beide von innen zu leuchten schienen. Das gedämpfte Licht in der Rezeptur hob ihre unnatürliche Blässe und die überraschende Wirkung der unnatürlich geweiteten Pupillen noch hervor. »Die Göttin steh uns bei, aber wie kann euch irgendwer für Menschen halten?«
»Das war mir auch immer ein Rätsel«, sagte Miriam und studierte Sarah ebenso eingehend. »Andererseits sind diese roten Haare und der Bilsenkrautgeruch, den Sie ausströmen, auch nicht gerade unauffällig. Ich bin Miriam Shephard.«
Matthew und ich tauschten einen tiefen Blick und fragten uns wortlos, wie es Mariam und Sarah unter einem Dach aushalten sollten.
»Willkommen im Haus der Bishops, Miriam.« Sarahs Augen wurden schmal, und Miriam reagierte genauso. Dann sah meine Tante Marcus an. »Du bist also sein Kind.« Wie üblich war sie zu ungeduldig, um sich um irgendwelche Umgangsformen zu scheren.
»Ich bin Matthews Sohn, genau.« Marcus sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen, und streckte ihr langsam eine braune Flasche entgegen. »Ihre Namensvetterin war ebenfalls eine Heilerin. Nach der Schlacht von Bunker Hill brachte Sarah Bishop mir bei, wie man ein gebrochenes Bein schient. Ich mache es immer noch so, wie sie es mir gezeigt hat.«
Zwei in Lumpen gehüllte Füße baumelten über den Rand des Rezepturregals. Hoffen wir, dass er inzwischen stärker ist als damals, sagte eine Frau, die Sarah wie aus dem Gesicht geschnitten aussah.
»Whisky«, stellte Sarah fest und sah anerkennend von der Flasche auf meinen Sohn.
»Sie trank gern Branntwein. Ich dachte, du könntest ihr da ähnlich sein.«
Beide Sarah Bishops nickten.
»Richtig gedacht«, sagte meine Tante.
»Wie geht es mit dem Trank voran?«, fragte ich und bemühte mich, in der stickigen Luft nicht zu niesen.
»Der muss noch neun Stunden ziehen«, sagte Sarah. »Danach kochen wir ihn noch einmal auf, ziehen das Manuskript durch den Dampf und sehen dann, ob es was zu sehen gibt.« Sie beäugte den Whisky.
»Dann machen wir doch erst mal Pause. Ich könnte dir den öffnen.« Matthew deutete auf die Flasche.
»Ehe ich mich schlagen lasse.« Sie nahm Marcus die Flasche aus der Hand. »Vielen Dank.«
Sarah drehte den Brenner aus und setzte einen Deckel auf den Topf, dann wanderten wir alle zurück in die Küche. Matthew schenkte sich etwas Wein ein, bot Miriam und Marcus ebenfalls ein Glas an, das beide ablehnten, und brachte Sarah einen Whisky. Ich machte mir Tee – schlichten Lipton’s aus dem Supermarkt –, während Matthew die Vampire nach ihrer Reise und den Fortschritten im Labor befragte.
Matthew klang eisig, und er schien nicht besonders erfreut über die Ankunft seines Sohnes. Marcus wusste, dass er nicht willkommen war, und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. In der Hoffnung, die gespannte Stimmung aufzulockern, schlug ich vor, ins Familienzimmer zu gehen und uns dort hinzusetzen.
»Lasst uns lieber ins Esszimmer gehen.« Sarah prostete ihrem charmanten Großneffen zu. »Wir zeigen ihnen den Brief. Geh Dianas Bild holen, Matthew. Das sollten sie auch sehen.«
»Marcus und Miriam bleiben nicht lange«, sagte Matthew mit leisem Tadel. »Sie haben Diana etwas mitzuteilen, danach kehren sie nach England zurück.«
»Aber sie gehören zur Familie«, merkte Sarah an, als würde sie als Einzige die Anspannung im Raum nicht spüren.
Meine Tante ging das Bild selbst holen, während Matthew weiterhin finster seinen Sohn ansah. Dann führte Sarah uns ins Esszimmer. Matthew, Em und ich versammelten uns auf der einen Seite des Tisches. Miriam, Marcus und Sarah setzten sich auf die andere. Nachdem alle Platz genommen hatten, begann Sarah darüber zu plaudern, was am Morgen alles passiert war. Immer wenn sie Matthew bat, einen Punkt klarzustellen, spie er die Antwort so knapp wie möglich hervor. Alle im Raum außer Sarah schienen zu begreifen, dass er Miriam und Marcus nicht einweihen wollte. Meine Tante ließ sich davon nicht beirren und schloss ihre Schilderung, indem sie den Brief rezitierte, den meine Mutter mir hinterlassen hatte, und zwar mitsamt den Zeilen, die mein Vater angehängt hatte. Matthew hielt währenddessen krampfhaft meine Hand umklammert.
Miriam griff nach der Darstellung der chemischen Vermählung. Sie studierte sie eingehend und sah mich dann wieder an. »Deine Mutter hatte recht. Dieses Bild zeigt dich. Und dich auch, Matthew.«
»Ich weiß«, sagte ich und stellte mich ihrem Blick. »Weißt du, was es bedeutet?«
»Miriam?«, fragte Matthew scharf.
»Das kann auch bis morgen warten.« Marcus wirkte nervös und stand vom Tisch auf. »Es ist schon spät.«
»Sie weiß es bereits«, sagte Miriam leise. »Was kommt nach der Vermählung, Diana? Was ist nach der conjunctio der nächste Schritt bei einer alchemistischen Transmutation?«
Der Raum kippte zur Seite weg, und ich roch die Kräuter in dem Tee, den ich in Sept-Tours immer getrunken hatte.
»Conceptio.« Mein ganzer Körper verwandelte sich in Gelee, und ich rutschte vom Stuhl, während es schwarz um mich wurde.