23
Bald war alles voller Wasser. Mittlerweile saß ich oben auf dem Wachturm in einem Tümpel, und der Wasserspiegel stieg immer weiter an.
Trotz des bewölkten Himmels regnete es nicht.
Das Wasser kam aus mir.
Meine Tränen flossen ganz normal, wuchsen aber im Fallen zu runden, schneeballgroßen Kugeln, die laut klatschend auf dem Dach aufschlugen. Auf meinen Schultern wellte sich mein Haar unter einem Wasserschleier, der sich über meinen ganzen Körper ergoss. Ich öffnete den Mund, um Luft zu holen, weil mir das Wasser übers Gesicht lief und mir die Nase verstopfte, und ein nach Meerwasser schmeckender Sturzbach ergoss sich über meine Lippen.
Durch die Nässe hindurch spürte ich Marthes und Ysabeaus Blicke. Marthe sah mich streng an. Ysabeaus Lippen bewegten sich, aber das Dröhnen Tausender Muscheln übertönte ihre Worte.
Ich stand auf, weil ich hoffte, dass das Wasser dann versiegen würde. Ohne Erfolg. Ich versuchte den beiden Frauen zu erklären, dass ich nichts dafürkonnte – aber damit löste ich nur eine weitere Sturzflut aus. Ich streckte die Hand aus, weil ich annahm, dass ich die Flut damit aufhalten konnte. Stattdessen spritzte noch mehr Wasser aus meinen Fingerspitzen. Die Geste erinnerte mich daran, wie meine Mutter die Hand nach meinem Vater ausgestreckt hatte, und die Bäche schwollen weiter an.
Je heftiger das Wasser strömte, desto mehr verlor ich die Beherrschung. Der unerwartete Auftritt von Domenico hatte mir mehr Angst gemacht, als ich bis dahin hatte zugeben wollen. Matthew war weg. Und ich hatte geschworen, ihn gegen Feinde zu verteidigen, die ich nicht kannte und nicht verstand. Inzwischen war klar, dass sich Matthews Vergangenheit nicht nur aus gemütlichen Kaminfeuern, Wein und Büchern zusammensetzte. Und sie hatte sich auch nicht ausschließlich im Umkreis einer harmonischen Familie abgespielt. Laut Domenico war seine Vergangenheit düster gewesen, voller Feindseligkeiten, Gefahren und Tod.
Die Erschöpfung übermannte mich und zog mich unter Wasser. Die Müdigkeit wurde von einem eigenartigen Hochgefühl begleitet. Ich schwebte zwischen nackter Sterblichkeit und etwas Elementarem, in dem das Versprechen einer enormen, unbegreiflichen Macht enthalten war. Wenn ich mich dem Sog überließ, würde es keine Diana Bishop mehr geben. Stattdessen würde ich zu Wasser – ohne festen Ort, allgegenwärtig, von meinem Körper und allen Schmerzen befreit.
»Bitte verzeih mir, Matthew.« Meine Worte waren nur noch ein Blubbern unter dem unerbittlichen Werk des Wassers.
Ysabeau trat auf mich zu, und durch meinen Kopf hallte ein scharfer Peitschenknall. Mein Warnruf ging in einem Tosen wie von einer brechenden Riesenwelle unter. Unter meinen Füßen erhob sich ein Wind, der das Wasser zu einem Hurrikan hochpeitschte. Ich hob die Arme zum Himmel, und Wasser und Wind bildeten einen hohen Schlauch, der meinen Körper umwirbelte.
Marthe packte Ysabeau am Arm und bewegte hektisch den Mund. Matthews Mutter versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien, und ihr Mund formte das Wort »Nein«, doch Marthe ließ nicht los und bannte sie dabei mit ihrem Blick. Nach ein paar Sekunden sackten Ysabeaus Schultern nach unten. Sie drehte sich zu mir um und begann zu singen. Ihre eindringliche, sehnsüchtige Stimme durchdrang die Wasserwand und rief mich in die Welt zurück.
Der Wind begann sich zu legen. Die von den Böen hochgepeitschte Standarte der de Clermonts flatterte wieder träge im leisen Wind. Die Kaskade, die sich aus meinen Fingerspitzen ergossen hatte, dünnte zu einem Rinnsal aus und versiegte schließlich völlig. Die Wogen, die aus meinen Haaren geflossen waren, schwächten sich zu kleinen Wellen ab und verschwanden dann ebenfalls. Schließlich kam nichts mehr aus meinem Mund als ein überraschtes Ausschnaufen. Als Letztes versiegten die tennisballgroßen Tränen, die aus meinen Augen gerollt waren und die zuerst verraten hatten, welche Kräfte in mir tobten. Die Reste meiner Flut flossen durch die kleinen Löcher unten in der Brüstung ab. Tief unter uns spritzte das Wasser auf das dicke Kiesbett im Hof.
Als alles vorüber war, fühlte ich mich ausgehöhlt wie ein Kürbis, und mir war bitterkalt. Meine Knie knickten ein und prallten ungebremst auf den Steinboden.
»Gott sei Dank«, murmelte Ysabeau. »Um ein Haar hätten wir sie verloren.«
Ich schlotterte vor Erschöpfung und Kälte. Beide Frauen kamen auf mich zugerannt und zogen mich auf die Füße. Dann packten sie mich unter den Ellbogen und flogen mit mir so schnell die Treppe hinab, dass ich vor Kälte bibberte. Unten in der großen Halle zog Marthe mich zu Matthews Zimmer, während Ysabeau in die entgegengesetzte Richtung wollte.
»Mein Zimmer ist näher«, erklärte Matthews Mutter scharf.
»Aber in seiner Nähe wird sie sich sicherer fühlen«, wandte Marthe ein.
Mit einem gereizten Schnaufen gab sich Ysabeau geschlagen.
Unten an der Treppe zu Matthews Räumen stieß Ysabeau einen langen, kraftvollen Fluch aus, den man ihrem fein geschnittenen Mund nie zugetraut hätte. »Ich trage sie hinauf«, beschloss sie, nachdem sie ausgiebig ihren Sohn verwünscht hatte, dazu die Naturgewalten und die Mächte des Universums sowie zahllose nicht näher genannte Individuen zweifelhafter Abstammung, die diesen Turm erbaut hatten. Ysabeau hob meinen viel größeren Körper ohne Schwierigkeiten an. »Warum er die Treppe so eng gebaut hat – und in zwei verschiedenen Läufen – ist und bleibt mir ein Rätsel.«
Marthe steckte meine nassen Haare in Ysabeaus Ellenbeuge und zuckte mit den Achseln. »Natürlich um den Aufstieg schwerer zu machen. Er will es sich immer möglichst schwer machen. Und allen anderen auch.«
Niemand hatte daran gedacht, am Spätnachmittag hier heraufzukommen, um die Kerzen anzuzünden, doch das Feuer glomm immer noch, dadurch war der Raum auch halbwegs warm geblieben. Marthe verschwand ins Bad, und ich sah erschrocken auf meine Finger, sobald ich das Wasser laufen hörte. Ysabeau warf zwei riesige Scheite auf den Rost, als wären es dünne Zweige, und riss einen langen Span ab, mit dem sie die Kohlen schürte, bis sie wieder brannten, danach entzündete sie innerhalb weniger Sekunden ein ganzes Dutzend Kerzen. Im warmen Kerzenschein untersuchte sie mich akribisch von Kopf bis Fuß.
»Wenn Sie krank werden, wird er mir das nie verzeihen«, sagte sie, griff nach meinen Händen und besah sich die Finger. Sie waren wieder bläulich verfärbt, aber diesmal nicht vor elektrischer Spannung. Jetzt waren sie blau vor Kälte und vom Wasser runzlig. Ysabeau rubbelte sie kraftvoll zwischen den Handflächen.
Immer noch so zitternd, dass meine Zähne klapperten, zog ich die Hände zurück und schlang sie um meinen Leib, um das letzte bisschen Wärme in meinem Körper zu halten. Ysabeau nahm mich erneut ohne Umschweife auf die Arme und trug mich ins Bad.
»Sie muss sofort ins Wasser«, befahl Ysabeau barsch. Der Raum war voller Dampf, und Marthe wandte sich von der Wanne ab, um mir beim Ausziehen zu helfen. Bald war ich nackt, und die beiden hoben mich, eine kalte Vampirhand in jeder meiner Achselhöhlen, ins heiße Wasser. Ich spürte das heiße Wasser wie einen elektrischen Schlag auf meiner durchfrorenen Haut. Unter einem Aufschrei versuchte ich aus Matthews tiefer Wanne zu klettern.
»Psst.« Ysabeau hielt mir die Haare aus dem Gesicht, während Marthe mich ins Wasser zurückdrückte. »Das wird Sie wärmen. Wir müssen die Kälte vertreiben.«
Marthe stand am einen Ende der Wanne Wache, Ysabeau am anderen, wo sie abwechselnd beruhigend auf mich einflüsterte oder leise vor sich hin summte. Es dauerte lange, bis das Zittern nachließ.
Irgendwann murmelte Marthe etwas auf Okzitanisch, in dem ich den Namen Marcus aufschnappte.
Ysabeau und ich sagten gleichzeitig: »Nein.«
»Ich komme schon wieder auf die Beine. Erzählen Sie Marcus nicht, was passiert ist. Matthew braucht das mit der Magie nicht zu erfahren. Noch nicht«, erklärte ich zähneklappernd.
»Wir brauchen nur noch etwas Zeit, um Sie wieder warm zu kriegen.« Ysabeau klang ganz ruhig, aber sie sah beunruhigt aus.
Langsam begann die Hitze die Veränderungen, die die Hexenflut in meinem Körper ausgelöst hatte, rückgängig zu machen. Marthe ließ immer wieder heißes Wasser nachlaufen, weil mein ausgekühlter Körper es so schnell abkühlte. Ysabeau nahm einen verbeulten Zinnkrug vom Fensterbrett, tauchte ihn ein und goss mir das Badewasser über Kopf und Schultern. Als mein Kopf wieder warm war, wickelte sie ein Handtuch darum und drückte mich bis zum Kinn ins Wasser.
Marthe eilte geschäftig zwischen Bad und Schlafzimmer hin und her und brachte Anziehsachen und weitere Handtücher. Kopfschüttelnd besah sie meine wenigen Kleider und die alten Yogasachen, die ich zum Schlafen mitgenommen hatte. Nichts davon erschien ihr warm genug.
Ysabeau legte den Handrücken an meine Wange und dann auf meinen Scheitel. Dann nickte sie.
Sie ließen mich aufstehen. Das von meinem Körper perlende Wasser erinnerte mich an das Dach des Wachturms, und ich bohrte die Zehen in die Fliesen, um mich dem heimtückischen Sog entgegenzustellen, den dieses Element ausübte.
Marthe und Ysabeau wickelten mich in Handtücher, die sie am Kamin vorgewärmt hatten und die leicht nach Holzrauch rochen. Im Schlafzimmer gelang es ihnen irgendwie, mich abzutrocknen, ohne dass dabei ein Zentimeter meiner Haut der kühlen Luft ausgesetzt wurde, und rollten mich dabei in den Handtüchern hin und her, bis ich spürte, wie neue Wärme von meinem Körper ausstrahlte. Ein weiteres Handtuch massierte mir die Haare trocken, dann spürte ich, wie Marthes Finger die Strähnen teilten und sie zu einem festen Zopf flochten. Als ich mich aus den feuchten Handtüchern wand, um mich anzuziehen, warf Ysabeau sie auf einen Sessel am Kamin, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie dabei auf antikem Holz und feinsten Polsterbezügen landeten.
Wieder angezogen setzte ich mich hin und starrte gedankenverloren ins Feuer. Marthe verschwand ohne ein weiteres Wort in den Tiefen des Châteaus und kehrte mit einem Tablett voller winziger Schnittchen sowie einer Kanne Kräutertee zurück.
»Sie essen. Jetzt.« Das war ein Befehl.
Ich führte eines der Schnittchen an den Mund und knabberte daran herum.
Marthes Augen wurden schmal, als sie das sah. »Essen.«
Das Brot schmeckte wie Sägemehl, aber mir knurrte der Magen. Nachdem ich zwei winzige Schnitten heruntergewürgt hatte, drückte Marthe mir einen Becher Tee in die Hand. Zum Trinken brauchte sie mich nicht zu ermuntern. Die heiße Flüssigkeit rann meine Kehle hinab und spülte die letzten salzigen Ablagerungen weg.
»War das eine Hexenflut?« Mich schauderte bei dem Gedanken an das viele Wasser, das aus mir herausgeflossen war.
Ysabeau, die am Fenster gestanden und in die Dunkelheit gespäht hatte, ging zu dem zweiten Sofa vor dem Kamin. »Ja«, sagte sie. »Allerdings haben wir es lange nicht mehr so heftig fließen sehen.«
»Gott sei Dank war das nicht normal«, sagte ich schwach und nahm noch einen Schluck Tee.
»Heute sind die meisten Hexen nicht mehr mächtig genug, um so eine Hexenflut heraufzubeschwören. Sie können Wellen auf einem Teich erzeugen oder es regnen lassen, wenn Wolken am Himmel sind. Aber sie werden nicht selbst zu Wasser.« Ysabeau setzte sich mir gegenüber und sah mich mit unverhohlener Neugier an.
Ich war Wasser geworden. Ich fühlte mich plötzlich sehr verletzlich – und schrecklich allein.
Ein Klingeln ertönte.
Ysabeau griff in ihre Tasche und zog ein kleines rotes Handy heraus, das sich viel zu grell und modern gegen ihre blasse Haut und die klassischen, bräunlich getönten Kleider abhob.
»Oui? Ah, gut, ich bin froh, dass du gut angekommen bist.« Sie sprach aus Höflichkeit mir gegenüber englisch und nickte zu mir her. »Ja, es geht ihr gut. Sie isst gerade.« Sie stand auf und reichte mir das Telefon. »Matthew möchte mit Ihnen sprechen.«
»Diana?« Matthew war kaum zu verstehen.
»Ja?« Ich sagte lieber so wenig wie möglich, aus lauter Angst, es könnten nicht nur Worte aus mir heraussprudeln.
Er atmete erleichtert auf. »Ich wollte mich nur überzeugen, dass es dir gut geht.«
»Deine Mutter und Marthe sorgen wirklich gut für mich.« Und ich habe nicht das ganze Schloss unter Wasser gesetzt, dachte ich.
»Du bist müde.«
»Stimmt. Es war ein langer Tag.«
»Dann geh schlafen«, schlug er mir unerwartet liebevoll vor. Ich schloss die Augen, weil ich plötzlich Tränen brennen spürte. Heute Nacht würde ich bestimmt kaum ein Auge zutun. Ich machte mir zu viele Sorgen, was er in einem unausgegorenen, heroischen Versuch, mich zu beschützen, anstellen könnte.
»Warst du schon im Labor?«
»Ich bin gerade dorthin unterwegs. Marcus möchte, dass ich alles ganz genau überprüfe, außerdem soll ich mich überzeugen, dass wir alle nötigen Vorkehrungen getroffen haben. Miriam hat die Alarmanlagen am Haus gecheckt.« Er brachte seine Halbwahrheiten glatt und überzeugend vor, aber ich durchschaute ihn dennoch. Die Stille dehnte sich, bis sie beklemmend wurde.
»Tu es nicht, Matthew. Bitte versuch nicht, mit Knox zu verhandeln.«
»Ich werde alles tun, damit du gefahrlos nach Oxford zurückkommen kannst.«
»Dann gibt es nichts weiter zu sagen. Deine Entscheidung ist gefallen. Meine auch.« Ich reichte Ysabeau das Handy.
Sie runzelte die Stirn und zog es mit kalten Fingern aus meiner Hand. Ysabeau verabschiedete sich von ihrem Sohn, dessen Antwort ich nur als Stakkato unverständlicher Laute hörte.
»Danke, dass Sie das mit der Hexenflut nicht erzählt haben«, sagte ich leise, nachdem sie die Verbindung getrennt hatte.
»Das ist Ihre Geschichte, nicht meine.« Ysabeau schwebte auf den Kamin zu.
»Es bringt nichts, eine Geschichte erzählen zu wollen, die man nicht versteht. Warum macht sich die Kraft gerade jetzt bemerkbar? Erst der Wind, dann die Visionen und jetzt das Wasser.« Mich schauderte.
»Was für Visionen?« Ysabeau konnte ihre Neugier nicht verhehlen.
»Hat Matthew das nicht erzählt? In meiner DNA finden sich alle Formen von … Magie.« Das Wort wollte mir nur widerwillig über die Lippen. »Die Analyse hat ergeben, dass ich Visionen bekommen könnte, und prompt haben sie eingesetzt.«
»Matthew würde mir nie erzählen, was Ihre Blutanalyse ergeben hat – ganz bestimmt nicht ohne Ihre Erlaubnis, und wahrscheinlich auch nicht mit Ihrer Erlaubnis.«
»Ich hatte sie erstmals hier im Château.« Ich zögerte. »Wie haben Sie gelernt, sie zu kontrollieren?«
»Matthew hat Ihnen also erzählt, dass ich Visionen hatte, bevor ich zum Vampir wurde.« Ysabeau schüttelte den Kopf. »Das hätte er nicht tun dürfen.«
»Waren Sie eine Hexe?« Das würde vielleicht erklären, warum sie mich nicht leiden konnte.
»Eine Hexe? Nein. Matthew fragt sich manchmal, ob ich vielleicht eine Dämonin war, aber ich bin sicher, dass ich ein gewöhnlicher Mensch war. Auch unter ihnen gibt es Visionäre. Nicht nur magische Geschöpfe sind mit dieser Gabe gesegnet und geschlagen.«
»Haben Sie es irgendwann geschafft, Ihr zweites Gesicht zu kontrollieren?«
»Es wird leichter. Es gibt Warnzeichen. Manchmal nur ganz subtile, aber Sie werden sie erkennen. Außerdem hat mir Marthe geholfen.«
Dies war das Erste, was ich über Marthes Vergangenheit hörte, und ich fragte mich, wie alt die beiden Frauen waren und welch verschlungenes Schicksal sie zusammengeführt hatte.
Marthe stand mit verschränkten Armen neben uns. »Ôc«, sagte sie und sah Ysabeau zärtlich und fürsorglich an. »Es ist leichter, wenn man die Visionen einfach durch sich hindurchziehen lässt, ohne sich dagegen zu wehren.«
»Ich stehe sowieso zu sehr unter Schock, um mich zu wehren.« Ich musste an die Situation im Salon und in der Bibliothek denken.
»Ihr Körper wehrt sich, indem er in Schock fällt«, erklärte Ysabeau. »Sie müssen versuchen, sich zu entspannen.«
»Es ist schwer, sich zu entspannen, wenn sich Szenen aus der eigenen Vergangenheit mit Bildern von Rittern und Frauen mischen, die man nie zuvor gesehen hat.« Plötzlich musste ich gähnen, dass mir der Kiefer knackte.
»Sie sind zu erschöpft, um sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen.« Ysabeau erhob sich.
»Ich kann noch nicht schlafen.« Ich erstickte das nächste Gähnen mit dem Handrücken.
Sie fasste mich ins Auge wie ein Falke eine Feldmaus. Dann leuchteten ihre Augen verschmitzt auf. »Wenn Sie ins Bett gehen, erzähle ich Ihnen, wie ich Matthew erschaffen habe.«
Ihr Angebot war zu verlockend, als dass ich es ausschlagen konnte. Gehorsam stieg ich ins Bett, während sie einen Sessel heranzog und Marthe sich mit den Tellern und Handtüchern zu schaffen machte.
»Wo soll ich nur beginnen?« Sie richtete sich in ihrem Sessel auf und starrte in die Kerzenflammen. »Eigentlich fing alles mit seiner Geburt hier im Ort an. Ich kannte ihn schon als kleines Kind, müssen Sie wissen, damals regierte Chlodwig das Land. Philippe, mein Mann, hatte beschlossen, hier zu bauen. Nur darum gibt es das Dorf – dort lebten die Bauern und die Handwerker, die diese Burg und die Kirche erbauten.«
»Warum wollte Ihr Mann ausgerechnet hier bauen?« Ich lehnte mich in die Kissen und winkelte die Knie unter der Decke an.
»Chlodwig hatte ihm dieses Land versprochen, weil er gehofft hatte, dass er Philippe so dazu bringen könnte, für ihn in die Schlacht zu ziehen. Mein Mann versuchte immer, alle Parteien gegeneinander auszuspielen.« Ysabeau lächelte wehmütig. »Und nur die wenigsten durchschauten ihn.«
»War Matthews Vater ein Bauer?«
»Ein Bauer?« Ysabeau sah mich überrascht an. »Nein, er war Zimmermann, genau wie Matthew, bevor er Steinmetz wurde.«
Ein Steinmetz. Die Steine des Turmes waren so nahtlos ineinandergefügt, dass sie keinen Mörtel zu brauchen schienen. Und dann waren da die eigentümlich verschnörkelten Schlote auf dem Torhaus der Old Lodge, die Matthew von einem Handwerker probeweise hatte konstruieren lassen. Seine langen, schlanken Finger waren kräftig genug, um eine Austernschale oder eine Kastanie zu knacken. Ein weiteres Mosaiksteinchen fiel an die richtige Stelle und fügte sich perfekt zu jenem des Kriegers, Wissenschaftlers und Adligen.
»Und seine Eltern arbeiteten am Château?«
»Nicht an diesem Château«, antwortete Ysabeau und sah sich um. »Das hier hat mir Matthew geschenkt. Er riss das Bollwerk ein, das sein Vater gebaut hatte, und ersetzte es durch eine neue Burg.« Ihre grün-schwarzen Augen funkelten fröhlich. »Philippe war außer sich vor Wut. Aber es war Zeit, etwas zu verändern. Das erste Château war eine Holzkonstruktion, und obwohl über die Jahre Anbauten aus Stein angefügt worden waren, sah es ein bisschen heruntergekommen aus.«
Ich gab mir Mühe, die Ereignisse zeitlich einzuordnen, angefangen von der Errichtung der ersten Burg und des Dorfes im sechsten Jahrhundert bis zu Matthews Turmbau im dreizehnten Jahrhundert.
Ysabeau rümpfte abfällig die Nase. »Später klebte er diesen Turm hinten an den Bau, weil er nach seiner Heimkehr nicht so nah bei der Familie sein wollte. Mir hat das Ding nie gefallen – mir kommt es vor wie eine romantische Spielerei.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ein komischer Turm. Für die Verteidigung der Burg war er völlig überflüssig. Ohnehin schon hatte Matthew mehr Türme gebaut, als wir gebraucht hätten.«
Ysabeau spann weiter an ihrer Geschichte und schien dem einundzwanzigsten Jahrhundert zunehmend entrückt.
»Matthew wurde in dem Dorf geboren. Er war von Anfang an ein so kluges und so neugieriges Kind. Er trieb seinen Vater zum Wahnsinn, weil er ihm zum Château nachlief und dort mit den Werkzeugen und Stöcken und Steinen spielte. Früher lernten die Kinder schon sehr früh ein Handwerk, aber Matthew war selbst für damalige Verhältnisse frühreif. Kaum konnte er eine Hacke halten, ohne sich damit zu verletzen, wurden ihm die ersten Arbeiten übertragen.«
In meiner Fantasie rannte ein achtjähriger Matthew mit schlaksigen Beinen und graugrünen Augen über die Hügel.
»Ja.« Sie bestätigte lächelnd meine unausgesprochenen Gedanken. »Er war wirklich ein schönes Kind. Und ein schöner junger Mann. Matthew war für damalige Verhältnisse ungewöhnlich groß, wenn auch nicht so groß, wie er als Vampir später wurde.
Und er hatte einen boshaften Humor. Immer tat er so, als wäre etwas kaputtgegangen oder als hätte er keine Anweisungen bekommen, wie er diesen Dachbalken oder jenes Fundament setzen sollte. Philippe war vernarrt in den Jungen und glaubte jede noch so unglaubliche Geschichte, die Matthew ihm auftischte«, sagte Ysabeau mit einem milden Lächeln. »Matthews erster Vater starb, als Matthew nicht einmal zwanzig war, und seine Mutter war damals schon zehn Jahre tot. Er war allein, und wir machten uns Sorgen, ob er eine Frau finden würde, um eine Familie zu gründen.
Und dann traf er Blanca.« Ysabeau hielt inne und sah mich lange und offen an. »Sie haben doch nicht geglaubt, dass es in seinem Leben keine Liebe gegeben hat.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Marthe warf Ysabeau einen bösen Blick zu, blieb aber still.
»Natürlich nicht«, antwortete ich ruhig, obwohl mir schwer ums Herz wurde.
»Blanca war kurz zuvor ins Dorf gekommen, als Dienstmagd eines der Steinmetzmeister, die Philippe aus Ravenna geholt hatte, damit sie die erste Kirche bauten. Sie war so blass, wie ihr Name es vermuten ließ – weiße Haut, Augen wie der Frühlingshimmel und Haar wie gesponnenes Gold.«
Als ich Matthews Computer holen gegangen war, war eine bleiche, wunderschöne Frau in meinen Visionen aufgetaucht. Ysabeaus Beschreibung von Blanca passte perfekt auf sie.
»Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, nicht wahr?«, flüsterte ich.
Ysabeaus Augen wurden groß. »O ja, das hatte sie.«
»Ich weiß. Ich habe sie gesehen, als sich das Licht in Matthews Arbeitszimmer in seiner Rüstung brach.«
Marthe gab einen warnenden Laut von sich, aber Ysabeau erzählte weiter.
»Manchmal kam mir Blanca so zerbrechlich vor, dass ich Angst hatte, sie könnte zerspringen, wenn sie Wasser aus dem Brunnen schöpfte oder Gemüse erntete. Mein Matthew fühlte sich von dieser Zerbrechlichkeit angezogen, nehme ich an.« Ysabeaus Augen huschten kurz über meinen ganz und gar nicht zerbrechlichen Körper. »Sie heirateten, als Matthew fünfundzwanzig war und eine Familie ernähren konnte. Blanca war damals gerade neunzehn.
Natürlich waren die beiden ein wunderschönes Paar. Matthews dunkle Aura und Blancas bezaubernde Blässe bildeten einen faszinierenden Kontrast. Sie liebten einander über alles, und ihre Ehe war ausgesprochen glücklich. Sie schienen nur keine Kinder bekommen zu können. Blanca hatte eine Fehlgeburt nach der anderen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was für eine Stimmung in ihrem Haus herrschte, nachdem sie so viele Kinder noch vor ihrem ersten Atemzug sterben sehen mussten.« Ich war nicht sicher, ob Vampire weinen konnten, doch ich musste an die blutige Träne denken, die ich in meinen Visionen im Salon auf Ysabeaus Wange gesehen hatte. Doch auch tränenlos sah sie aus, als würde sie weinen, und ihr Gesicht war zu einer Maske des Bedauerns erstarrt.
»Schließlich bekam Blanca nach jahrelangen vergeblichen Versuchen ein Kind. Das war 531. Was für ein Jahr. Im Süden war ein neuer König gekrönt worden, und das Schlachten hatte wieder eingesetzt. Matthew begann allmählich glücklich auszusehen, als wagte er tatsächlich zu hoffen, dass dieses Kind überleben würde. Und das tat es. Lucas kam im Herbst zur Welt und wurde in der halb fertigen Kirche getauft, an der Matthew mitbaute. Es war eine schwere Geburt gewesen. Die Hebamme prophezeite, dass es das letzte Kind sei, das Blanca gebären würde. Matthew allerdings war mit Lucas glücklich. Und Lucas sah seinem Vater so ähnlich mit seinen schwarzen Locken und dem spitzen Kinn – und den langen Beinen.«
»Was wurde aus Blanca und Lucas?« All das war nur sechs Jahre vor Matthews Transformation zum Vampir geschehen. Etwas musste vorgefallen sein, sonst hätte er nie zugelassen, dass Ysabeau sein Leben gegen ein neues eintauschte.
»Matthew und Blanca sahen ihren Sohn wachsen und gedeihen. Matthew hatte inzwischen gelernt, mit Stein statt mit Holz zu arbeiten, und die Adligen von hier bis nach Paris schätzten seine Arbeit. Dann kam das Jahr 536. Das Vorjahr war eigenartig gewesen, die Sonne hatte kaum geschienen, und der Winter war eisig. Mit dem Frühling hielt die Krankheit Einzug und nahm Blanca und Lucas mit sich fort.«
»Rätselten die Dorfbewohner nicht, warum Sie und Philippe gesund blieben?«
»Natürlich. Aber damals gab es dafür mehr Erklärungen, als es heute geben würde. Die Menschen glaubten lieber, dass Gottes Zorn das Dorf gestraft hatte oder dass das Schloss verflucht sei, als dass Manjasang unter ihnen lebten.«
»Manjasang?« Ich versuchte die Silben in meinem Mund zu rollen, wie Ysabeau es getan hatte.
»Das Wort der alten Sprache für Vampire – Blutesser. Einige ahnten die Wahrheit und sprachen flüsternd am Ofen davon. Aber in jenen Tagen ängstigten sich die Menschen eher vor einer möglichen Rückkehr der ostgotischen Krieger als vor der Vorstellung, einem Manjasang zu dienen. Philippe versprach, das Dorf zu schützen, falls die Plünderer zurückkämen. Außerdem achteten wir darauf, nie in unserer Umgebung Beute zu machen«, erklärte sie grimmig.
»Was tat Matthew, als Blanca und Lucas gestorben waren?«
»Er trauerte. Er war untröstlich. Er aß nichts mehr. Er sah aus wie ein Skelett, und das Dorf rief uns um Hilfe an. Ich brachte ihm Speisen« – Ysabeau lächelte Marthe an –, »zwang ihn zum Essen und ging mit ihm herum, bis er nicht mehr ganz so rastlos war. Wenn er nicht schlafen konnte, gingen wir in die Kirche und beteten für die Seelen von Blanca und Lucas. Matthew war damals tief religiös. Wir sprachen über Himmel und Hölle, denn er ängstigte sich, wo ihre Seelen sein könnten und ob er sie je wiederfinden würde.«
Matthew reagierte so fürsorglich, wenn ich in nackter Angst aus dem Schlaf schreckte. Waren die Nächte vor seiner Verwandlung zum Vampir ähnlich schlaflos gewesen wie die danach?
»Als der Herbst kam, schien er endlich neue Hoffnung zu schöpfen. Doch der Winter war schwer. Die Menschen hungerten, und die Krankheit setzte ihnen weiter zu. Überall wartete der Tod. Nicht einmal der Frühling vertrieb die düstere Stimmung. Philippe wollte die Kirche um jeden Preis fertigstellen, und Matthew arbeitete schwerer als je zuvor. Anfang der zweiten Juniwoche fand man ihn unter der Kuppeldecke auf dem Boden liegend, mit zerschmetterten Beinen und gebrochenem Rückgrat.«
Bei der Vorstellung, wie Matthews weicher, menschlicher Körper auf dem harten Stein aufprallte, stockte mir der Atem.
»Diesen Sturz konnte er natürlich unmöglich überleben«, sagte Ysabeau leise. »Er lag im Sterben. Einige Steinmetze meinten, er sei ausgerutscht. Andere glaubten, dass Matthew in den Tod gesprungen sei, und sprachen schon davon, dass er als Selbstmörder nicht auf dem Friedhof beigesetzt würde. Ich konnte ihn doch nicht in der Angst sterben lassen, möglicherweise nicht erlöst zu werden, wo für ihn doch nur zählte, dass er eines Tages Blanca und Lucas wiedersehen durfte.«
»Sie haben richtig entschieden.«
»Wirklich?« Ysabeau schüttelte den Kopf. »Nicht einmal heute bin ich mir da wirklich sicher. Philippe erklärte mir, ich müsse selbst entscheiden, ob ich Matthew zu einem aus unserer Familie machen wolle. Ich hatte mit meinem Blut schon öfter Vampire gezeugt und würde nach ihm noch weitere zeugen. Trotzdem war Matthew anders als die Übrigen. Ich mochte ihn, und ich wusste, dass die Götter mir die Chance gaben, ihn zu meinem Kind zu machen. Ich wäre dafür verantwortlich, ihm zu zeigen, was es bedeutet, ein Vampir zu sein.«
»Hat sich Matthew gewehrt?« Ich musste die Frage einfach stellen.
»Nein«, erwiderte sie. »Er war vor Schmerzen nicht mehr bei sich. Wir schickten alle anderen weg und behaupteten, wir würden einen Priester holen. Was wir natürlich nicht taten. Philippe und ich gingen zu Matthew und erklärten ihm, dass wir ihm das ewige Leben schenken würden, ein Leben ohne Schmerz und ohne Leiden. Viel später erzählte Matthew uns, dass er damals geglaubt hatte, Johannes der Täufer und die Heilige Mutter Gottes seien zu ihm getreten, um ihn zu seiner Frau und seinem Kind in den Himmel zu holen. Als ich ihm mein Blut darbot, glaubte er, ich sei der Priester und würde ihm die Letzte Ölung geben.«
Im Raum waren nur mein leiser Atem und das Knistern der Scheite im Kamin zu hören. Ich wollte von Ysabeau in allen Einzelheiten erfahren, wie sie Matthew zum Vampir gemacht hatte, aber ich hatte Angst zu fragen, denn möglicherweise sprachen Vampire ungern über solche Sachen. Vielleicht war das zu intim oder zu schmerzhaft. Doch Ysabeau erzählte es mir auch so.
»Er nahm mein Blut so mühelos an, als wäre er dafür geboren«, erklärte sie mit einem rasselnden Seufzer. »Matthew gehörte nicht zu den Menschen, denen es vor dem Anblick oder dem Geruch von Blut graut. Ich riss mit meinen Zähnen mein Handgelenk auf und versprach ihm, dass mein Blut ihn heilen würde. Er trank seine Erlösung ohne jede Angst.«
»Und danach?«, flüsterte ich.
»Danach war er… schwierig«, antwortete Ysabeau abwägend. »Alle frisch gezeugten Vampire sind kräftig und hungrig, aber Matthew war kaum zu kontrollieren. Er tobte vor Wut, dass er zum Vampir geworden war, und sein Hunger nach Blut war unersättlich. Wochenlang mussten Philippe und ich täglich für ihn auf die Jagd gehen, um ihn zu stillen. Außerdem veränderte sich sein Körper stärker, als wir erwartet hatten. Wir werden alle größer, feingliedriger, kräftiger. Aber Matthew verwandelte sich aus einem gertendünnen Menschen in ein wahrhaft ehrfurchtgebietendes Geschöpf. Mein Mann war größer als er, doch als mein Blut erstmals durch Matthews Adern schoss, konnte selbst Philippe ihn kaum bändigen.«
Ich zwang mich, keine Angst vor Matthews Hunger und Zorn zu bekommen. Stattdessen starrte ich seine Mutter an und schloss nicht ein einziges Mal die Augen, um mich gegen das Wissen zu wehren. Denn genau das fürchtete Matthew: Dass ich begreifen würde, wer er gewesen war – wer er immer noch war – und mich angewidert abwenden könnte.
»Was hat ihn schließlich zur Ruhe gebracht?«, fragte ich.
»Philippe ging mit ihm jagen«, erklärte Ysabeau, »sobald er halbwegs überzeugt war, dass Matthew nicht mehr alles töten würde, was ihm in den Weg kam. Das Fährtensuchen hielt seinen Geist auf Trab, und die Hetzjagd hielt seinen Körper auf Trab. Bald war für ihn die Jagd wichtiger als das Blut, was bei einem jungen Vampir immer ein gutes Zeichen ist. Es zeigte uns, dass er nicht mehr ausschließlich von seinem Hunger gesteuert wurde, sondern wieder vernünftigen Argumenten zugänglich war. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Gewissen erwachte und er nicht mehr unüberlegt tötete. Fortan mussten wir nur noch die schwarzen Stunden fürchten, in denen er besonders innig um Blanca und Lucas trauerte und sich über Menschen hermachte, um seinen Hunger zu dämpfen.«
»Gab es damals irgendwas, das ihm geholfen hat?«
»Manchmal sang ich ihm etwas vor – unter anderem das Lied, das ich Ihnen heute Abend vorgesungen habe. Damit ließ sich die Trauer oft lindern. Manchmal verschwand Matthew auch einfach. Philippe verbot mir, ihm zu folgen oder ihm Fragen zu stellen, wenn er zurückkam.« Ysabeau sah mich mit schwarzen Augen an. Unsere Blicke bestätigten, was wir beide vermuteten: dass Matthew zu Frauen geflüchtet war und Trost in ihrem Blut und der Berührung von Händen gesucht hatte, die weder die seiner Mutter noch die seiner Frau waren.
»Er ist wahnsinnig diszipliniert«, überlegte ich laut. »So kann ich ihn mir kaum vorstellen.«
»Matthew empfindet sehr intensiv. Es ist ein Segen und gleichzeitig ein Fluch, jemanden so zu lieben, dass man nicht weiterleben möchte, nachdem diese Liebe gestorben ist.«
In Ysabeaus Stimme lag eine leise Warnung. Trotzig schob ich mein Kinn nach vorn, und meine Finger begannen zu kribbeln. »Dann muss ich sicherstellen, dass er meine Liebe nie verlieren wird«, erklärte ich knapp.
»Und wie wollen Sie das anstellen?«, provozierte Ysabeau mich. »Wollen Sie auch zum Vampir werden und uns beim Jagen Gesellschaft leisten?« Sie lachte, aber es war ein freudloses Lachen. »Ich bin mir sicher, dass Domenico genau das vorgeschlagen hat. Ein kurzer Biss, Ihre Venen werden entleert, dann wird Ihr Blut gegen unseres getauscht. Und schon hätte die Kongregation keinen Anlass mehr, sich in Ihre Angelegenheiten einzumischen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich dumpf.
»Verstehen Sie nicht?«, zischte Ysabeau. »Wenn Sie unbedingt mit Matthew zusammen sein wollen, müssen Sie eine von uns werden, damit ihm – und Ihnen – keine Gefahr mehr droht.«
Ein tiefes Knurren stieg aus Marthes Kehle.
»Ist Matthew darum abgereist? Hat ihm die Kongregation befohlen, mich zum Vampir zu machen?«
»Matthew würde Sie niemals zum Manjasang machen«, mischte sich Marthe verächtlich ein. Aus ihren Augen sprühte Zorn.
»Nein.« Ysabeaus Stimme war leise, aber boshaft. »Wie gesagt, er hatte schon immer eine Schwäche für zerbrechliche Dinge.«
Und wieder war ich auf etwas gestoßen, das Matthew vor mir verheimlichte. Wenn ich ebenfalls ein Vampir wäre, bräuchten wir die Kongregation nicht zu fürchten. Ich musste mich nur verwandeln.
Ich erwog die Möglichkeit überraschend gelassen und angstfrei. Ich könnte mit Matthew zusammen sein, und ich würde vielleicht sogar noch größer werden. Ysabeau würde die Verwandlung übernehmen. Mit einem Glitzern im Blick beobachtete sie, wie meine Hand an meinen Hals wanderte.
Aber da waren immer noch meine Visionen, nicht zu vergessen die Macht des Windes und des Wassers. Noch verstand ich nicht, welches magische Potenzial in meinem Blut lag. Und als Vampirin würde ich das Rätsel um Ashmole 782 vielleicht nie lösen.
»Ich habe es ihm versprochen«, meldete sich Marthe rau zu Wort. »Diana muss bleiben, was sie ist – eine Hexe.«
Ysabeau bleckte die Zähne, nickte aber.
»Mussten Sie ihm auch versprechen, nicht zu verraten, was in Oxford wirklich passiert ist?«
Matthews Mutter fasste mich scharf ins Auge. »Es ist nicht an mir, diese Geschichte zu erzählen.«
Ich hatte noch mehr Fragen – Fragen, die Matthew in seiner Eile vielleicht nicht für verboten erklärt hatte.
»Können Sie mir erzählen, warum es einen Unterschied macht, ob ein nichtmenschliches Geschöpf oder ein Mensch ins Labor eingedrungen ist?«
Es blieb still, während Ysabeau mich interessiert musterte. Schließlich antwortete sie.
»Kluges Mädchen. Schließlich habe ich Matthew nicht versprochen, dass ich mich nicht zu dem äußern würde, was ich für inakzeptables Benehmen halte.« Sie sah mich wohlgefällig an. »Wir können nur hoffen, dass es ein übermütiger Dämon war, dem nicht bewusst war, was für einen schwerwiegenden Verstoß er damit begangen hat. Das könnte Matthew vielleicht noch verzeihen.«
»Dämonen hat er noch jedes Mal verziehen«, brummelte Marthe düster.
»Und wenn es kein Dämon war?«
»Wenn es ein Vampir war, haben wir es mit einem offenen Affront zu tun. Wir legen größten Wert darauf, unsere Privatsphäre zu wahren. Kein Vampir betritt unerlaubt das Haus oder Territorium eines anderen Vampirs.«
»Würde Matthew einen solchen Übergriff verzeihen?« Wenn ich danach ging, wie Matthew ausgesehen hatte, als er auf den Wagen geschlagen hatte, konnte ich mir die Antwort denken.
»Vielleicht.« Ysabeau klang wenig überzeugt. »Schließlich wurde nichts entwendet und nichts kaputt gemacht. Trotzdem halte ich es für wahrscheinlicher, dass Matthew Wiedergutmachung fordern würde.«
Wieder einmal fühlte ich mich ins Mittelalter zurückversetzt, wo vor allem um Ehre und Ruf gegangen war.
»Und wenn es eine Hexe war?«, fragte ich leise.
Matthews Mutter wandte das Gesicht ab. »Bei einer Hexe würde keine Entschuldigung ausreichen.«
In dem Moment schrillten bei mir alle Alarmglocken.
Ich warf die Decke beiseite und schwang die Beine über die Bettkante. »Der Einbruch sollte Matthew provozieren. Er ist nach Oxford geflogen, weil er glaubt, mit Knox einen Handel unter Ehrenmännern abschließen zu können. Wir müssen ihn warnen.«
Ysabeaus Hände kamen fest auf meinen Schultern zu liegen.
»Das ist ihm klar, Diana.«
Ich verarbeitete diese Neuigkeit. »Wollte er mich darum nicht nach Oxford mitnehmen? Ist er in Gefahr?«
»Natürlich ist er in Gefahr«, bestätigte Ysabeau scharf. »Aber er wird tun, was er kann, um der Sache ein Ende zu machen.« Sie hob meine Beine aufs Bett zurück und stopfte die Decke um mich herum fest.
»Ich sollte bei ihm sein«, protestierte ich.
»Sie würden ihn nur ablenken. Sie bleiben hier, so wie er es verlangt.«
»Habe ich denn gar kein Mitspracherecht?«, fragte ich zum x-ten Mal, seit ich nach Sept-Tours gekommen war.
»Nein«, antworteten beide Frauen wie aus einem Mund.
»Sie müssen wirklich noch sehr viel über uns Vampire lernen«, sagte Ysabeau wieder, doch diesmal klang sie fast resigniert.
Ich musste tatsächlich noch viel über Vampire lernen. Das wusste ich.
Aber wer würde es mir beibringen? Und wann?