22
Wir hatten zu dritt im Salon auf ihn gewartet, seit er am späten Vormittag auf Balthasar losgeritten war. Inzwischen wurden die Schatten länger. Ein Mensch wäre nach der Anstrengung, das mächtige Pferd auf offenem Gelände zu kontrollieren, halb tot gewesen. Allerdings hatten mir die Ereignisse vom Vormittag wieder vor Augen geführt, dass Matthew kein Mensch, sondern ein Vampir war – mit zahllosen Geheimnissen, einer komplizierten Vergangenheit und furchterregenden Feinden.
Über uns schloss sich eine Tür.
»Er ist wieder da. Jetzt geht er ins Zimmer seines Vaters, so wie immer, wenn er sich Sorgen macht«, erklärte Ysabeau.
Matthews wunderschöne junge Mutter saß mit leerem Blick am Feuer, während ich die Hände im Schoß rang und nichts von dem, was Marthe mir servierte, anrühren wollte. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, aber die Leere in mir hatte nichts mit Hunger zu tun.
Ich fühlte mich wie zerschlagen, denn mein bis dahin so sorgsam geordnetes Leben war nur noch ein Scherbenhaufen. Der Abschluss in Oxford, die Stelle in Yale, meine sorgfältig recherchierten Bücher hatten meinem Leben Sinn und Struktur verliehen. Aber in dieser fremden neuen Welt voller gefährlicher Vampire und bedrohlicher Hexen bot mir all das keinen Trost mehr. Ich fühlte mich elend und angreifbar, ich war auf Gedeih und Verderb an einen Vampir gekettet, und ich spürte unbestreitbar das Hexenblut in meinen Adern.
Endlich trat Matthew, frisch geduscht und angekleidet, in den Salon. Sein Blick kam sofort auf mir zu liegen und flatterte über mich hinweg. Als er sich überzeugt hatte, dass ich wohlbehalten war, löste sich die Verhärtung um seine Mundwinkel erleichtert auf.
Ansonsten hatte das Wesen, das den Salon betreten hatte, nichts mit dem Matthew zu tun, den ich kannte. Das war nicht der elegante, charmante Vampir, der mit einem ironischen Lächeln und einer Frühstückseinladung in mein Leben getreten war. Es war auch nicht der in seine Arbeit vertiefte Wissenschaftler, den die Frage umtrieb, warum er hier war. Und ich konnte nichts mehr von dem Matthew entdecken, der mich noch am Vorabend in seine Arme gezogen und mich so leidenschaftlich und intensiv geküsst hatte.
Der neue Matthew wirkte kühl und leidenschaftslos. Die wenigen weichen Stellen, die er bis dahin gehabt hatte – seine Mundpartie, die empfindsamen Hände, die ruhigen Augen –, waren harten Kanten und Winkeln gewichen. Er kam mir älter vor, und in der Mischung aus Müdigkeit und vorsichtiger Distanz spiegelte sich jede Minute seiner fast fünfzehnhundert Lebensjahre wider.
Im Kamin knallte ein Holzscheit. Die Funken trudelten blutorangenrot in den Rost und lenkten meinen Blick ab.
Im ersten Moment war alles nur rot. Dann bekam das Rot eine Struktur und faserte sich in Stränge auf, an denen hier und da Gold und Silber glänzte. Die Struktur wurde fester – zu Haar, Sarahs Haar. Meine Finger zerrten den Träger des Rucksacks von meiner Schulter, den ich genauso gewichtig scheppernd auf den Wohnzimmerboden fallen ließ wie mein Vater an der Tür seine Aktentasche, wenn er abends heimkam.
»Ich bin zu Hause!« Meine Kinderstimme klang hoch und gut gelaunt. »Krieg ich Kekse?«
Sarah wandte den Kopf, und das rotorange Haar schien im Halbdunkel des Spätnachmittags Funken zu werfen.
Trotzdem war ihr Gesicht kalkweiß.
Das Weiß überlagerte alle anderen Farben, wurde zu Silber und nahm eine schuppenartige Struktur an. Ein Kettenhemd schmiegte sich um einen vertrauten, muskulösen Körper. Matthew.
»Ich bin fertig.« Seine weißen Hände zerrten an einer schwarzen Tunika mit silbernem Kreuz auf der Brust und rissen sie an den Schultern ein. Dann warf er sie jemandem vor die Füße, drehte sich um und stolzierte davon.
Ich blinzelte, und die Vision löste sich auf und wich den warmen Farbtönen im Salon von Sept-Tours; trotzdem blieb das verstörende Wissen um das, was gerade passiert war. Genau wie bei dem Hexenwind hatte mich nichts darauf vorbereitet, dass diese verborgene Gabe zum Leben erwachen würde. Waren die Visionen meiner Mutter genauso plötzlich und klar über sie gekommen? Ich sah mich um, doch dass etwas passiert war, war offenbar allein Marthe aufgefallen, die mich mütterlich besorgt ansah.
Matthew ging zu Ysabeau und küsste sie auf beide makellos weißen Wangen. »Es tut mir so leid, Maman«, murmelte er.
»Hein, er war schon immer ein Schwein. Du kannst nichts dafür.« Sanft drückte Ysabeau die Hand ihres Sohnes. »Ich bin froh, dass du zu Hause bist.«
»Er ist weg. Heute Nacht brauchen wir uns seinetwegen keine Sorgen zu machen«, bekundete Matthew mit schmalen Lippen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar.
»Trinkt.« Offenbar hing Marthe der alten Schule an, dass sich jede Krise durch Essen oder Trinken bekämpfen ließ. Sie reichte Matthew ein Glas Wein und stellte einen Tee neben mir ab. Die Tasse blieb unberührt auf dem Tisch stehen und ließ kleine Dampftentakel aufsteigen.
»Danke, Marthe.« Matthew nahm einen tiefen Zug. Dabei kam sein Blick auf mir zu liegen, doch als er den Wein hinunterschluckte, sah er schon wieder weg. »Mein Telefon«, sagte er und verschwand in sein Arbeitszimmer.
Gleich darauf kam er die Stufen wieder herunter. »Für dich.« Er überreichte mir das Telefon so, dass sich unsere Hände nicht berührten.
Ich wusste, wer mich anrief. »Hallo, Sarah.«
»Seit über acht Stunden versuche ich dich anzurufen. Was in aller Welt ist los?« Sarah wusste, dass sich Unheil zusammenbraute – sonst hätte sie bestimmt nicht bei einem Vampir angerufen. Ihre Stimme war so angespannt, dass ich wieder ihr bleiches Gesicht vor Augen hatte. Sie war nicht nur traurig, sondern zutiefst verstört gewesen.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich, weil ich ihr nicht noch mehr Angst machen wollte. »Ich bin mit Matthew zusammen.«
»Dass du mit Matthew zusammen bist, hat dich in Schwierigkeiten gebracht.«
»Sarah, ich kann jetzt nicht reden.« Das Letzte, was ich brauchte, war ein offener Streit mit meiner Tante.
Sie holte tief Luft. »Diana, es gibt ein paar Dinge, die du wissen solltest, bevor du dich einem Vampir an den Hals wirfst.«
»Wirklich?« Mein Zorn flammte wieder auf. »Und jetzt ist deiner Meinung nach der Zeitpunkt gekommen, mir von dem Pakt zu erzählen? Du weißt nicht rein zufällig, welche Hexen zurzeit in der Kongregation sitzen, oder? Ich hätte ihnen einiges zu sagen.« Meine Finger brannten, und die Haut unter meinen Nägeln verfärbte sich strahlend blau.
»Du hast dich von deinen Kräften losgesagt, Diana, und dich stets geweigert, über Magie zu sprechen. Der Pakt war für dich ebenso irrelevant wie die Kongregation.« Sarah klang ein bisschen kleinlaut.
Mein bitteres Lachen trug dazu bei, das Blau in meinen Fingern abzumildern. »Du kannst dich rechtfertigen, wie du willst, Sarah. Nachdem Mom und Dad umgebracht worden waren, hättest du mich aufklären sollen, statt mich immer nur mit rätselhaften, vagen Halbwahrheiten abzuspeisen. Jetzt ist es zu spät. Ich muss mit Matthew sprechen. Ich rufe morgen wieder an.« Nachdem ich die Verbindung getrennt und das Telefon auf das Kissen zu meinen Füßen geschleudert hatte, schloss ich die Augen und wartete darauf, dass das Kribbeln in meinen Fingern wieder nachließ.
Alle drei Vampire starrten mich an – das spürte ich genau.
»Und«, sagte ich in die Stille hinein, »müssen wir noch weitere Besucher aus der Kongregation erwarten?«
Matthews Mund spannte sich. »Nein.«
Es war eine schon fast unhöflich knappe Antwort, aber zumindest war es die Antwort, die ich mir erhofft hatte. Während der letzten Tage waren mir Matthews Stimmungsumschwünge erspart geblieben, und ich hatte beinahe vergessen, wie verstörend sie sein konnten. Seine nächsten Worte fegten meine Hoffnungen, dass das Unwetter an mir vorüberziehen würde, beiseite.
»Es wird keine weiteren Besuche mehr geben, weil wir den Pakt einhalten werden. Wir bleiben noch ein paar Tage hier und kehren dann nach Oxford zurück. Wärst du damit einverstanden, Maman?«
»Natürlich«, erwiderte Ysabeau sofort. Sie seufzte erleichtert auf.
»Wir sollten die Standarte gehisst lassen«, fuhr Matthew sachlich fort. »Das Dorf sollte auch weiterhin auf der Hut sein.«
Ysabeau nickte, und ihr Sohn trank wieder einen Schluck Wein. Ich starrte erst ihn und dann sie an. Keiner reagierte auf meine stille Aufforderung, deutlicher zu werden.
»Erst vor ein paar Tagen hast du mich aus Oxford weggeholt«, sagte ich, nachdem niemand auf meine wortlose Aufforderung reagieren wollte.
Matthew hob den Kopf und bedachte mich mit einem abweisenden Blick. »Und jetzt fährst du zurück«, antwortete er gleichmütig. »Bis dahin wird es keine Spaziergänge außerhalb des Anwesens mehr geben. Und keine einsamen Ausritte.« Seine kühle Reaktion machte mir mehr Angst als alles, was Domenico gesagt hatte.
»Und?«, bohrte ich nach.
»Keine Tänze mehr.« Matthews barsche Antwort ließ vermuten, dass unter diesen Oberbegriff auch eine ganze Reihe anderer Aktivitäten fielen. »Wir werden uns an die Regeln der Kongregation halten. Wenn wir aufhören, sie zu provozieren, werden sie sich hoffentlich wichtigeren Dingen zuwenden.«
»Ich verstehe. Ich soll mich also tot stellen. Und du gibst deine Arbeit und Ashmole 782 auf? Das kannst du mir nicht erzählen.« Ich stand auf und ging zur Tür.
Matthews Hand kam schwer auf meinem Arm zu liegen. Dass er mich so schnell erreicht hatte, widersprach sämtlichen physikalischen Gesetzen.
»Setz dich, Diana.« Seine Stimme war so fest wie sein Griff, trotzdem war ich seltsam erleichtert, dass er überhaupt Gefühle zeigte.
»Warum gibst du nach?«, flüsterte ich.
»Ich will nicht, dass die Menschen auf uns aufmerksam werden – und dass du getötet wirst.« Er zog mich zum Sofa zurück und drückte mich in die Polster. »Diese Familie ist keine Demokratie und schon gar nicht in Zeiten wie diesen. Wenn ich dir sage, dass du etwas tun sollst, dann tust du es, ohne zu zögern und ohne zu fragen. Verstanden?« Matthews Tonfall ließ erkennen, dass für ihn die Sache damit geklärt war.
»Sonst?«
Er stellte den Wein ab, und in dem Kristallkelch brach sich das Kerzenlicht.
Ich merkte, wie ich fiel, diesmal in tiefes Wasser.
Das Wasser verwandelte sich zu einem Tropfen, einem Tränentropfen, der auf einer weißen Wange glänzte.
Sarahs Wangen waren tränennass, ihre Augen waren rot und verschwollen. Em war in der Küche. Sie kam zu uns, und ich sah, dass sie ebenfalls geweint hatte. Sie war völlig aufgelöst.
»Was ist?« Die Angst schnürte mir den Magen zu. »Was ist passiert?«
Sarah wischte sich über die Augen, mit fleckigen Fingern von den Kräutern und Gewürzen, die sie für ihre Zaubersprüche verarbeitet hatte.
Ihre Finger wurden länger, die Flecken verschwanden.
»Was ist denn?«, fragte Matthew mit wildem Blick und wischte mit weißen Fingern eine winzige, blutige Träne von einer genauso weißen Wange. »Was ist passiert?«
»Hexen. Sie haben deinen Vater«, sagte Ysabeau mit brechender Stimme.
Die Vision löste sich auf, und ich sah Matthew an, weil ich hoffte, dass mich seine Augen genau wie sonst in Bann schlagen und aus meiner Verwirrung erlösen würden. Sobald sich unsere Blicke trafen, kam er zu mir und blieb vor mir stehen. Trotzdem spendete mir seine Nähe diesmal keinen Trost.
»Ich würde dich eher selbst töten als zuzulassen, dass dir jemand wehtut.« Die Worte wollten ihm kaum über die Lippen. »Und ich will dich nicht töten. Also tu bitte, was ich dir auftrage.«
»Das ist alles?«, fragte ich, als ich wieder einen Ton herausbrachte. »Wir beugen uns einer uralten, engstirnigen Übereinkunft, die vor fast tausend Jahren geschlossen wurde. Fall erledigt?«
»Die Kongregation darf dich auf keinen Fall ins Visier nehmen. Du kannst deine Magie nicht kontrollieren und weißt immer noch nicht, in welcher Beziehung du zu Ashmole 782 stehst. In Sept-Tours droht dir vielleicht keine Gefahr von Peter Knox, Diana, aber ich habe dir ja gesagt, dass du nie ganz sicher sein kannst, solange du dich unter Vampiren aufhältst. Das ist kein Warmblüter. Jemals.«
»Du würdest mir nichts tun.« Trotz allem, was in den letzten Tagen passiert war, war ich mir in diesem Punkt ganz sicher.
»Du hängst immer noch deinen romantischen Vorstellungen vom Leben eines Vampirs an, dabei habe ich meinen Blutdurst nie verloren, sosehr ich auch dagegen ankämpfe.«
Ich winkte ab. »Du hast Menschen getötet. Das weiß ich, Matthew. Du bist ein Vampir, und du lebst seit Jahrhunderten. Meinst du, ich würde glauben, dass du immer nur Tiere erlegt hast?«
Ysabeau beobachtete ihren Sohn genau.
»Du weißt, dass ich Menschen getötet habe, sagst du, aber deshalb weißt du noch lange nicht, was das wirklich bedeutet, Diana. Du hast keine Ahnung, wozu ich fähig bin.« Er berührte seinen Talisman und ging mit ein paar schnellen, ungeduldigen Schritten auf Abstand.
»Ich kenne dich.« Auch daran hatte ich keinen Zweifel. Ich fragte mich, wieso ich mir bei Matthew instinktiv so sicher war, wenn gleichzeitig immer deutlicher wurde, wie brutal Vampire – und auch Hexen – sein konnten.
»Du kennst nicht einmal dich selbst. Und bis vor drei Wochen hattest du noch nie von mir gehört.« Matthews Blick zuckte rastlos umher, und seine Hände zitterten genauso stark wie meine. Trotzdem beunruhigte mich das weniger als die Tatsache, dass sich Ysabeau in ihrem Sessel aufgesetzt hatte. Er griff nach einem Schürhaken, stieß damit zornig ins Feuer und warf ihn dann beiseite. Scheppernd schlug das Metall gegen den Stein und kerbte sich in die harte Oberfläche wie in Butter.
»Wir werden das alles klären. Gib uns noch etwas Zeit.« Ich bemühte mich, möglichst sanft und beschwichtigend zu sprechen.
»Da gibt es nichts zu klären.« Inzwischen marschierte Matthew auf und ab. »Du besitzt zu viele ungezügelte Kräfte. Die wirken wie eine Droge – eine gefährliche Droge mit extrem hohem Suchtpotenzial –, von der andere Wesen unbedingt kosten möchten. Du wirst immer in Gefahr sein, solange eine Hexe oder ein Vampir in deiner Nähe ist.«
Ich klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber der Fleck, auf dem er eben noch gestanden hatte, war leer. Matthews eisige Finger legten sich unter mein Kinn und hoben mich hoch.
»Ich bin ein Raubtier, Diana.« Seine Stimme klang wie die eines Liebhabers. Das dunkle Nelkenaroma betörte mich. »Ich muss jagen und töten, um zu überleben.« Er drehte mein Gesicht mit einem schmerzhaften Griff zur Seite und legte dabei meinen Hals frei. Rastlos tasteten seine Augen meinen Nacken ab.
»Matthew, lass Diana los.« Ysabeau klang völlig unbeteiligt, und auch mich konnte er damit nicht erschüttern. Aus irgendeinem Grund versuchte er mich abzuschrecken, aber mir drohte keine Gefahr – anders als vorhin bei Domenico.
»Sie glaubt, sie würde mich kennen, Maman«, schnurrte er. »Aber Diana weiß nicht, wie es ist, wenn sich dein Magen vor Lust auf einen Warmblüter zusammenzieht, bis du fast verrückt wirst. Oder wie schwer es mir fällt, ihr so nahe zu sein, ohne sie zu kosten.«
Ysabeau erhob sich, blieb aber vor ihrem Sessel stehen. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, ihr das zu zeigen, Matthew.«
»Verstehst du, es geht nicht nur darum, dass ich dich auf der Stelle töten könnte«, fuhr er fort, als hätte er seine Mutter gar nicht gehört. »Ich könnte dich ganz langsam trinken, dir dein Blut stehlen und dann abwarten, bis es sich wieder neu gebildet hat, nur um am nächsten Tag von Neuem zu beginnen.« Seine Hand wanderte von meinem Kinn weiter an mein Genick, und sein Daumen strich dabei über meine Halsschlagader, als wollte er abschätzen, wo genau er mir die Zähne ins Fleisch schlagen sollte.
»Hör auf«, sagte ich scharf.
Matthew ließ mich unvermittelt auf den weichen Teppich fallen. Bis ich den Aufprall spürte, stand der Vampir schon an der Wand gegenüber, den Rücken mir zugewandt und mit gesenktem Kopf.
Ich starrte auf das Teppichmuster unter meinen Händen und Knien.
Ein Farbenwirbel, zu bunt, um die einzelnen Farben zu unterscheiden, drehte sich vor meinen Augen.
Es waren Blätter, die vor dem blauen Himmel tanzten – grün, braun, blau und gold.
»Es geht um deine Mom und deinen Dad«, erklärte mir Sarah gepresst. »Sie sind tot. Sie sind nicht mehr da, mein Schatz.«
Ich löste den Blick von dem Teppich und sah auf den Vampir, der mit dem Rücken zu mir an der Wand stand.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist, Diana?« Als Matthew sich umdrehte, war das Raubtier verschwunden, und ich sah die Sorge in seinem Blick.
Der Farbenwirbel schlug mich wieder in Bann – grün, braun, blau, gold. Es waren Blätter, die in einem kleinen Strudel auf einem Teich kreisten und um mich herum zu Boden trudelten. Ein Bogen, gekrümmt und poliert, stand neben einigen Pfeilen und einem halb leeren Köcher.
Ich griff nach dem Bogen und spürte, wie mir die straffe Sehne ins Fleisch schnitt.
»Matthew«, warnte Ysabeau und schnupperte unauffällig.
»Ich weiß, ich rieche es auch«, bestätigte er grimmig.
Er gehört zu dir, flüsterte eine fremde Stimme. Du darfst ihn nicht gehen lassen.
»Ich weiß«, murmelte ich ungeduldig.
»Was weißt du, Diana?« Matthew kam einen Schritt auf mich zu.
Augenblicklich war Marthe an meiner Seite. »Lass sie«, zischte sie. »Das Kind ist nicht in dieser Welt.«
Ich war nirgendwo, ich hing fest zwischen dem grauenhaften Schmerz über den Tod meiner Eltern und dem sicheren Wissen, dass ich auch Matthew bald verlieren würde.
Sei vorsichtig, warnte mich die fremde Stimme.
»Dafür ist es zu spät.« Ich hob die Hand vom Boden, schlug damit auf den Bogen und zerschmetterte ihn in zwei Hälften. »Viel zu spät.«
»Wofür ist es zu spät?«, fragte Matthew.
»Ich liebe dich bereits.«
»Das geht nicht«, sagte er wie betäubt. Bis auf das Knistern des Feuers war es absolut still im Raum. »Dafür ist es zu früh.«
»Was versteht ihr Vampire schon von Zeit?«, sinnierte ich laut, immer noch gefangen in meinem irritierenden Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dennoch hatte sich bei dem Wort »Liebe« ein warmes, besitzergreifendes Gefühl in mir ausgebreitet, das mich ins Hier und Jetzt zurückzog. »Hexen können sich nicht ein paar Jahrhunderte Zeit lassen, um sich zu verlieben. Bei uns geht das ganz schnell. Sarah hat mir erzählt, meine Mutter hätte sich in meinen Vater verliebt, als sie ihn das erste Mal sah. Ich liebe dich, seit ich beschlossen habe, dir am Steg nicht das Ruder über den Schädel zu ziehen.« Das Blut in meinen Adern begann zu summen. Marthe sah mich verdattert an, woraus ich schloss, dass sie es ebenfalls hören konnte.
»Du begreifst nicht.« Es hörte sich an, als würde Matthew, genau wie der Bogen, gleich in zwei Hälften zerbrechen.
»Und ob. Die Kongregation wird mir Schwierigkeiten machen, aber niemand kann mir vorschreiben, wen ich lieben darf und wen nicht.« Seit mir meine Eltern geraubt worden waren, hatte ich ängstlich und eifrig immer getan, was man mir auftrug. Jetzt war ich erwachsen, und ich würde für Matthew kämpfen.
»Domenicos Drohungen sind nichts, verglichen mit dem, was du von Peter Knox zu erwarten hättest. Das heute war ein Versöhnungsangebot, eine diplomatische Mission. Du bist noch lange nicht so weit, dass du dich gegen die Kongregation stellen könntest, Diana. Und selbst wenn du dich widersetzt, was dann? Die alten Feindseligkeiten könnten wieder aufbrechen, außer Kontrolle geraten, und die Menschen könnten auf uns aufmerksam werden. Vielleicht müsste deine Familie darunter leiden.« Matthews brutale Worte sollten mich aufhalten und nachdenklich machen. Aber nichts, was er sagte, konnte das aufwiegen, was ich für ihn empfand.
»Ich liebe dich, und ich werde nicht damit aufhören.« Auch darin war ich mir sicher.
»Du liebst mich nicht.«
»Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich tun soll, Matthew. Meine Vorstellungen von euch Vampiren sind vielleicht romantisch, aber eure Einstellung zu Frauen gehört gründlich überarbeitet.«
Ehe er etwas darauf erwidern konnte, begann sein Telefon über die Ottomane zu hüpfen. Er stieß einen okzitanischen Fluch aus, der offenbar so wüst war, dass selbst Marthe erschrocken die Augen aufriss. Dann bückte er sich und griff nach dem Telefon, bevor es auf den Boden rutschen konnte.
»Was gibt’s?«, fragte er, den Blick fest auf mich gerichtet.
Am anderen Ende der Leitung hörte ich leises Gemurmel. Marthe und Ysabeau tauschten einen besorgten Blick.
»Wann?« Matthews Frage kam wie ein Schuss. »Haben sie etwas mitgenommen?« Er klang so zornig, dass ich ein Stück abrückte. »Gott sei Dank. Wurde etwas beschädigt?«
Irgendetwas war in Oxford passiert, nachdem wir abgereist waren, wahrscheinlich ein Einbruch, so wie es sich anhörte. Ich hoffte, dass es nicht die Old Lodge getroffen hatte.
Die Stimme am anderen Ende redete weiter. Matthew presste sich die Hand auf die Augen.
»Was noch?«, fragte er deutlich lauter.
Wieder blieb es lange still. Er wandte sich ab, trat an den Kamin und stützte die rechte Hand flach gegen den Sims.
»So viel zu den diplomatischen Bemühungen.« Matthew fluchte leise vor sich hin. »In ein paar Stunden bin ich da. Kannst du mich abholen?«
Wir würden nach Oxford zurückkehren. Ich stand auf.
»Fein. Ich rufe an, wenn ich lande. Und, Marcus? Du musst herausfinden, wer außer Peter Knox und Domenico Michele noch in der Kongregation sitzt.«
Peter Knox? Die Puzzleteile begannen sich zu ordnen. Kein Wunder, dass Matthew so schnell nach Oxford zurückgekommen war, nachdem ich ihm erzählt hatte, wer der braune Hexer war. Und es erklärte auch, warum er mich jetzt so energisch auf Abstand halten wollte. Wir waren dabei, den Pakt zu brechen, und Knox hatte die Aufgabe, genau so etwas zu unterbinden.
Nach dem Gespräch blieb Matthew ein paar Sekunden lang reglos stehen, eine Hand zur Faust geballt, so als könnte er sich nur mit Mühe beherrschen und würde am liebsten den Steinsims zermalmen.
»Das war Marcus. Jemand wollte ins Labor einbrechen. Ich muss sofort zurück nach Oxford.« Er drehte sich um und sah mich mit leerem Blick an.
»Ist alles in Ordnung?« Ysabeau warf mir einen besorgten Blick zu.
»Sie haben es nicht durch die Alarmanlagen geschafft. Trotzdem muss ich mit der Universitätsleitung sprechen, um sicherzustellen, dass der oder die Täter auch beim nächsten Mal nicht erfolgreich sind.« Nichts, was Matthew sagte, ergab Sinn. Warum war er nicht erleichtert, wenn die Einbrecher erfolglos wieder abgezogen waren? Und warum sah er seine Mutter kopfschüttelnd an?
»Wer war das?«, fragte ich argwöhnisch.
»Marcus ist sich nicht sicher.«
Das war eigenartig, angesichts des ausgeprägten Geruchssinnes der Vampire. »Waren es Menschen?«
»Nein.« Offenbar waren wir zu den einsilbigen Antworten zurückgekehrt.
»Ich hole meine Sachen.« Ich machte mich auf den Weg zur Treppe.
»Du kommst nicht mit. Du bleibst hier.« Matthews Worte bremsten mich abrupt.
»Ich wäre lieber in Oxford«, protestierte ich. »Mit dir zusammen.«
»Oxford ist im Moment nicht sicher. Ich komme so schnell wie möglich zurück.«
»Gerade eben hast du mir noch erklärt, dass wir dorthin zurückkehren sollten! Entscheide dich endlich, Matthew. Von wem droht mir Gefahr? Von den Hexen und dem Manuskript? Peter Knox und der Kongregation? Oder von Domenico Michele und den Vampiren?«
»Hast du nicht zugehört? Ich bin die Gefahr.« Matthews Stimme schnitt scharf durch die Luft.
»O ja, ich habe dir zugehört. Aber du hältst etwas vor mir geheim. Und ich als Historikerin bin sehr gut darin, Geheimnisse aufzudecken.« Er wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor. »Keine Ausflüchte mehr und keine vorgeschobenen Erklärungen. Flieg nach Oxford. Ich bleibe hier.«
»Brauchst du noch etwas von oben?«, fragte Ysabeau. »Du solltest dir einen Mantel überziehen. Wenn du nur einen Pullover trägst, fällst du auf.«
»Nur meinen Computer. Der Pass liegt in der Tasche.«
»Ich gehe ihn holen.« Ich stürmte die Treppe hinauf, denn ich brauchte eine Verschnaufpause. In Matthews Arbeitszimmer ließ ich die Augen durch den Raum wandern, der so viel über ihn verriet.
Die im Feuerschein blinkende silberne Rüstung fesselte meinen Blick, und eine Reihe von Gesichtern zog durch meinen Kopf, blitzartige Visionen, die gleich wieder verglühten wie Sternschnuppen. Ich sah eine bleiche Frau mit riesigen blauen Augen und einem süßen Lächeln, dann eine weitere Frau, deren festes Kinn und durchgestreckte Schultern Entschlossenheit verrieten, einen Mann mit Hakennase, der schreckliche Schmerzen erdulden musste. Ich sah noch mehr Gesichter, aber nur eines war mir bekannt – das von Louisa de Clermont, die sich ihre bluttriefenden Finger vors Gesicht hielt.
Ich widerstand dem Sog der Vision, bis die Gesichter verblassten, aber das war so anstrengend, dass ich am ganzen Leib zu zittern begann und mich wie benebelt fühlte. Aus der DNA-Analyse wusste ich, dass ich die Anlage zum zweiten Gesicht besaß. Aber ich war auf die Erfahrung genauso wenig vorbereitet wie gestern auf die Erkenntnis, dass ich in Matthews Armen schwebte. Es war, als hätte jemand den Stöpsel von einer Flasche gezogen, und jetzt würden sich meine magischen Fähigkeiten ungehindert aus mir ergießen.
Als ich endlich in der Lage war, den Stecker aus der Dose zu ziehen, packte ich ihn zusammen mit dem Computer in Matthews Tasche. Sein Pass steckte vorn im Fach, genau wie er gesagt hatte.
Als ich in den Salon zurückkam, war nur noch Matthew da, die Schlüssel in der Hand und ein Wildledersakko über den Schultern. Marthe hastete brummelnd in der großen Halle umher.
Ich übergab ihm den Computer und trat sofort einen Schritt zurück, weil ich sonst der Versuchung, ihn zu berühren, nicht würde widerstehen können. Matthew steckte die Schlüssel ein und nahm die Tasche an sich.
»Ich weiß, das ist schwer für dich.« Er klang gedämpft und unnahbar. »Aber du musst mich das regeln lassen. Und ich muss wissen, dass dir währenddessen nichts passieren kann.«
»In deiner Nähe kann mir nichts passieren, ganz gleich, wo wir sind.«
Er schüttelte den Kopf. »Mein Name hätte genügen müssen, um dich zu beschützen. Das hat er nicht.«
»Mich zurückzulassen ist keine Lösung. Ich verstehe nicht alles, was heute passiert ist, aber Domenicos Hass trifft nicht nur mich. Er will deine Familie zerstören und alles, was dir je wichtig war. Vielleicht kommt Domenico tatsächlich zu dem Schluss, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für seine Vendetta ist. Aber Peter Knox? Er will Ashmole 782 und ist überzeugt, dass ich es ihm beschaffen kann. Ihn wirst du nicht so leicht kaltstellen können.« Mich schauderte.
»Ich werde ihm einen Handel anbieten, den er nicht abschlagen kann.«
»Einen Handel? Was willst du ihm denn anbieten?«
Der Vampir blieb stumm.
»Matthew?«, hakte ich nach.
»Das Manuskript«, erklärte er knapp. »Ich werde ihm versprechen, dass ich die Finger davon – und von dir – lassen werde, wenn er das Gleiche verspricht. Ashmole 782 lag anderthalb Jahrhunderte unangetastet in der Bibliothek. Dort wird es auch bleiben.«
»Du kannst Knox keinen Handel anbieten. Dazu müsstest du ihm trauen können.« Die Vorstellung machte mir Angst. »Außerdem kannst du ruhig ein paar Jahrhunderte auf das Manuskript warten. Knox nicht. Dein Angebot bringt ihm nichts.«
»Überlass Knox nur mir«, meinte er barsch.
Jetzt riss mir der Geduldsfaden. »Ich soll Domenico dir überlassen. Ich soll Knox dir überlassen. Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Du hast gesagt, ich bin keine Jungfer in Nöten. Dann hör endlich auf, mich wie eine zu behandeln.«
»Ich nehme an, das habe ich verdient«, sagte er langsam und mit düsterem Blick. »Trotzdem musst du noch viel über Vampire lernen.«
»Das hat deine Mutter schon gesagt. Aber du hast auch noch einiges über Hexen zu lernen.« Ich schob mir die Strähne aus dem Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. »Flieg nach Oxford. Finde heraus, was dort passiert ist.« Was dort passiert ist und was du mir nicht verraten willst. »Aber verhandle um Gottes willen nicht mit Peter Knox, Matthew. Werde dir darüber klar, was du für mich empfindest – unabhängig davon, was der Pakt verbietet oder die Kongregation will oder was Peter Knox und Domenico Michele dir androhen.«
Mein geliebter Vampir, dessen Gesicht jeden Engel neidisch gemacht hätte, sah mich bekümmert an. »Du weißt, was ich für dich empfinde.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, weiß ich nicht. Sag es mir, wenn du dazu bereit bist.«
Matthew schien etwas erwidern zu wollen, ließ es aber unausgesprochen. Wortlos ging er an die Tür zur Halle. Als er dort angekommen war, bedachte er mich mit einem langen Blick voller Schneeflocken und Frost und ging dann weiter.
Marthe erwartete ihn in der Halle. Er küsste sie kurz auf beide Wangen und sagte rasend schnell etwas auf Okzitanisch zu ihr.
»Compreni, compreni.« Sie nickte heftig und sah dabei auf mich.
»Mercés amb tot meu còr«, sagte er leise.
»Al rebèire. Mèfi.«
»T’afortissi.« Matthew sah mich an. »Und versprich du mir dasselbe – dass du aufpasst. Hör auf Ysabeau.«
Er verschwand ohne einen weiteren Blick oder eine letzte beruhigende Berührung.
Ich biss mir auf die Lippe und versuchte die Tränen hinunterzuschlucken, doch sie waren nicht aufzuhalten. Nachdem ich drei langsame Schritte auf die Treppe zum Wachturm zu gemacht hatte, begannen meine Füße zu rennen und meine Tränen zu laufen. Marthe ließ mich mit einem verständnisvollen Blick gehen.
Als ich oben in die kalte, feuchte Luft trat, klatschte die Standarte der de Clermonts schlaff hin und her, und dichte Wolken verdeckten den Mond. Die Dunkelheit drängte von allen Seiten auf mich ein, und das einzige Wesen, das sie in Schach halten konnte, nahm eben das letzte Licht mit sich fort.
Ich spähte über die Brüstung und sah Matthew neben dem Range Rover stehen und wütend auf Ysabeau einreden. Sie sah erschrocken aus und hielt seinen Ärmel fest, als wollte sie ihn davon abhalten, in den Wagen zu steigen.
In einem weißen, verschwommenen Blitz befreite er seinen Arm. Seine Faust donnerte kurz und fest auf das Autodach. Ich zuckte zusammen. In meiner Nähe hatte Matthew seine Kraft höchstens an einer Walnuss oder einer Austernschale ausgelassen, und die Beule, die er mit seinem Hieb geschlagen hatte, war beängstigend tief.
Er ließ den Kopf hängen. Ysabeau strich ihm leicht über die Wange, und sein erschöpftes Gesicht war im Dämmerlicht fahler denn je. Schließlich stieg er unter ein paar Abschiedsworten ein. Seine Mutter nickte und sah kurz zum Wachtturm hoch. Ich trat zurück, in der Hoffnung, dass keiner von beiden mich gesehen hatte. Der Wagen wendete, die schweren Reifen knirschten über den Kies, und dann fuhr Matthew los.
Die Rücklichter des Range Rovers verschwanden unten am Hügel. Sobald Matthew nicht mehr zu sehen war, rutschte ich an den Steinen der Brüstung hinab und ließ den Tränen freien Lauf.
Und dann begriff ich, was eine Hexenflut war.