20

Zu meiner Erleichterung aß Ysabeau auch nicht mit uns zu Mittag. Danach wollte ich direkt in Matthews Arbeitszimmer und die Aurora Consurgens studieren, aber er überredete mich, zuerst ein Bad zu nehmen. Das würde, versprach er mir, den unvermeidlichen Muskelkater abschwächen. Auf halber Treppe musste ich stehenbleiben und einen Krampf aus meinem Bein massieren. Für meine morgendliche Begeisterung würde ich bezahlen müssen.

Das Bad war himmlisch  – lang, heiß und entspannend. Danach zog ich eine lockere schwarze Hose, einen Pulli und ein Paar Socken an und tappte dann nach unten, wo ein Feuer im Kamin loderte. Ich streckte die Hände den Flammen entgegen und beobachtete, wie sie meine Haut orange und rot einfärbten. Wie war es wohl, über das Feuer gebieten zu können? Kaum hatte ich mir die Frage gestellt, begannen meine Finger zu kribbeln, bis ich sie sicherheitshalber in die Hosentaschen schob.

Matthew sah von seinem Schreibtisch auf. »Das Manuskript liegt neben deinem Computer.«

Der schwarze Einband zog mich magnetisch an. Ich setzte mich an den Tisch, nahm das Buch vorsichtig in die Hand und schlug es auf. Die Farben leuchteten noch intensiver als in meiner Erinnerung. Nachdem ich die Königin ein paar Minuten lang angestarrt hatte, schlug ich die erste Seite um.

»Incipit tractatus Aurora Consurgens intitulatus.« Die Worte waren mir vertraut: »Hier beginnt das Traktat über die aufsteigende Morgenröte«, und trotzdem überlief mich derselbe lustvolle Schauer wie jedes Mal, wenn ich ein Manuskript zum ersten Mal in Augenschein nahm. »Alles Gute kommt mit ihr zu mir. Sie ist bekannt als Weisheit des Südens, die in den Straßen ruft und zu den Massen«, übersetzte ich den Text lautlos aus dem Lateinischen. Es war eine wunderschöne Arbeit, voller Paraphrasen aus der Heiligen Schrift und anderen Quellen.

»Hast du hier oben eine Bibel?« Es wäre klug, eine zur Hand zu haben, während ich mich durch das Manuskript arbeitete.

»Ja  – aber ich weiß nicht genau, wo sie steht. Soll ich sie für dich suchen?« Matthew hatte sich schon halb aus dem Stuhl erhoben, doch sein Blick haftete immer noch am Computerbildschirm.

»Nein, ich werde sie schon finden.« Ich stand auf und strich mit dem Finger über die Front des nächsten Regalfaches. Anders als in der Bibliothek unten waren Matthews Bücher nicht nach Größe, sondern nach dem Erscheinungsdatum geordnet. Die im ersten Regal waren so alt, dass ich es kaum ertrug, mir vorzustellen, was sie enthalten mochten  – die verlorengegangenen Werke des Aristoteles vielleicht? Alles war möglich.

Etwa die Hälfte der Bücher war mit dem Rücken zur Wand eingeordnet, um die zerbrechlichen Buchrücken zu schonen. Viele davon waren auf dem Vorderschnitt beschriftet, und hier und da war ein in dicker schwarzer Tinte notierter Titel oder Autorenname zu entziffern. Etwa ab der Hälfte des Raumes waren die Bücher mit dem Rücken zum Raum eingestellt, sodass die eingravierten Titel und Verfassernamen golden und silbern aus dem Regal leuchteten.

Ich schlenderte an den Handschriften mit ihren dicken, welligen Pergamentseiten vorbei, von denen einige am Schnitt mit griechischen Buchstaben beschriftet waren. Ich ging weiter, nach einem fetten, gedruckten Buch Ausschau haltend. Dann blieb mein Zeigefinger vor einem in braunes Leder gebundenen, üppig vergoldeten Band stehen.

»Matthew, bitte sag mir, dass die Biblia Sacra 1450 nicht das ist, was ich glaube.«

»Okay, sie ist nicht das, was du glaubst«, antwortete er geistesabwesend, während seine Finger weiter in übermenschlicher Geschwindigkeit über die Tasten flogen. Er achtete kaum darauf, was ich tat, und schon gar nicht darauf, was ich sagte.

Ich ließ die Gutenbergbibel im Fach stehen und ging weiter am Regal entlang, heimlich hoffend, dass dies nicht die einzige Bibel sein würde. Wieder blieb mein Finger stehen, diesmal vor einem Buch mit der Aufschrift Wills Stycke. »Haben Freunde dir diese Bücher geschenkt?«

»Die meisten.« Matthew sah nicht einmal auf.

Damit würden wir später nicht nur die deutsche Druckereikunst, sondern auch die Frühzeit des englischen Dramas erörtern müssen.

Größtenteils waren Matthews Bücher in fast jungfräulichem Zustand. Das überraschte mich angesichts ihres Besitzers eigentlich nicht. Einige allerdings sahen eindeutig zerlesen aus. Ein schlankes, hohes Buch im untersten Fach beispielsweise war an den Ecken so abgegriffen und abgewetzt, dass man die Holzbretter unter dem Leder erkennen konnte. Neugierig, wieso dieses Buch so eifrig benutzt worden war, zog ich es heraus und schlug es auf. Es war Vesalius’ Anatomiebuch aus dem Jahr 1543, in dem erstmals der sezierte menschliche Körper in allen Einzelheiten dargestellt worden war.

Jetzt hatte mich das Jagdfieber gepackt, ich gierte nach tieferen Einblicken in Matthews Wesen und suchte nach dem nächsten Buch, das stark beansprucht aussah. Es war ein kleinerer, dickerer Band. Auf dem Vorderschnitt war mit Tinte der Titel De motu vermerkt. William Harveys Studie über den Blutkreislauf und die Funktionsweise des Herzens musste, als sie 1620 erstmals veröffentlicht wurde, für jeden Vampir eine interessante Lektüre abgegeben haben, obwohl diese Wesen bestimmt schon immer geahnt hatten, wie das Blut zirkuliert.

Unter Matthews abgenutzteren Büchern fanden sich Werke über Elektrizität, Mikroskopie und Physiologie. Doch das zerlesenste Exemplar, das ich bis dahin entdeckt hatte, stand im Regal mit den Werken des neunzehnten Jahrhunderts: eine Erstausgabe von Darwins Vom Ursprung der Arten.

Ich sah kurz aus dem Augenwinkel auf Matthew und zog das Buch verstohlen wie ein Ladendieb aus dem Fach. Der grüne Leineneinband mit dem golden eingeprägten Titel und Autorennamen war vom vielen Lesen ausgefranst. Auf dem Vorsatzblatt hatte Matthew in gestochen scharfer Handschrift seinen Namen eingetragen.

Dahinter lag ein zusammengefalteter Brief.

 

»Verehrter Herr«, begann er. »Endlich erreichte mich Ihr Schreiben vom 15. Oktober. Ich fühle mich zutiefst beschämt, dass ich Ihnen erst jetzt antworte. Seit vielen Jahren habe ich alle Thatsachen gesammelt, derer ich in Bezug auf die Variationen und Ursprünge der Arten habhaft werden konnte, und Ihre Zustimmung zu meinen Überlegungen sind für mich durchaus erfreuliche Neuigkeiten, dieweil mein Werk bald in die Hände meines Verlegers übergehen wird.« Unterschrieben war der Brief mit »C. Darwin« und datiert mit dem Jahr 1859.

Die beiden Männer hatten nur Wochen vor dem Erscheinen des Ursprungs im November 1859 korrespondiert.

Die Buchseiten waren so ausgiebig mit Notizen in Bleistift und Tinte bedeckt, dass kaum ein Fleck weiß geblieben war. Drei Kapitel hatte der Vampir noch ausführlicher kommentiert als die übrigen. Es waren die Kapitel über den Instinkt, über Mischbildungen oder »Bastard-Bildungen«, wie sie damals genannt wurden, und über die wechselseitige Verwandtschaft organischer Körper.

Genau wie Harveys Abhandlung über den Blutkreislauf war Darwins siebtes Kapitel, in dem er sich mit den Instinkten beschäftigte, damals mit Sicherheit eine fesselnde Lektüre für jeden Vampir gewesen. Matthew hatte sich so für Darwins Ideen begeistert, dass er einzelne Passagen unterstrichen und über und unter dem Text sowie zwischen den Zeilen Anmerkungen notiert hatte. »Daraus lässt sich schließen, dass zahme Instinkte erworben wurden und natürliche Instinkte verloren gingen, teils durch Anpassung, teils durch den Menschen, der durch Auswahl über mehrere Generationen hinweg besondere geistige Eigenschaften und Fähigkeiten angezüchtet und angehäuft hat, die uns in unserer Unwissenheit anfangs nur zufällig erschienen.« Unter Matthews hingekritzelten Bemerkungen fanden sich die Fragen, welche Instinkte wohl erworben worden waren und ob es in der Natur Zufälle geben konnte. »Kann es sein, dass wir als Instinkt bewahrt haben, was die Menschen durch Zufall und Gewohnheit aufgaben?«, fragte er quer über den unteren Rand. Ich brauchte nicht zu fragen, wen er mit »wir« meinte. Er meinte alle magischen Geschöpfe  – nicht nur die Vampire, sondern auch Hexen und Dämonen.

Im Kapitel über die Mischbildungen hatte sich Matthew offenbar vor allem für die Probleme der Artenkreuzung und Sterilität interessiert. »Erste Kreuzungen zwischen Formen, die sich so weit unterscheiden, dass sie als eigene Art gelten können, sowie zwischen ihren Bastarden sind sehr oft, aber nicht immer unfruchtbar«, hatte Darwin geschrieben. Ein skizzierter Stammbaum füllte neben der unterstrichenen Passage den Seitenrand. Wo die Wurzeln hingehört hätten, war ein Fragezeichen zu sehen, weiter oben verzweigten sich vier Äste. »Warum führte Inzucht nicht zu Sterilität und Wahnsinn?«, rätselte Matthew quer über den Baumstamm. Oben an die Seite hatte er geschrieben: »1 Spezies oder 4?« und »comment sont faites les dēōs?«

Ich fuhr die Zeile mit dem Finger nach. Das war meine Spezialität  – die Kürzel der Wissenschaftler in etwas zu verwandeln, das auch normale Menschen verstanden. In seiner letzten Notiz hatte Matthew eine gängige Technik eingesetzt, um seine Gedanken zu verbergen. Er hatte in einer Kombination von Französisch und Latein geschrieben  – und aus gutem Grund noch dazu eine Abkürzung verwendet, indem er alle Konsonanten bis auf den ersten und letzten durch Querstriche über den Vokalen ersetzt hatte. Auf diese Weise würde niemand, der das Buch durchblätterte, auf das Wort »démons« stoßen und innehalten.

»Wie werden Dämonen gemacht?«, hatte sich Matthew 1859 gefragt. Anderthalb Jahrhunderte später suchte er immer noch nach der Antwort.

Als Darwin die wechselseitige Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Arten zu erörtern begann, hatte Matthews Stift kein Halten mehr gekannt und die ganze Seite vollgeschrieben, bis der gedruckte Text kaum noch zu entziffern war. Über eine Passage mit dem Wortlaut: »Vom Anbeginn des Lebens an gleichen sich alle organischen Wesen in Abstufungen, sodass man sie in Gruppen und Untergruppen klassifizieren kann«, hatte Matthew in fetten Druckbuchstaben »URSPRUNG« geschrieben. Ein paar Zeilen weiter unten hatte er eine weitere Passage gleich doppelt unterstrichen: Dass es verschiedene Gruppen gibt, wäre leicht erklärbar, wenn eine Gruppe ausschließlich für das Leben zu Lande und eine andere für das Leben im Wasser geeignet wäre; oder sich die einen von Fleisch, eine andere von Pflanzen ernährten und so weiter; aber es lässt sich nicht übersehen, dass oft Angehörige sogar derselben Untergruppe verschiedene Lebensgewohnheiten haben.«

Glaubte Matthew vielleicht, dass die Ernährung der Vampire nur eine spezielle Lebensweise darstellte und kein unumstößliches Merkmal der Spezies war? Beim Weiterlesen stieß ich auf den nächsten Hinweis: »Insgesamt scheinen mir die verschiedenen … Tatsachen, die in diesem Kapitel abgehandelt wurden, ganz offen zu verkünden, dass die unzähligen Arten, Gattungen und Familien organischer Wesen, mit denen diese Welt bevölkert ist, allesamt, wenn auch in verschiedenen Klassen oder Gruppen, von gemeinsamen Eltern abstammen und sich im Laufe der Fortpflanzung verändert haben.« Am Rand hatte Matthew »GEMEINSAME ELTERN« und »ce qui explique tout« vermerkt.

Der Vampir glaubte also, dass die Monogenese alles erklärte  – oder hatte das zumindest 1859 geglaubt. Matthew hielt es für möglich, dass Dämonen, Menschen, Vampire und Hexen von gemeinsamen Vorfahren abstammten. Unsere beträchtlichen Unterschiede ließen sich auf Abstammungslinien, Lebensgewohnheiten und Selektion zurückführen. In seinem Labor war er mir ausgewichen, als ich gefragt hatte, ob wir eine Spezies seien oder vier, doch hier in seiner Bibliothek konnte er das nicht.

Matthew starrte weiter in seinen Computer. Ich schloss die Aurora Consurgens, um die Seiten zu schützen, gab meine Suche nach einer gewöhnlichen Bibel auf und ging mit seiner Ausgabe des Darwin-Buches zum Kamin, wo ich mich auf dem Sofa zusammenrollte. Dort schlug ich es auf, um aus den Notizen, die Matthew in diesem Buch vorgenommen hatte, mehr über ihn zu erfahren.

Er war mir immer noch ein Rätsel  – ganz besonders hier in Sept-Tours. Der französische Matthew war anders als der englische. So hatte er sich dort nie in seine Arbeit vertieft. Hier hatte er die Schultern nicht angestrengt durchgestreckt, sondern saß entspannt da, und er hatte beim Tippen seine Unterlippe über den leicht hervorstehenden, scharfen Eckzahn gezogen. Matthew spürte meinen Blick gar nicht, seine Finger flogen über die Tastatur und hackten dabei erstaunlich kräftig auf den Computer ein. So empfindlich, wie Notebooks gebaut waren, hatte er bestimmt einen ganz schönen Verschleiß. Er kam am Ende eines Satzes an, lehnte sich zurück und räkelte sich. Dann gähnte er.

Ich hatte ihn noch nie gähnen sehen. Zeigte sein Gähnen, dass er entspannt war, genau wie die lockeren Schultern? Am Tag nach unserer ersten Begegnung hatte Matthew mir erzählt, dass er sich gern in seiner Umgebung auskannte. Hier kannte er jeden Zentimeter  – jeder Geruch war ihm ebenso vertraut wie jedes Tier, das hier umherstreifte. Und dann war da noch die Beziehung zu seiner Mutter und Marthe. Diese eigenwillige Kombination von Vampiren bildete eine Familie, die mich Matthews wegen aufgenommen hatte.

Ich widmete mich wieder Darwin. Aber das Bad, das wärmende Feuer und das leise Klacken der Computertasten im Hintergrund lullten mich ein. Als ich wieder aufwachte, lag eine Decke über mir und Vom Ursprung der Arten neben mir auf dem Boden, achtsam geschlossen und mit einem Zettel als Lesezeichen versehen.

Ich wurde rot.

Er hatte mich beim Schnüffeln erwischt.

»Guten Abend«, sagte Matthew vom Sofa gegenüber. Er schob einen Zettel in das Buch, das er gerade las, und legte es auf seinem Knie ab. »Kann ich dich vielleicht für ein Glas Wein begeistern?«

Wein klang sehr, sehr gut. »Auf jeden Fall.«

Matthew trat an ein kleines Tischchen neben der Treppe, das offenbar aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte. Darauf stand eine Flasche ohne Etikett, und der Korken lag bereits daneben. Er schenkte zwei Gläser ein und reichte mir eines, bevor er sich wieder hinsetzte. Ich schnupperte und wusste schon, was er gleich fragen würde.

»Himbeeren und Felsen.«

»Für eine Hexe bist du wirklich gut.« Matthew nickte anerkennend.

»Und was trinke ich?« Ich nahm einen kleinen Schluck. »Ist er alt? Selten?«

Matthew legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Weder noch. Wahrscheinlich wurde er vor fünf Monaten abgefüllt. Es ist ein hiesiger Wein aus den Weingütern an der Straße unten. Nichts Exklusives, nichts Besonderes.«

Vielleicht war er nicht exklusiv und nichts Besonderes, aber er war frisch und schmeckte nach Holz und Erde. Wie die Luft um Sept-Tours herum.

»Wie ich sehe, hast du deine Suche nach einer Bibel zugunsten von etwas Wissenschaftlicherem aufgegeben. Gefällt dir Darwin?«, fragte er freundlich, nachdem er mir kurz beim Trinken zugesehen hatte.

»Glaubst du immer noch, dass wir Geschöpfe und die Menschen von gemeinsamen Eltern abstammen? Ist es wirklich möglich, dass wir uns so unterscheiden, obwohl wir nur verschiedenen Rassen einer Art angehören?«

Er gab einen Laut der Ungeduld von sich. »Ich habe dir schon im Labor erklärt, dass ich das nicht weiß.«

»1859 warst du dir noch sicher. Außerdem dachtest du damals, dass das Bluttrinken möglicherweise nur eine Ernährungsform und kein artspezifisches Merkmal sein könnte.«

»Weißt du, wie viele wissenschaftliche Fortschritte seit Darwins Zeit gemacht wurden? Es ist das Recht jedes Wissenschaftlers, seine Ansichten zu ändern, wenn neue Informationen auftauchen.« Er nahm einen Schluck Wein, stellte das Glas dann auf seinem Knie ab und drehte es langsam, sodass sich die Flammen in der Flüssigkeit brachen. »Außerdem spricht inzwischen nicht mehr viel für die menschliche Idee der unterschiedlichen Rassen. Die moderne Forschung lässt vermuten, dass die meisten sogenannten Rassenmerkmale nicht mehr sind als eine überkommene menschliche Methode, leicht zu beobachtende Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen zu erklären.«

»Die Frage, warum du hier bist  – woher wir alle kommen  – lässt dich einfach nicht los«, stellte ich fest. »Das konnte ich auf jeder Seite in Darwins Buch erkennen.«

Matthew betrachtete sinnierend seinen Wein. »Es ist die einzige Frage, die sich zu stellen lohnt.«

Seine Stimme war sanft, doch die scharfen Linien und tief gezogenen Brauen verrieten, wie ernst es ihm war. Ich hätte die Falten gern geglättet und ein Lächeln auf sein Gesicht gezaubert, blieb aber sitzen, während der Flammenschein über seine weiße Haut und das dunkle Haar tanzte. Matthew griff wieder nach seinem Buch und hielt es in seinen langen Fingern, während die andere Hand das Weinglas umfasste.

Ich starrte ins Feuer, während es draußen langsam dunkler wurde. Als eine Uhr auf dem Schreibtisch sieben schlug, legte Matthew sein Buch beiseite. »Sollen wir Ysabeau vor dem Abendessen im Salon Gesellschaft leisten?«

»Ja«, antwortete ich und streckte unwillkürlich die Schultern durch. »Aber vorher möchte ich mich umziehen.« Meine Garderobe konnte Ysabeaus nicht das Wasser reichen, trotzdem sollte sich Matthew nicht für mich schämen müssen. Wie immer wirkte er in seiner schlichten schwarzen Wollhose und dem neuesten Exemplar aus seinem endlosen Vorrat an Pullovern, allesamt vermutlich aus dichter, üppiger Kaschmirwolle, als käme er frisch von einem Mailänder Laufsteg oder aus einer Aufsichtsratsversammlung.

Oben durchwühlte ich meine Reisetasche und entschied mich für eine graue Hose und einen saphirblauen Pullover aus fein gesponnener Wolle mit engem, hochgeschlossenem Kragen und Glockenärmeln. Meine Frisur bildete eine Welle, nachdem ich erst gebadet hatte und die Haare dann abgeknickt unter meinem Kopf auf dem Sofa getrocknet waren.

Nachdem ich mich wenigstens halbwegs präsentabel fand, schlüpfte ich in meine Slipper und eilte die Treppe hinunter. Matthews scharfe Ohren erfassten meine Bewegungen, sodass er mich unten an der letzten Stufe erwartete. Als er mich sah, leuchtete ein breites, genüssliches Lächeln auf seinem Gesicht auf.

»In Blau gefällst du mir genauso gut wie in Schwarz. Du siehst bezaubernd aus«, murmelte er und küsste mich höflich auf beide Wangen. In die prompt das Blut einschoss, als Matthew mein Haar über den Schultern anhob und die langen Strähnen durch seine Finger rinnen ließ. »Lass dich von Ysabeau nicht einschüchtern, ganz gleich, was sie sagt.«

»Ich werde es versuchen.« Ich lachte nervös und sah unsicher zu ihm auf.

Als wir in den Salon traten, saßen Marthe und Ysabeau bereits beisammen. Rund um seine Mutter verstreut lagen Zeitungen in allen größeren europäischen Sprachen sowie eine auf Hebräisch und eine auf Arabisch. Marthe wiederum las in einem Taschenbuchkrimi mit blutrünstigem Cover, und ihre schwarzen Augen zuckten beneidenswert schnell über die Zeilen.

»Guten Abend, Maman«, sagte Matthew und beugte sich vor, um Ysabeau auf beide kalten Wangen zu küssen. Ihre Nasenflügel bebten, als er sich erst links, dann rechts über sie neigte, und ihre eisigen Augen bohrten sich zornig in meine.

Ich wusste, womit ich mir diesen vernichtenden Blick eingehandelt hatte.

Matthew roch nach mir.

»Komm, Mädchen.« Marthe klopfte neben sich auf das Polster und schoss Matthews Mutter einen warnenden Blick zu. Ysabeau schloss die Augen. Als sie sich wieder öffneten, war der Zorn verflogen, und etwas wie Resignation war an seine Stelle getreten.

»Es gab noch einen anderen Tod«, murmelte Ysabeau auf Deutsch ihrem Sohn zu, als Matthew nach der deutschen Welt griff und mit einem angewiderten Grunzen die Schlagzeilen überflog.

»Wo?«, fragte ich. Offenbar war noch eine blutleere Leiche gefunden worden. Wenn Ysabeau glaubte, mich aus dem Gespräch ausschließen zu können, indem sie Deutsch sprach, hatte sie sich getäuscht.

»In München.« Matthew hatte das Gesicht in der Zeitung vergraben. »Mein Gott, warum unternimmt niemand etwas dagegen?«

»Sei vorsichtig, was du dir wünschst, Matthew«, sagte Ysabeau. Dann wechselte sie unvermittelt das Thema. »Wie war der Ausritt, Diana?«

Matthew linste seine Mutter misstrauisch über die Welt hinweg an.

»Wunderbar. Danke, dass ich auf Rakasa reiten durfte«, erwiderte ich, während ich mich neben Marthe niederließ und Ysabeaus Blick mit aller Kraft und ohne zu blinzeln standhielt.

»Sie ist für meinen Geschmack zu eigensinnig«, sagte Ysabeau abfällig und wandte ihre Aufmerksamkeit sofort wieder ihrem Sohn zu, der klug genug war, die Nase in die Zeitung zu stecken. »Fiddat ist viel fügsamer. Mit zunehmendem Alter weiß ich diese Eigenschaft an einem Pferd zu schätzen.«

Und an einem Sohn, fügte ich in Gedanken hinzu.

Marthe lächelte mir aufmunternd zu und stand auf, um sich an der Anrichte zu schaffen zu machen. Sie brachte Ysabeau einen riesigen Weinkelch und mir einen deutlich kleineren. Dann kehrte sie an den Tisch zurück und reichte Matthew ebenfalls ein Glas. Er schnupperte wohlgefällig daran.

»Danke, Maman«, sagte er und hob ihr sein Glas entgegen.

»Hein, nichts Besonderes«, sagte Ysabeau und nahm einen Schluck.

»Nur einer meiner Lieblingsweine. Danke, dass du daran gedacht hast.« Matthew genoss die Aromen des Weines, bevor er ihn hinunterschluckte.

»Trinken alle Vampire so gern Wein wie du?«, fragte ich Matthew und schnupperte dabei den pfeffrigen Weingeruch. »Du trinkst ständig welchen, und du hast nie auch nur einen Schwips.«

Matthew grinste. »Die meisten Vampire trinken ihn noch viel lieber als ich. Und was die Trunkenheit angeht, war unsere Familie schon immer für ihre bewundernswerte Contenance bekannt, nicht wahr, Maman

Ysabeau schnaubte ganz und gar nicht damenhaft. »Gelegentlich. Was den Wein angeht, vielleicht.«

»Sie sollten Diplomatin werden, Ysabeau. Stets haben Sie eine Nicht-Antwort parat«, sagte ich.

Matthew bog sich vor Lachen. »Dieu, ich hätte nicht gedacht, dass ich noch erleben würde, wie jemand meine Mutter für diplomatisch hält. Schon gar nicht mit Worten. Schon immer war sie eher der Diplomatie des Schwertes zugeneigt.«

Marthe kicherte zustimmend.

Ysabeau und ich sahen ihn beide entrüstet an, was ihn gleich wieder zum Lachen brachte.

Die Atmosphäre beim Abendessen war deutlich entspannter als am Vorabend. Matthew saß am Kopf der Tafel, Ysabeau zu seiner Linken und ich zu seiner Rechten. Marthe wanderte unablässig zwischen Küche, Kamin und Tisch hin und her und setzte sich nur zwischendurch kurz hin, um einen Schluck Wein zu trinken oder sich ins Gespräch zu mischen.

Platten mit Essen wurden auf- und wieder abgetragen  – alles von Waldpilzsuppe über Wachteln bis hin zu hauchdünnen Rindfleischscheiben. Als ich meine Verwunderung ausdrückte, dass jemand, der keine gekochten Speisen aß, so exzellent zu würzen verstand, wurde Marthe rot und bekam Grübchen und schlug nach Matthew, als er mir Anekdoten von ihren kulinarischen Katastrophen auftischen wollte.

»Erinnerst du dich noch an die Pastete mit den lebendigen Tauben als Füllung?« Er schnaubte. »Dummerweise hatte dir niemand gesagt, dass man die Vögel vierundzwanzig Stunden lang nichts fressen lassen darf, bevor man sie bäckt, weil es in der Pastete andernfalls aussieht wie in einem Vogelkäfig.« Damit handelte er sich einen scharfen Hieb auf den Hinterkopf ein.

»Matthew«, warnte ihn Ysabeau und wischte sich die Tränen nach dem Lachanfall aus den Augenwinkeln, »du solltest Marthe nicht provozieren. Du hast im Lauf der Jahre ebenfalls mehr als genug Katastrophen produziert.«

»Von denen ich jede einzelne miterleben durfte«, betonte Marthe, die eben den Salat servierte. Ihr Englisch wurde von Stunde zu Stunde besser, weil sie jedes Mal, wenn sie in meiner Gegenwart etwas sagte, in meine Sprache wechselte. Sie trat an die Anrichte und holte eine Schale mit Nüssen, die sie zwischen Matthew und Ysabeau stellte. »Zum Beispiel, als du die ganze Burg unter Wasser gesetzt hast, weil du unbedingt Wasser auf dem Dach sammeln wolltest«, zählte sie an ihren Fingern ab, »oder als du vergessen hast, die Steuern einzutreiben. Da war es Frühling, dir war langweilig, und so bist du eines Morgens aufgestanden und nach Italien gezogen, um Krieg zu führen. Dein Vater musste den König auf Knien um Vergebung bitten. Und nicht zu vergessen New York!«, rief sie triumphierend.

Die drei Vampire tauschten weiter Erinnerungen aus. Nur Ysabeaus Vergangenheit wurde mit keinem Wort erwähnt. Wenn die Sprache auf etwas kam, das sie oder Matthews Vater oder seine Schwester betraf, nahm das Gespräch sofort eine gnädige Wendung. Es war ein festes Muster, und ich fragte mich, wieso das wohl so war. Trotzdem sagte ich nichts, sondern ließ sie den Abend nach ihren Wünschen gestalten und genoss dabei das eigenartig tröstliche Gefühl, Teil einer Familie zu sein  – selbst wenn es eine Vampirfamilie war.

Nach dem Essen wechselten wir in den Salon, wo inzwischen ein noch größeres und eindrucksvolleres Feuer brannte. Mit jedem Scheit, das auf den Rost geworfen wurde, heizten sich die Kamine des Schlosses weiter auf. Immer heißere Flammen schlugen hoch, bis sich der Raum beinahe aufgewärmt hatte. Matthew tat alles, damit Ysabeau sich wohlfühlte, brachte ihr noch ein Glas Wein und machte sich dann an einer Stereoanlage zu schaffen. Mir hatte Marthe stattdessen eine Tasse Tee bereitet, die sie mir mitsamt Untertasse in die Hand drückte.

»Trinken Sie«, befahl sie streng. Auch Ysabeau beobachtete mich beim Trinken und warf Marthe dann einen vielsagenden Blick zu. »Das hilft beim Schlafen.«

»Haben Sie den gemacht?« Er schmeckte nach Kräutern und Blüten. Eigentlich mochte ich keine Kräutertees, aber dieser schmeckte frisch und leicht bitter zugleich.

»Ja«, antwortete sie und reagierte mit vorgerecktem Kinn auf Ysabeaus festen Blick. »Ich mache ihn schon ewig. Meine Mutter hat mir das beigebracht. Ich werde es Ihnen auch beibringen.«

Fröhliche und rhythmische Tanzmusik erfüllte den Raum. Matthew rückte die Sessel am Kamin zur Seite und machte dadurch eine kleine Tanzfläche frei.

»Vòles dançar amb ieu?«, fragte Matthew seine Mutter und streckte ihr beide Hände hin.

Auf Ysabeaus Gesicht erstrahlte ein Lächeln, das ihre gleichmäßigen, kalten Züge in unbeschreiblicher Schönheit aufleuchten ließ. »Ôc«, sagte sie und legte die zierlichen Hände in seine. Die beiden stellten sich vor dem Kaminfeuer auf und warteten ab, bis das nächste Lied einsetzte. Dann begannen sie zu tanzen, und ihr Tanz ließ Astaire und Rogers wie tollpatschige Bären aussehen. Ihre Körper verschmolzen und lösten sich wieder voneinander, neigten und drehten sich. Die leiseste Berührung durch Matthew genügte, damit Ysabeau eine Pirouette drehte, während die leiseste Andeutung einer Verbeugung oder Verzögerung durch Ysabeau genügte, damit Matthew genauso reagierte.

Genau als das Stück endete, senkte sich Ysabeau in einen eleganten Knicks, und Matthew verneigte sich tief.

»Was war das für ein Tanz?«, fragte ich.

»Angefangen haben wir mit einer Tarantella«, erklärte Matthew, während er seine Mutter zu ihrem Sessel zurückgeleitete. »Aber Maman kann sich nie auf einen einzigen Tanz beschränken. Darum haben wir in der Mitte ein paar Elemente der provenzalischen Volta eingefügt und mit einem Menuett geendet, nicht wahr?« Ysabeau nickte und hob die Hand, um seine Wange zu tätscheln.

»Du warst schon immer ein guter Tänzer«, sagte sie stolz.

»Ach, längst nicht so gut wie du  – und eindeutig nicht so gut wie Vater«, sagte Matthew und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Ysabeaus Augen wurden dunkel, und herzzerreißende Trauer legte sich über ihr Gesicht. Matthew nahm ihre Hand und strich mit den Lippen über ihre Knöchel. Ysabeau rang sich ein leises Lächeln ab.

»Jetzt bist du dran«, sagte er und kam dabei auf mich zu.

»Ich tanze nicht gern«, protestierte ich und versuchte ihn mit erhobenen Händen abzuwehren.

»Das glaube ich dir nicht«, antwortete er, griff mit seiner Linken nach meiner rechten Hand und zog mich hoch. »Du verbiegst deinen Körper in die unmöglichsten Positionen, fliegst in einem nadeldünnen Boot übers Wasser und reitest wie der Wind. Das Tanzen müsste dir im Blut liegen.«

Der nächste Titel hätte während der Goldenen Zwanziger in den Pariser Tanzcafés zu hören gewesen sein können. Trompeten und Trommeln erfüllten den Raum.

»Matthew, pass auf sie auf«, warnte Ysabeau, als er mich über den Boden zog.

»Sie wird schon nicht zerbrechen, Maman.« Matthew tanzte los, obwohl ich ihm bei jeder Gelegenheit auf die Füße stieg. Die Rechte um meine Taille gelegt, führte er mich durch die verschiedenen Schritte.

Um ihm die Sache zu vereinfachen, versuchte ich mir die Schritte einzuprägen, doch damit machte ich alles nur schlimmer. Mein Rücken versteifte sich, und Matthew zog mich fester an seine Brust.

»Entspann dich«, murmelte er mir ins Ohr. »Du versuchst zu führen. Dabei sollst du nur folgen.«

»Das kann ich nicht«, flüsterte ich zurück und krallte mich an seiner Schulter ein, als müsste er mich vor dem Ertrinken retten.

Matthew wirbelte uns herum. »Doch, das kannst du. Schließ die Augen, hör auf nachzudenken und überlass alles Weitere mir.«

In seiner Umarmung fiel es mir deutlich leichter, seinen Anweisungen zu folgen. Ich konnte mich entspannen und begann allmählich, die Bewegung unserer Körper in der Dunkelheit zu genießen. Bald gelang es mir sogar, mich nicht mehr darauf zu konzentrieren, was ich tat, sondern nur noch darauf, seine Arme und Beine zu spüren und zu erahnen, was er gleich tun würde. Ich meinte zu schweben.

»Matthew.« In Ysabeaus Stimme lag ein mahnender Unterton. »Le chatoiement.«

»Ich weiß«, murmelte er. Meine Schultermuskeln spannten sich besorgt an. »Vertrau mir«, sagte er mir leise ins Ohr. »Ich halte dich.«

Meine Augen blieben geschlossen, und ich seufzte glücklich auf. Wir wirbelten weiter durch den Raum. Matthew gab mich kurz frei, schickte mich in einer Folge von Pirouetten bis an seine Fingerspitzen und drehte mich dann in seine Arme zurück, bis mein Rücken an seiner Brust lag. Die Musik verstummte.

»Mach die Augen auf«, sagte er leise.

Langsam hoben sich meine Lider. Ich hatte immer noch das Gefühl zu schweben. Tanzen war viel besser, als ich erwartet hatte  – jedenfalls mit einem Partner, der über tausend Jahre Tanzerfahrung vorweisen konnte und dir nie auf die Zehen stieg.

Ich legte das Gesicht in den Nacken, um ihm zu danken, aber er war mir viel näher, als ich erwartet hatte.

»Sieh nach unten«, sagte Matthew freundlich.

Ich neigte den Kopf nach unten und erkannte, dass meine Zehen eine Handbreit über dem Boden in der Luft baumelten. Matthew ließ mich los. Er hatte mich nicht festgehalten.

Ich hielt mich von allein in der Luft.

Die Luft hielt mich in der Luft.

Mit dieser Erkenntnis kehrte schlagartig das Gewicht in meinen Unterleib zurück. Matthew packte mich unter beiden Ellbogen, damit meine Füße nicht auf den Boden krachten.

An ihrem Platz vor dem Kamin summte Marthe leise vor sich hin. Ysabeaus Augen waren schmal. Matthew lächelte mich aufmunternd an, während ich mich auf das befremdliche Gefühl konzentrierte, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Hatte sich der Boden immer so lebendig angefühlt? Es war, als würden mich tausend winzige Hände unter meinen Schuhsohlen auffangen oder mir einen sanften Schubs versetzen wollen.

»Hat es Spaß gemacht?«, fragte Matthew mit glänzenden Augen, als Marthes Gesumm verklungen war.

»Und wie«, antwortete ich lachend, nachdem ich kurz über seine Frage nachgedacht hatte.

»Das hatte ich gehofft. Du hast jahrelang geübt. Jetzt wirst du vielleicht zur Abwechslung mal mit offenen Augen reiten.« Er schloss mich in einer überglücklichen, alles versprechenden Umarmung ein.

Ysabeau begann das Lied zu singen, das Marthe zuvor gesummt hatte.

Wer sie tanzen sieht,
Wie sich ihr Leib geschmeidig dreht,
Könnte sagen, und zwar wahr,
Dass sie ihresgleichen sucht,
Unsere frohgemute Königin.
Gehet weg, gehet weg, Neider ihr.
Lasset uns, lasset uns
Tanzen, gemeinsam tanzen.

»Gehet weg, gehet weg, Neider ihr«, wiederholte Matthew, als seine Mutter verstummte, »lasset uns gemeinsam tanzen.«

Ich lachte auf. »Mit dir tanze ich jederzeit wieder. Aber bis ich herausgefunden habe, wie diese Fliegerei funktioniert, bleibst du mein einziger Tanzpartner.«

»Ganz korrekt betrachtet war das ein Schweben, kein Fliegen«, korrigierte Matthew mich.

»Schweben, Fliegen  – wie du es auch nennst, ich glaube, ich sollte das lieber nicht mit Fremden tun.«

»Stimmt«, sagte er.

Marthe hatte das Sofa frei gemacht und sich neben Ysabeau auf einen Stuhl gesetzt. Matthew und ich setzten uns nebeneinander, ohne die Hände zu lösen.

»Sie ist nie zuvor geschwebt?«, fragte Ysabeau aufrichtig verwundert.

»Diana setzt ihre Magie nicht ein, Maman, höchstens für Kleinigkeiten«, erklärte er.

»Sie besitzt unglaubliche Kräfte, Matthew. Das Hexenblut singt in ihren Adern. Sie sollte in der Lage sein, ihre Kräfte auch für große Dinge einzusetzen.«

Er sah sie streng an. »Es liegt bei ihr, ob und wie sie ihre Kräfte einsetzt.«

»Das ist doch kindisch«, sagte sie und sah mich an. »Es wird Zeit, dass Sie erwachsen werden, Diana, und sich Ihrer Verantwortung stellen.«

Matthew knurrte leise.

»Knurr mich nicht an, Matthew de Clermont! Ich spreche nur aus, was gesagt werden muss.«

»Du sagst ihr, was sie tun soll. Das ist nicht deine Aufgabe.«

»Genauso wenig wie deine, mein Sohn!«, schoss Ysabeau zurück.

»Verzeihung!« Meine scharfe Wortmeldung ließ beide de Clermonts verdutzt innehalten, und Mutter wie Sohn starrten mich an. »Es ist tatsächlich allein meine Entscheidung, ob  – und wie  – ich meine Magie einsetze. Aber«, wandte ich mich an Ysabeau, »ich kann sie wirklich nicht länger ignorieren. Sie scheint aus mir herauszudrängen. Zumindest muss ich lernen, meine Kräfte zu kontrollieren.«

Eine Weile sahen Ysabeau und Matthew mich wortlos an. Schließlich nickte Ysabeau. Matthew tat es ihr nach.

Wir saßen weiter am Kamin, bis das Feuer niedergebrannt war. Matthew tanzte mit Marthe, und immer wieder stimmte einer von ihnen ein Lied an, wenn ein Musikstück sie an eine andere Nacht vor einem anderen Feuer erinnerte. Aber ich tanzte kein zweites Mal, und Matthew drängte mich nicht dazu.

Schließlich stand er auf. »Ich bringe jetzt die Einzige von uns, die ihren Schlaf braucht, ins Bett.«

Ich erhob mich ebenfalls und strich meine Hose über den Schenkeln glatt. »Gute Nacht, Ysabeau. Gute Nacht, Marthe. Danke für das bezaubernde Essen und den überraschenden Abend.«

Marthe lächelte mich an. Ysabeau versuchte ebenfalls zu lächeln, brachte aber nur ein widerwilliges Dehnen der Lippen zustande.

Matthew begleitete mich nach oben und legte auf der Treppe sanft die Hand in meinen Rücken.

»Ich lese vielleicht noch ein bisschen«, wandte ich mich ihm zu, als wir in seinem Arbeitszimmer angekommen waren.

Er war direkt hinter mir, so dicht, dass ich seinen stockenden Atem hören konnte. Er nahm mein Gesicht in beide Hände.

»Mit welchem Zauber hast du mich belegt?« Seine Augen tasteten mein Gesicht ab. »Es sind nicht nur deine Augen  – obwohl sie es mir unmöglich machen, klar zu denken  – und auch nicht dein Honigduft.« Er vergrub sein Gesicht in meinem Nacken und schob eine Hand in mein Haar, während die andere an meinem Rücken abwärtsglitt und meine Hüften näher an ihn heranzogen.

Mein Körper schmiegte sich an seinen, als wäre er dafür geschaffen.

»Es ist deine Furchtlosigkeit«, murmelte er gegen meine Haut, »die Art, wie du dich ohne nachzudenken bewegst, und das Schimmern, das du ausstrahlst, wenn du dich konzentrierst  – oder wenn du fliegst.«

Mein Hals bog sich zur Seite und bot ihm noch mehr Haut zur Berührung dar. Langsam drehte Matthew mein Gesicht zu sich her und strich dann mit dem Daumen über meine warmen Lippen.

»Hast du gewusst, dass du einen Schmollmund machst, wenn du schläfst? Man könnte meinen, du wärst mit deinen Träumen unzufrieden, aber ich stelle mir lieber vor, dass du geküsst werden möchtest.« Bei jedem Wort klang er französischer.

Weil mir bewusst war, dass Ysabeau das hier oben bestimmt nicht guthieß und als Vampirin garantiert alles mithörte, versuchte ich mich aus seinen Armen zu winden.

»Matthew, deine Mutter …«

Ich hatte keine Gelegenheit, den Satz zu vollenden. Mit einem leisen, zufriedenen Brummen drückte er seine Lippen auf meine und küsste mich sanft, aber eindringlich, bis mein ganzer Körper  – und einmal nicht nur die Hände  – kribbelte. Ich erwiderte den Kuss und hatte gleichzeitig das Gefühl zu schweben und zu fallen, bis ich nicht mehr genau sagen konnte, wo mein Körper endete und seiner begann. Seine Lippen strichen über meine Wangen aufwärts zu meinen Lidern. Als sie über mein Ohr wanderten, stockte mir der Atem. Matthews Mund verzog sich zu einem Lächeln, dann presste er ihn wieder auf meinen.

»Deine Lippen sind rot wie Mohn, und dein Haar wirkt so lebendig«, sagte er, als er mich ausgiebig geküsst hatte, und zwar so intensiv, dass mir die Luft wegblieb.

»Was hast du nur immer mit meinen Haaren? Warum jemand mit deinem Haar hiervon« – ich packte eine Faust voll Haare und zerrte sie mir vom Kopf weg  – »beeindruckt sein sollte, will mir nicht in den Kopf. Ysabeaus Haare sehen aus wie reine Seide und Marthes auch. Meine sind das reinste Chaos  – jede Farbe des Regenbogens und eigensinnig dazu.«

»Genau darum liebe ich sie so«, sagte Matthew und strich sanft über die Strähnen. »Sie sind nicht perfekt, genau wie das Leben. Es sind keine polierten, makellosen Vampirhaare. Es gefällt mir, dass du kein Vampir bist, Diana.«

»Und mir gefällt, dass du einer bist, Matthew.«

Ein Schatten huschte über seinen Blick und war im nächsten Moment wieder verschwunden.

»Mir gefällt, dass du so stark bist«, sagte ich und küsste ihn ebenso enthusiastisch, wie er mich geküsst hatte. »Und mir gefällt deine Intelligenz. Manchmal sogar deine herrische Art. Aber vor allem …«   – ich rieb mit meiner Nasenspitze über seine  – »mag ich deinen Geruch.«

»Im Ernst?«

»Im Ernst.« Meine Nase senkte sich in die Vertiefung über seinem Schlüsselbein, seiner, wie ich inzwischen festgestellt hatte, süßesten und würzigsten Stelle.

»Es ist schon spät. Du musst jetzt schlafen.« Widerwillig ließ er mich los.

»Komm mit mir ins Bett.«

Er riss überrascht die Augen auf, und mir schoss das Blut ins Gesicht.

Matthew drückte meine Hand auf sein Herz. Es schlug einmal, kraftvoll. »Ich komme später nach oben«, versprach er, »aber ich werde nicht bleiben. Wir haben so viel Zeit, Diana. Du kennst mich erst seit ein paar Wochen. Wir brauchen nichts zu überstürzen.«

Gesprochen wie ein Vampir.

Er sah, wie belämmert ich dastand, und zog mich wieder an seine Brust, um mich noch einmal ausgiebig zu küssen. »Ein Vorgeschmack«, sagte er, als er fertig war, »auf das, was kommen wird. Zum richtigen Zeitpunkt.«

Der wäre jetzt gewesen. Aber nachdem meine Lippen abwechselnd vor Kälte prickelten und vor Hitze glühten, fragte ich mich insgeheim, ob ich tatsächlich so bereit war, wie ich dachte.

Oben brannten zahllose Kerzen, und das Feuer hatte den Raum aufgewärmt. Wann Marthe die Zeit gefunden hatte, hier heraufzukommen, Dutzende von Kerzen auszuwechseln und sie so anzuzünden, dass sie immer noch brannten, wenn ich ins Bett ging, war mir ein Rätsel, aber nachdem es hier oben keine Steckdose gab, war ich ihr ausgesprochen dankbar.

Während ich mich im Bad hinter der angelehnten Tür umzog, hörte ich mir an, was Matthew für den nächsten Tag geplant hatte. Unter anderem einen langen Spaziergang, einen weiteren Ausritt und intensives Studium im Arbeitszimmer.

Ich war mit allem einverstanden  – vorausgesetzt, dass das Studium an erster Stelle kam. Das alchemistische Manuskript rief nach mir, und ich konnte es kaum erwarten, einen tieferen Blick hineinzuwerfen.

Ich legte mich in Matthews riesiges Himmelbett, und er zog die Decke über mir straff, bevor er mit den Fingerspitzen eine Flamme nach der anderen ausdrückte.

»Sing mir was vor«, sagte ich, während ich beobachtete, wie seine langen Finger sich furchtlos durch die Flammen bewegten. »Ein altes Lied  – eines, das Marthe gefallen würde.« Ihre ironische Vorliebe für Liebeslieder war mir nicht entgangen.

Schweigend wanderte er durchs Zimmer, löschte die Kerzen und zog dabei immer längere Schatten hinter sich her, je dunkler der Raum wurde. Dann begann er in seinem vollen Bariton zu singen.

Ni muer ni viu ni no guaris,
Ni mal no-m sent e si l’ai gran,
Quar de s’amor no suy devis,
Ni no sai si ja n’aurai ni quan,
Qu’en lieys es tota le mercés
Que·m pot sorzer o decazer.

Es war ein Lied voller Sehnsucht, schon beinahe todtraurig. Und es endete, als er an mein Bett zurückkehrte. Die eine Kerze auf dem Nachttisch ließ Matthew brennen.

»Was hat der Text zu bedeuten?« Ich fasste nach seiner Hand. »Ich bin nicht tot und nicht lebendig und werde auch nicht gesund, meine Krankheit ist für mich kein Leid, denn sie hält mich mit ihrer Liebe hin.« Er beugte sich zu mir herab und küsste mich auf die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich sie je gewinnen werde oder wann, denn ich bin ihrer Gnade ausgeliefert, mich erblühen oder vergehen zu lassen.«

»Wer hat das geschrieben?«, fragte ich. Es war beängstigend, wie gut der Text passte, wenn ein Vampir ihn sang.

»Mein Vater schrieb das für Ysabeau. Aber jemand anderes heimste den Ruhm dafür ein.« Matthews Augen glänzten, und er lächelte fröhlich und zufrieden. Leise summend ging er nach unten. Ich lag allein in seinem Bett und sah der letzten Kerze beim Niederbrennen zu, bis sie blakend erlosch.