3

Der Vampir saß im Schatten auf dem Dach der geschlossenen Bogenbrücke, die die New College Lane überspannte und zwei Bereiche des Hertford College verband. Er hatte den Rücken an die verwitterte Mauer eines neueren Collegegebäudes gelehnt und die Füße auf dem Brückendach abgestützt.

Die Hexe kam in sein Blickfeld, als sie mit überraschend sicherem Tritt über das unebene Pflaster vor der Bibliothek marschierte. Als sie unter ihm vorbeiging, beschleunigte sie ihre Schritte. In ihrer Nervosität sah sie jünger aus und verletzlicher.

Das ist also die hoch angesehene Historikerin, dachte er sarkastisch und ging im Geist ihren Lebenslauf durch. Auch nachdem er ihr Bild gesehen hatte, hatte Matthew in Anbetracht ihrer beruflichen Leistungen eine ältere Frau erwartet.

Obwohl Diana Bishop offensichtlich aufgewühlt war, ging sie aufrecht und hatte die Schultern durchgestreckt. Vielleicht würde sie doch nicht so leicht einzuschüchtern sein, wie er gehofft hatte. In der Bibliothek hatte sie sich seinem Blick gestellt, ohne auch nur eine Spur jener Furcht zu zeigen, die Matthew sonst zuverlässig bei allen Geschöpfen auslöste, die keine Vampire waren  – und oft sogar bei diesen.

Als Diana Bishop um die Ecke verschwunden war, schlich Matthew an den Dächern entlang, bis er zur Mauer des New College kam. Lautlos schlüpfte er auf das Collegegelände. Der Vampir kannte das College und hatte sich ausgerechnet, wo ihre Räume liegen mussten. Er stand schon in einem düsteren Eingang gegenüber ihrem, als sie die erste Stufe nahm.

Matthews Augen folgten ihr durch ihr Apartment, während sie von einem Zimmer ins andere ging und überall Licht machte. Sie öffnete das Küchenfenster, ließ es angelehnt, verschwand.

Dann brauche ich wenigstens nicht das Fenster aufzubrechen oder ihr Schloss zu knacken, dachte er.

Matthew huschte über den Hof und kletterte an ihrem Gebäude hoch, wobei seine Hände und Füße dank eines alten kupfernen Fallrohres und einiger dicker Ranken problemlos Halt in dem alten Mörtel fanden. Von seinem neuen Beobachtungsposten aus nahm er den unverkennbaren Duft der Hexe und leises Papiergeraschel wahr. Er reckte den Kopf und spähte in ihr Fenster.

Bishop las. So entspannt sah ihr Gesicht ganz anders aus, dachte er bei sich. Es war, als würde sich die Haut erst jetzt richtig an die Knochen darunter schmiegen. Bald erkannte Matthew an ihrem regelmäßigen Atem, dass sie eingeschlafen war.

Er schwang von der Wand weg, zog die Füße an und sprang durch das Küchenfenster der Hexe. Es war lange her, seit der Vampir das letzte Mal in die Wohnung einer Frau eingestiegen war. Und auch damals war es nicht oft vorgekommen und meist darauf zurückzuführen gewesen, dass ihn die Leidenschaft im Griff gehabt hatte. Diesmal war er aus einem ganz anderen Grund gekommen. Nichtsdestotrotz hätte er nur schwer erklären können, was er hier trieb, falls ihn jemand erwischte.

Matthew musste wissen, ob sich Ashmole 782 immer noch in Diana Bishops Besitz befand. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, ihren Lesetisch in der Bibliothek zu durchsuchen, aber ein kurzer Blick hatte ihn vermuten lassen, dass das Manuskript nicht unter den Handschriften war, die sie heute studiert hatte. Andererseits war es ausgeschlossen, dass eine Hexe  – noch dazu eine Bishop-Hexe  – diesen Band wieder aus der Hand gab. Unhörbar leise wanderte er durch die kleinen Räume. Das Manuskript war weder im Bad noch im Schlafzimmer zu finden. Lautlos schlich er an der Couch vorbei, auf der sie schlief.

Die Lider der Hexe zuckten, als würde sie einen Film anschauen, den niemand außer ihr sehen konnte. Eine Hand hatte sie zur Faust geballt, und hin und wieder schienen ihre Beine zu tanzen. Dabei wirkte ihr Gesicht völlig gelöst, so als würde sie gar nicht mitbekommen, was der Rest des Körpers zu tun glaubte.

Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte das sofort gespürt, als er Diana Bishop in der Bibliothek gesehen hatte. Matthew verschränkte die Arme und studierte sie, aber er konnte beim besten Willen nicht ausmachen, was ihn so irritierte. Diese Hexe strahlte nicht die üblichen Duftnoten aus  – nach Bilsenkraut, Schwefel und Salbei. Sie verbirgt etwas, dachte der Vampir, und zwar nicht nur das verlorene Manuskript.

Matthew wandte sich ab und suchte nach ihrem Arbeitsplatz. So mit Büchern und Papieren überladen, wie er war, war er nicht zu übersehen. Die Chancen, dass sie den hinausgeschmuggelten Band dort abgelegt hatte, standen gut. Doch als er einen Schritt auf den Tisch zumachte, roch er Elektrizität und erstarrte.

Aus Diana Bishops Körper sickerte Licht  – überall, so als würde es ihren Poren entströmen. Es leuchtete in einem so hellen Blau, dass es fast weiß wirkte, und bildete anfangs einen wolkigen Schleier, der sekundenlang an ihr zu haften schien. Einen Augenblick schien sie selbst zu schimmern. Matthew schüttelte ungläubig den Kopf. Das war unmöglich. Es war Jahrhunderte her, seit er das letzte Mal ein solches Licht von einer Hexe hatte ausströmen sehen.

Aber andere, dringendere Angelegenheiten warteten, darum nahm Matthew die Jagd nach dem Manuskript wieder auf und durchsuchte hastig die Schriften auf ihrem Schreibtisch. Frustriert fuhr er sich mit den Händen durch die Haare. Der Duft der Hexe überlagerte alles und lenkte ihn ab. Matthews Blick richtete sich wieder auf die Couch. Bishop bewegte sich wieder im Schlaf und zog dabei die Knie an die Brust. Noch einmal stieg ein pulsierendes Leuchten aus ihrem Körper, schimmerte kurz über ihr und erlosch.

Matthew runzelte die Stirn, denn was er gestern Abend zufällig gehört hatte, passte so gar nicht zu dem, was er hier sah. Zwei Hexen hatten über Ashmole 782 und über die Hexe, die es ausgeliehen hatte, geredet. Eine hatte angedeutet, dass die amerikanische Hexe sich weigerte, ihre magischen Kräfte einzusetzen. Aber Matthew hatte ihre Kräfte in der Bibliothek gespürt  – und sah jetzt, wie sie mit unübersehbarer Intensität in ihr arbeiteten. Vermutlich setzte sie auch bei ihren Forschungsarbeiten Magie ein. Viele der Männer, über die sie schrieb, waren mit ihm befreundet gewesen  – Cornelius Drebbel, Andreas Libavius, Isaac Newton. Sie hatte bei allen sämtliche Schrullen und Eigenheiten perfekt erfasst. Wie hätte eine Frau von heute ohne magische Hilfe Männer verstehen können, die vor so langer Zeit gelebt hatten? Matthew fragte sich, ob Bishop ihn mit dem gleichen unheimlichen Feingefühl durchschauen würde.

Die Uhren schlugen drei und schreckten ihn auf. Seine Kehle war trocken wie Pergament. Er begriff, dass er stundenlang reglos zugesehen haben musste, wie die Hexe geträumt hatte und ihre Macht in langsamen Wogen angestiegen und wieder abgeflaut war. Kurz spielte er mit dem Gedanken, seinen Durst mit dem Blut der Hexe zu stillen. Ein Schluck würde ihm vielleicht verraten, wo das verschollene Manuskript steckte und welche Geheimnisse es barg. Aber er hielt sich zurück. Er hatte die rätselhafte Diana Bishop nur aufgesucht, weil er Ashmole 782 finden wollte.

Wenn das Manuskript nicht in der Wohnung der Hexe war, musste es noch in der Bibliothek sein.

Er schlich in die Küche, glitt aus dem Fenster und wurde wieder eins mit der Nacht.