9.

Annies Bildschirm-Outfit:

Leuchtend blaue Bluse (Chloé)

Blau-lila Rock (Ausverkauf bei Whistles)

Blaue Plateau-Pumps (Miu Miu, aus Rabattzeiten bei The Store)

Dicke blaue Strumpfhose (John Lewis)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 470 £

»Ach, praktisch, so ein Quatsch!«

Annie stöckelte eilig mit klackenden sieben Zentimeter hohen Absätzen Arm in Arm mit Cath durch das Einkaufszentrum. Die Erlaubnis, in dem Zentrum und dem Großteil der Geschäfte darin zu filmen, war erst vor zwanzig Minuten nach hektischen Telefonaten mit dem Direktionsassistenten erteilt worden.

Annie hielt Cath mit festem Griff, denn sie hatte das Gefühl, dass die arme Frau sowohl körperliche als auch moralische Unterstützung bitter nötig hatte, um diese Shopping-Tortur zu überstehen. Schwer genug, zum ersten Mal seit Jahren für sich selbst einkaufen zu gehen … aber dann auch noch, wenn man endlich so weit ist, ein Kamerateam im Nacken zu haben, das jede Bewegung genau beobachtet? Das war zu viel für ziemlich jede Frau.

Seit fünf Jahren! Cath konnte sich nicht erinnern, wann sie seit dem sechzehnten Geburtstag ihres Sohnes einmal für sich selbst shoppen gegangen war. Es war ja nicht so, dass es ihr am nötigen Kleingeld mangelte; Cath hatte einfach das Gefühl, sie sollte es lieber sparen, statt für sich selbst ausgeben. Außerdem hing ihr Schrank doch offenbar voll mit Sachen, die sie von Freundinnen oder, schlimmer noch, von ihrem Sohn übernommen hatte.

»Ich weiß, du liebst ihn von Herzen«, hatte Annie zu Cath gesagt, »aber findest du nicht, dass es ein bisschen zu weit geht, seine alten Sweatshirts aufzutragen?«

»Aber sie sind so praktisch!«, wehrte Cath sich.

»Ach, praktisch, so ein Quatsch! Wenn ich das Wort noch einmal höre, muss ich dir leider eine runterhauen. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich auch ohne ausgeleierte T-Shirts und Anoraks hübsch, bequem und kuschelig zu kleiden!«

Cath besaß ein Sortiment von Anoraks in, ja, in Beige- und Pastelltönen, die auf einer Bergwanderung nicht fehl am Platz gewesen wären. Wäre sie Bergsteigerin gewesen, nun gut, aber für das Alltagsleben in London waren sie … unangebracht!

»Schau dich um und versuche, das Erlebnis zu genießen. Man nennt es Shopping«, ermutigte Annie sie spielerisch. »Wenn du etwas im Schaufenster siehst, das dich anspricht, sag Bescheid, dann halten wir an und sehen uns die Sache näher an. Kein Grund zur Panik, wir haben den ganzen Tag Zeit!«, beschwichtigte sie. »Und ein ganzer Tag für den Einkauf eines Outfits ist purer Luxus, glaub mir!

Die einzige Regel«, fuhr Annie fort, »das Einzige, worauf ich bestehe, Cath, ist, dass du nur Sachen kaufst, die du toll findest. Das ist ganz nett, das geht schon, das ist so praktisch … nein, nein, das gibt es nicht! Wenn du etwas nicht absolut toll findest …, wenn es dein Herz nicht höher schlagen lässt, dann lassen wir es links liegen. Okay?«

»Wie geht’s deinem Sohn?«, fragte sie in der Hoffnung, Cath durch fröhliches Geplauder die Befangenheit nehmen zu können.

»Gut. Er fragt mich ständig, wann ich endlich mein Partykleid bekomme, als wäre ich Aschenputtel oder so …« Aus ihren Worten klang eine Mutlosigkeit, die Annie im Keim ersticken wollte.

»Bist du doch!«, beteuerte Annie. »Und ich bin deine gute Fee. Also, glaub lieber endlich an mich, sonst könnte ich verschwinden!«

Als Annie eines der ausgeflippten Schuhgeschäfte erblickte, in denen ihres Wissens Lana regelmäßig einkaufte, drängte sie Cath zum Eingang. »Also«, dozierte sie, »für jedes Aschenputtel sind wunderbare Schuhe ein Muss.« Annie wusste, dass Schuhe einen nicht enttäuschen konnten, wie Kleider es manchmal taten. Die Schuhgröße änderte sich nicht; Schuhe ließen einen nicht dick aussehen. Sie waren als Ausgangspunkt für unsichere Shopping-Novizinnen hervorragend geeignet.

Cath wurde aufgefordert, sich in dem Geschäft umzusehen, während sowohl die Kamera als auch Annie eingehend auf ihre Reaktionen achteten.

»Rück ihr doch nicht so auf die Pelle!«, zischte Annie Bob an. »Wie soll sie sich je entspannen und begeistern, wenn du jede ihrer Bewegungen verfolgst?«

»Ich will mir nichts entgehen lassen«, verteidigte Bob sich.

»Wirst du schon nicht. Und wenn doch, besteche ich sie höchstpersönlich, damit sie die Szene noch einmal nachstellt«, antwortete Annie.

»Ach, das geht nicht!« Bob hob den Zeigefinger. »Das wird nie so überzeugend wie beim ersten Mal.«

»Quatsch!«, widersprach sie. »Ich möchte wetten, du machst das ständig.«

Sie fasste wieder Cath ins Auge. Diese schlenderte durch das Geschäft und betrachtete ratlos die Schuhe. Hier gab es alle möglichen neuen Farben, Formen, Absätze und Designs. Augenscheinlich war alles so anders als beim letzten Shopping, als Cath lediglich nach preislichen und praktischen Gesichtspunkten gewählt hatte.

»Schau dich nur um«, drängte Annie, »hier gibt es bestimmt etwas, das dir gefällt! Ehrlich, sag einfach Bescheid, wenn dir irgendetwas ins Auge sticht, denn das verrät uns vielleicht, worauf du stehst. Dein Liebesmuskel«, fügte sie mit einem frechen Zwinkern hinzu, »es geht darum, deinen Liebesmuskel aufzubauen. Der hatte in letzter Zeit offenbar nicht genug Training.«

Darüber musste sogar Cath kichern.

Die dritte Tour durch das Geschäft, und nach drei Vierteln der Wegstrecke sah Annie es – Cath reckte ihren Arm und nahm ein Paar kirschrote Lacklederslipper aus einem der oberen Regale.

Annie sah zu, wie Cath, erfreut und fasziniert, die Slipper in ihren Händen drehte.

Rasch wandte Annie sich an die Verkäuferin, die sich an sie gehängt hatte und gern ins Fernsehen wollte. »Okay, ich brauche diese Slipper in Größe 39 und alles, was Sie sonst noch aus rotem Lackleder in dieser Größe haben.«

Mit geringem Aufwand an Überredungskunst brachte Annie Cath dazu, in den Slippern im Geschäft auf und ab zu schreiten, und Cath war sichtlich zufrieden.

»Gut, die nehmen wir«, entschied Annie.

»Nein!«, protestierte Cath. »Ich habe nichts, was ich dazu anziehen könnte.«

»Wir kaufen dir noch eine flotte rote Jacke und vielleicht eine rote Handtasche dazu. Vielleicht einen glänzend roten wasserdichten Mantel, der kein Anorak ist. Findest du sie nicht herrlich?«, fragte Annie.

»Ja«, gestand Cath schüchtern.

»Na also! Die nimmst du, und basta!« Annie hatte längst vergessen, dass sie gefilmt wurden. »Auf jeden Fall sind sie viel, viel schöner als diese da.« Sie zeigte auf die traurigen, abgelatschten schwarzen Pantoletten, die Cath zum Einkaufen angezogen hatte. Svetlanas starken Akzent imitierend, sagte sie: »Müllsack!«

»Also gut, meine Liebe, du hast offenbar einen uneingestandenen Hang zu Leuchtendrot. Was hältst du von diesen hier?«

Behutsam klappte Annie den Deckel auf und wickelte das Seidenpapier von einem hinreißenden Paar Mary Janes aus rotem Lackleder. Sie wusste, dass sie die bequemlichkeitsliebende Cath nie im Leben zu einem Paar hoher Stöckelschuhe würde überreden können, hoffte jedoch, dass diese schicken Schühchen eine Chance bei ihr hatten.

»Oh! Na ja …« Cath betrachtete die Schuhe so überrascht, als käme etwas so Hübsches niemals für sie in Betracht.

»Probier sie einfach mal an!«, lockte Annie.

Und bevor Cath protestieren konnte, wurden ihr die schwarzen Socken aus- und Füßlinge angezogen, und sie zeigte ihre zierlichen weißen Fesseln in den feinen Schuhen.

»Lauf mal!«, befahl Annie.

Bob ging an einer Wand des Geschäfts in die Knie, um Caths unsichere Schritte mit der Kamera einzufangen.

»Sag bloß nicht, dass sie dir nicht gefallen!«, warnte Annie. Cath schritt dahin, blieb stehen und betrachtete ihre Füße ausgiebig in den Spiegeln.

»Wie passen sie?«

»Wirklich gut.«

»Du kannst sie zu Hosen, Jeans, Röcken und Kleidern tragen«, beschwatzte Annie sie, »und sie gehen auf unsere Rechnung, vergiss das nicht! Du brauchst nicht zu überlegen, wie du das Geld dafür wieder einsparen kannst.«

Cath musterte ihre Füße eine geschlagene Minute lang im Spiegel.

»Sprich mir nach!«, verlangte Annie. »Ich finde sie hinreißend.«

Bobs Kamera zoomte Caths Gesicht heran, aber trotzdem gelang es ihr, schüchtern zu wiederholen: »Ich finde sie hinreißend.«

»Und gleich noch einmal, mit mehr Gefühl!«, zog Annie sie auf.

»Ich finde sie hinreißend!«, sagte Cath, blitzte Annie lächelnd an und wurde rot.

»Schluss mit den Gewissensbissen! Jeder Mensch braucht Schuhe«, erklärte Annie. »Da dürfen es auch gern hübsche Schuhe sein, und, Schätzchen, sie kosten nur fünfundvierzig Pfund!«

Im Grunde fand Annie das ernüchternd. Vor etwa einem Jahr hatte sie aufgehört, Schuhe in Geschäften an der High Street zu kaufen, und fragte jetzt: »Hast du eine Ahnung, wie viel ich für die da ausgegeben habe?« Sie deutete auf ihre aufwendigen Stiefel. »Einen ganzen Batzen vom Erbe meiner Kinder.«

Die roten Slipper und die glänzenden Schühchen wurden eingepackt und gebongt, und Annie zahlte aus dem Umschlag mit den zweihundertfünfzig Pfund in bar, die Finn ihr am Morgen ausgehändigt hatte.

»Keine Kreditkarte?«, hatte Annie verblüfft nachgefragt.

»Glaubst du, ich würde dich mit einer Kreditkarte losschicken?«, lautete seine Antwort. »Wir zahlen immer noch an der Rechnung, die meine Frau auflaufen ließ, als sie dich bei The Store besucht hat.«

»Ah ja.« Annie erinnerte sich noch sehr gut an den Tag, als Kelly-Anne sich vertrauensvoll der persönlichen Einkaufsberatung anheimgegeben hatte und um mehrere tausend Pfund erleichtert nach Hause gegangen war. Aufgrund einer Art Haar-Unfall hatte Kelly-Anne letztendlich ihr Haar kürzen lassen müssen … um ganze sechzig Zentimeter.

Ein Kleid für Cath zu finden würde bestimmt nicht einfach sein. Annie war den Geschäften an der High Street ausgeliefert, mit einer unsicheren, überaus körperbewussten Kundin mit Größe 42 und einem inzwischen auf hundertfünfundfünfzig Pfund geschrumpften Budget. Hätte sie noch bei The Store gearbeitet und Geld ohne Ende zur Verfügung gehabt, wäre die Lösung dieses Problems ein Leichtes für sie gewesen: dank der italienischen Labels, die die kurvenreichere Mama in kunstvoll geschnittenen Taft mit Bügeln, Struktur und klug gewählten Farben hüllten.

 

An den Schuherfolg reihte sich eine sehr entmutigende Sitzung im Umkleideraum von Wallis. Cath listete vor dem Spiegel stehend im Geiste ihre Schwachstellen auf; Annie merkte es ihr an. Diesen Ausdruck hatte sie schon auf so vielen Gesichtern gesehen. Die Liste begann mit: »Ich hasse mein Haar, ich hasse meine Augensäcke, ich hasse meinen Hals, meine Schultern, mein Dekolleté«, und so ging es weiter bis zu: »Ich hasse meine Knubbelknie, meine Knöchel und meine hässlichen Zehen.«

Bei John Lewis war es noch schlimmer, und Annie bekam mit, wie Bob sein Filmmaterial löschte. Seine Kurzanweisung lautete: glückliche Frau, neu gestylt, atemlos vor Erstaunen darüber, wie umwerfend sie jetzt aussah.

Dann rief Finn an.

»Hi, wie geht’s?«, fragte er Annie. »Hast du unsere Pomeranze schon in eine Prinzessin verwandelt?«

Annie verzog das Gesicht wegen der grausamen Bemerkung, bevor sie so munter wie möglich antwortete: »Hm … ja, ich glaube, wir sind auf dem besten Weg«, während sie zusah, wie Cath sich vor dem Spiegel drehte, in einem absolut hoffnungslosen Kleid, das besser als Schutz für Obdachlose oder so zu verwenden gewesen wäre.

»Ich kann’s kaum erwarten zu sehen, was du dir hast einfallen lassen!«, sprudelte Finn voller Begeisterung hervor. »Okay, wir treffen uns um drei Uhr heute Nachmittag im Starbucks unten im Einkaufszentrum zum Zwischenbericht und einer raschen Sichtung des Filmmaterials.«

»Ich dachte, wir hätten den ganzen Tag Zeit«, entgegnete Annie und sah mit einem Blick auf die Uhr, dass es bereits 13:50 Uhr war.

»Fürs Filmen«, erklärte Finn, »nicht fürs Shoppen. Das ist ein kleiner Unterschied, Annie!«

Sie klappte ihr Handy zu und wusste, dass sie rasch zur Tat schreiten musste. »Okay, Cath, zieh das aus!«, befahl sie knapp. »Gib nicht dir die Schuld, sondern diesem erbärmlichen Sack von Kleid! Ich muss recherchieren, und zwar schnellstens.«

Im nächsten Moment schickte Annie eine SMS an Paula, ihre Exassistentin. Ja, Paula war etwas über einsachtzig groß und gebaut wie eine Stabhochspringerin auf Diät, aber sie hatte eine Schwester, Jamilia. Jamilia, ebenso kurvenreich wie lebhaft, war eine sehr modebewusste Frau mit kleinem Budget.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Jamilia persönlich auf Annies verzweifelte Frage antwortete: »Wo bekommt man an der High Street heiße Kleider in Größe 42?«

Auf dem Handydisplay erschienen die Zauberworte: »Coast, Dthy Prkns.«

»Gut, auf geht’s!«, ordnete Annie an und hakte sich wieder fest bei Cath unter.

Cath durfte sich bei Dorothy Perkins nicht lange umsehen, denn die Zeit wurde nun ernsthaft knapp. Stattdessen wurde sie im Umkleideraum mit dicht verschlossenen Vorhängen vor den Kameralinsen verborgen.

Dann durchsuchte Annie das Geschäft: Kleiderständer für Kleiderständer, Kleid für Kleid, ganz profimäßig, wie es ihre Art war.

Schließlich nahm sie etwas mit wirklichem Potenzial vom Bügel. Es war strukturiert und schwarz mit dreiviertellangen Spitzenärmeln, damit Cath sich nicht so nackt fühlte.

Annie persönlich mochte die Farbe Schwarz nicht. Schwarz war langweilig. Schwarz war einfach so schwarz. Aber Cath trug so oft Pastellfarben, Wischiwaschi und Beige, dass Annie Schwarz unwillkürlich wie eine dramatische Veränderung empfand. Außerdem sah Schwarz gut zu rotem Lackleder aus.

»Okay, meine Liebe, ich glaube, hier haben wir einen ernsthaften Kandidaten«, eröffnete Annie ihr und reichte das Kleid in die Kabine. »Zieh es an, und ich schaue mich unterdessen nach Accessoires um!«

»Oh!«, kam es erstaunt von der anderen Seite des Vorhangs. Doch Annie nahm sich nicht die Zeit zuzuhören, sondern schwirrte ab in die Accessoire-Abteilung.

Das Glamouröse, Klobige, Außergewöhnliche – sämtliche Halsketten, die sie sich nur wünschen konnte, fanden sich hier zu genau dem Preis, den sie aufbringen wollte.

Mit einer Auswahl an Perlenketten, Taschen und Armbändern kam sie zur Umkleidekabine zurück, gespannt auf die Wirkung des Kleids.

»Komm schon!«, sagte sie zu Bob. »Leg los! Ich habe ein gutes Gefühl bei diesem Kleid. – Bist du fertig?«, fragte sie vor dem Vorhang der Kabine.

»Ja … ich glaube schon«, ertönte die Antwort.

Daraufhin zog Annie den Vorhang zur Seite. Bob neben ihr filmte bereits.

»Oh ja!«, verkündete sie sogleich. »Ja, ja ja!! Zieh die Schuhe an, wir brauchen den Gesamteindruck!«

Annie half ihr kurz, ein paar Korrekturen vorzunehmen. Cath zog die roten Mary Janes an, legte eine Halskette aus silbernen und schwarzen Blättern um, und schließlich drückte Annie ihr eine glitzernde silberne Clutch in die Hand.

»Nun?«, fragte sie, während Cath sich drehte und wendete und verschämt ihr Spiegelbild betrachtete.

Das Kleid passte prima; Annie zog es nur am Rücken ein wenig mit der Hand ein, um Cath zu zeigen, wie es nach einer kleineren Änderung perfekt sitzen würde. Cath selbst sah verändert aus. Endlich hatten sie ein Kleid gefunden, das sie aufzurichten, zu heben und zu strecken schien. Zum ersten Mal an diesem Tag nahm sie ihre Schultern zurück, trug den Kopf hoch und sah gleich um Zentimeter schlanker aus. Die Spitze betonte ihren weichen weißen Hals und ihr Dekolleté, ihre zierlichen Hände und Handgelenke. Genau so hatte Annie es geplant. Der drapierte Rock kaschierte die Problemzonen Bauch, Schenkel und Po.

»Jetzt möchte ich …«, begann Annie und trat hinter sie, so dass sie gemeinsam in den Spiegel blicken konnten, »dich den Händen eines sehr netten Friseurs anvertrauen, den ich kenne und der dein Haar verlängern, glätten und dunkler tönen wird.«

Sie zupfte eine von Caths stumpfen graublonden Locken heraus und zeigte eine Länge von einigen Zentimetern. »Zeit, deinen Pony auf Vordermann zu bringen und die Künstlerin in dir zu betonen«, fügte Annie mit einem Lächeln hinzu. »Dunkleres Haar zu deinem hellen Teint … Und weißt du, diese Tasche gefällt mir nicht und die Halskette auch nicht«, verkündete Annie und nahm Cath, die sich nicht wehrte, beides ab.

»Weißt du, was mir zu Schwarz sehr gut gefällt? Violett … Bleib du hier, schau dir genau dein hübsches, knackiges Spiegelbild an, und ich bin gleich mit etwas Violettem zurück.«

Als Annie ihr eine Kette in leuchtendem Violett umlegte, das Caths blaue Augen strahlen ließ, und ihr eine freche kleine violette Tasche in die Hand drückte, entfuhr ihr unwillkürlich ein triumphierendes »Ta-taa!«

»Was hältst du davon?«, fragte sie Cath und sah sie gespannt an.

»Ich finde … Ich finde das Kleid wirklich hübsch«, gestand Cath. Ein Lächeln drohte auf ihr Gesicht zu treten. »Aber ich fühle mich darin nicht zu Hause.«

Sie bewegte unbehaglich ihre Schultern und strich mit beiden Händen über das Kleid.

»Zu Hause? Nein!«, stöhnte Annie mit einem Hauch von Verzweiflung. »Du sollst dich darin nicht zu Hause fühlen. Ist das etwa ein Sweatshirt mit Jogginghose? Nein, ist es nicht! Ich will nicht, dass du dich zu Hause fühlst. Ich will nicht, dass du zu Hause bist! Du bist eine heiße, reizvolle Mama, und wir führen dich aus, damit du zeigst, was du hast!«

»Aber ich will nicht ausgehen!«, jammerte Cath.

»Oje, oje!«, begann Annie. »Du hast eine Menge verloren, Schätzchen. Du hast deinen Mann verloren, dein Junge wird erwachsen, dein babyblondes Haar ist futsch und wahrscheinlich auch deine frühere Taille. Wenn du zu Hause herumsitzt und wartest, verlierst du wahrscheinlich noch viel mehr: deine Verwandten, deine Freunde und schließlich alles andere. Schon deprimiert?« Sie zwinkerte. »Ganz recht so! Dafür gibt es nur ein Heilmittel: Du musst rausgehen und die alten Sachen durch ein paar neue ersetzen! Neue Freunde, neue Lover, neue Hobbys, neue Interessen, neue Leute, und, ja, um Himmels willen, ein paar neue Klamotten!

Jetzt kannst du, wenn du zu einer Party eingeladen wirst, wenigstens ja sagen … denn du hast ja etwas anzuziehen!«, rief Annie aus.

Kleid, Tasche und Halskette wurden gekauft. Gesamtkosten: 102,97 Pfund. Nun juckte es Annie in den Fingern, Cath von dem restlichen Geld eine hübsche rote Jacke und vielleicht Lipgloss oder roten Nagellack zu besorgen. Aber es war Zeit für das Treffen mit dem restlichen Team bei Starbucks. Cath standen noch eine theoretische Dating-Lektion mit Svetlana und eine Karriereberatung mit Miss Marlise bevor. Annie hatte keine Ahnung, wie Cath diese Torturen überstehen sollte.

Doch als Starbucks gerade in Sicht kam und Bob mit endgültig ausgeschalteter Kamera vor ihnen herlief, umklammerte Cath Annies Arm und stieß einen erbärmlichen Jammerlaut aus. »Ich will das Kleid nicht anziehen, Annie! Ich will nicht auf diese Single-Party gehen. Dazu können sie mich nicht zwingen. Nicht im Fernsehen! Was sollen die Leute denken? Tut mir leid, ich kann da nicht hingehen.«