34.

Annie, reisefertig:

Pinkfarbener Seidenrock (Oscar la Renta, Ausverkauf bei The Store)

Weiße Bluse (Gap)

Halterlose Netzstrümpfe in Beige (Pretty Polly)

Wildlederstiefel in Beige (Jimmy Choo, per eBay)

Regenmantel in Beige (Valentino, per eBay)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 420 £

»Du bist alt genug, um es selbst zu wissen.«

Nein! Du wirst doch nicht?! Hat sie tatsächlich?! Und dann?«

Die Nachricht von Elenas Ablieferung war so aufregend, dass Annie die ausführliche Gardinenpredigt, die sie Lana halten wollte, verschieben musste. Und überhaupt, ein einziger Blick in Lanas blasses, zerknirschtes Gesicht, als sie sich zur Haustür hereindrückte, hatte Annie verraten, dass alle Vorhaltungen sich womöglich erübrigten.

»Ich gehe in mein Zimmer und ziehe mich um«, hatte Lana kleinlaut verkündet und es Ed überlassen, die Svetlana-Geschichte zu Ende zu erzählen.

»Harry stürzte davon«, fuhr Ed fort, »ohne ein weiteres Wort … ohne auch nur seine Schuhe zuzubinden! Dann ging Elena ins Haus, und mehr kann ich nicht berichten. Sie hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen!«

»Ach du liebe Zeit, ich muss sie anrufen!« Annie griff nach ihrem Handy, doch Ed legte ihr seine Hand auf den Arm.

»Nein, musst du nicht«, protestierte er. »Lass sie doch einfach in Ruhe! Soll sie ihre Probleme ausnahmsweise mal selbst lösen. Owen!« Die Lache beim Hundekörbchen hatte Eds Aufmerksamkeit auf sich gezogen. »Du hast Dave nicht rausgelassen! Jetzt hat er eine Pfütze gemacht, und du wischst sie auf, mein Junge!« Er fügte hinzu: »Manche Dinge muss man auf die harte Tour lernen.«

»Schschsch!«, mahnte Annie. »Owen hat selbst einiges hinter sich.«

Owen seufzte, erhob sich aber vom Sofa.

»Der Besitz eines Hundes bringt Verantwortung mit sich, mein Freund«, bemerkte Ed und klopfte ihm im Vorübergehen auf die Schulter.

Annie suchte den Blick ihres Partners. Er hatte ihre Tochter aufgespürt, sich über die Bedrohung durch Schlägertypen hinweggesetzt und Lana nach Hause gebracht, er hatte eine der reichsten Frauen in Mayfair aufgesucht und ihr die Meinung gesagt, er delegierte sogar den Hundepfützendienst an ihren Sohn.

Annie war beeindruckt.

All das hätte sie selbst erledigen können. Problemlos. Doch was ihr imponierte, war die Tatsache, dass Ed einfach da war und diese Aufgaben übernahm. Er war ihr ebenbürtig. Vielleicht war er im Augenblick sogar ein bisschen überlegener und zupackender.

Und beeindruckend war auch, dass sie die Machtverhältnisse so untereinander ausbalancierten, indem sie wie zwei Seiltänzer mit Stangen ständig winzige Verlagerungen und Korrekturen vornahmen. Das war zudem überaus sexy.

Annie gefiel es ganz gut, dass Ed in den Augen anderer Leute vielleicht zu nett, zu schmusig und zu schwach erschien, aber in Wirklichkeit einen Kern innerer Stärke besaß. Er war ein aufrechter Mensch. Hundertprozentig. Er würde niemanden je enttäuschen.

»Danke«, sagte Annie, legte ihre Arme um Eds Taille und zog ihn an sich. »Ich glaube, wir sollten heute Abend nicht wegfahren.«

»Nein«, pflichtete er ihr bei.

»Ich muss jetzt nach oben und nach Lana sehen.«

»Ja.«

 

Kaum hatte Annie Lanas Schlafzimmer betreten, war ihr klar, dass ihre Tochter bitter bereute.

Sie saß auf ihrem Bett. Sie hatte ihr Bustier und die Leggings nicht ausgezogen, sondern sich nur eine Decke um die Schultern gelegt, und sie sah verängstigt und traurig aus.

Annies Gardinenpredigt war also überflüssig. Sie musste Lana lediglich in den Arm nehmen und sie eindringlich an die Regeln zum Selbstschutz erinnern. Und das tat sie, ganz sanft.

Tränen quollen aus Lanas Augenwinkeln, als sie zu Annie sagte: »Es tut mir leid, okay? So etwas mache ich nie, nie wieder!«

»Doch, das tust du«, Annie drückte sie an sich und konnte ein Auflachen nicht unterdrücken, »und dann sind wir für dich da. Um dich abzuholen und dir aus der Patsche zu helfen. Aber du solltest in Zukunft lieber die Finger von Zigaretten lassen, oder ich hacke dir die Hände ab!«, warnte sie.

»Danke.« Lana schniefte und barg ihr Gesicht an Annies Schulter. »Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Dad nicht gekommen wäre …«

In dem Moment, als Annie vor Verblüffung über Lanas Versprecher nach Luft schnappte, berichtigte Lana sich auch schon. »Ed, wollte ich sagen«, fügte sie rasch hinzu, und in ihrer Stimme klang ein Schluchzen mit. »Natürlich meinte ich Ed.«

Annie streichelte Lanas Rücken unter der Wolldecke und spürte einen Kloß im Hals.

»Du bist alt genug, um es selbst zu wissen, Schatz …«, begann sie und schluckte verkrampft. »Du bist alt genug, um zu wissen, dass du einen wunderbaren Dad hattest, der dich wie wahnsinnig geliebt hat und es für dich mit jedem aufgenommen hätte … Aber es ist völlig in Ordnung, wenn du Ed jetzt als deinen Dad betrachtest. Er hat es verdient. Und es nimmt deinem richtigen Dad nichts weg – überhaupt nichts.«

Annie spürte jetzt selbst Tränen in den Augen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie sich in Verpflichtungen stürzen, die zu übernehmen sie noch nicht beschlossen hatte. Irgendwo hatte irgendjemand in ihrem Inneren ohne Vorwarnung eine Bremse gelöst.

Urplötzlich war sie sicher, dass sie Ed heiraten und die amtlichen Papiere unterzeichnen würde, die ihn zum legalen Stiefvater ihrer Kinder machten. Vielleicht würde sie ab heute Abend sogar ihr Diaphragma in den Müll werfen, Liebe ohne Netz und doppelten Boden machen und schwanger von Ed werden. Dann würde er endlich das sein, was er sich immer noch ersehnte: ein richtiger Vater.

»Sag ›Dad‹ zu Ed«, flüsterte Annie ihrer Tochter ins Haar, »es wird ihn überglücklich machen.«

In diesem Moment klopfte es an der Tür, und Ed sah ins Zimmer. »Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt.

»Alles klar«, antwortete Annie. »Komm her!«, verlangte sie sanft.

Ed setzte sich auf die Bettkante und legte wie Annie den Arm um Lanas Schultern »Geht’s dir besser?«, erkundigte er sich.

Zu seiner Überraschung schlang Lana beide Arme um seinen Nacken, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schluchzte leise. »Es tut mir leid … danke … Dad.« Zaghaft flüsterte sie das Wort, als wollte sie es ausprobieren. Als wollte sie sich vergewissern, dass es in Ordnung war.

Ed schloss sie beschützend in seine Arme und gab ihr einen Kuss aufs Haar. Als er den Blick zu Annie hob, sah sie, dass seine Augen in Tränen schwammen.

»DINAH! ED! HILFE

Der zärtliche Familienmoment wurde durch lautes Kreischen vom Treppenabsatz her gestört.

»Das ist Mum!«, sagte Annie, sprang auf und stürzte aus dem Zimmer.

Als sie, dicht gefolgt von Ed und Lana, endlich vom Dachgeschoss in den ersten Stock gelangte, waren Dinah und Owen bereits von unten heraufgehastet.

»Er hat meinen Schuh geklaut!« Aufgeregt wies Fern in die Richtung von Eds und Annies Schlafzimmer. »Er ist mit meinem Schuh da reingelaufen!«

»Der Hund?«, fragte Annie. »Wenn dieser Hund sich angewöhnt hat, Schuhe zu fressen, dann …«, ein Blick zu Owen verriet ihr, dass sie die geplante Drohung lieber nicht ausstoßen sollte, »… kriegt er ernste Probleme mit mir!«

»Nein«, beteuerte Owen, »es ist bestimmt sein Kauknochen, kein Schuh! Ich habe ihm eine ganze Packung gekauft. Er mag sie und schleppt sie immer mit sich herum.«

»Stimmt«, bestätigte Lana, die auf Owens und Daves Seite stand.

»Nein, es ist mein Schuh!«, beharrte Fern. Sie lief zur offenen Schlafzimmertür, und alle anderen folgten ihr.

»Für einen Kauknochen sah es wirklich zu groß aus«, bemerkte Dinah.

Dave ist auf mein Bett gesprungen!, dachte Annie empört. Der abscheuliche kleine Köter knurrte, kaute wild und grub seine schmutzigen kleinen Krallen in ekstatischer Aufregung in die seidene Tagesdecke.

»Kusch!«, platzte Annie heraus.

»Also, Dave«, sagte Ed bedeutend freundlicher, als wollte er zu einer ausführlichen Erklärung ansetzen, warum ein Hund nicht Grannys Schuhe oder seine Kauknochen ins Schlafzimmer schleppen dürfe.

Annie nahm das Bett näher ein Augenschein: Es war mit Papierfetzen übersät.

»Was ist das?«, wollte Owen wissen, der näher rückte, um nach dem Hund zu sehen, als Annie gerade feststellte, dass sie das Muster der Papierschnipsel kannte. Es war … Geschenkpapier. Tatsächlich, es war das Papier, in das Ed sein Geschenk für sie eingeschlagen hatte!

Ach … du … LIEBE … Zeit!

Sie sah Ed an.

Fern, Dinah, Lana, Owen: Alle blickten Dave an, rückten ihm auf die Pelle und sahen voller Faszination, was er da mit den Zähnen bearbeitete.

Entsetzt erkannte Annie, worum es sich handelte, aber es war zu spät, um es irgendwie zu verbergen. Alle würden es sehen. Sie warf Ed einen Blick zu und sah, dass ihm die Glut ins Gesicht stieg. Er hatte also auch begriffen.

Daves kräftige Zähne hatten das Gummi bereits aufgerauht, doch das reichte nicht, um die überzogene, aber unverkennbare Form des Gegenstands zu tarnen. Der blöde Köter schaffte es dann auch noch, auf den Schalter zu beißen, so dass das Ding urplötzlich zum Leben erwachte und in seiner Schnauze zu surren und sich zu bewegen begann. Dave knurrte und versuchte, es durch energisches Schütteln zu unterwerfen.

»Leg ab, Dave!«, befahl Ed und stürzte sich auf den Hund, verzweifelt bemüht, ihn als Erster zu fassen zu bekommen. Doch Dave entzog sich seinem Griff, und jetzt packte Owen den Kopf des Hundes und versuchte, seine Kiefer auseinanderzustemmen.

Annie verfolgte, wie ihr zwölfjähriger Sohn wie in Zeitlupe einen großen rosavioletten, genoppten Gummivibrator ergriff und vor den Augen seiner Familie in die Höhe hielt.

»Was ist das?«, fragte er.

»Oh. Meine Güte!«, kam Dinahs verblüffte Reaktion.

»Also … wirklich!«, stieß Fern nach Luft schnappend hervor.

»Das ist ein …«, setzte Lana an und verzog angewidert das Gesicht.

Bevor sie das gefürchtete Wort aussprechen konnte, riss Ed, röter als Rote Bete, Owen den batteriebetriebenen Ständer aus der Hand und brummte: »Schon gut, wir nehmen ihm das weg und …«

Doch er hatte offenbar einen Aussetzer, stand da, das vibrierende Teil in der Hand, seiner Sprache beraubt. Er besaß nicht einmal die Geistesgegenwart, das Ding auszuschalten. Und so surrte und zuckte es munter weiter.

Annie hatte nicht die Absicht, Dinahs Blick einzufangen; sie wandte rein zufällig im selben Moment wie Dinah den Kopf, und irgendwie trafen sich ihre Blicke.

Da gab es kein Zurück; beide Schwestern krümmten sich vor unterdrücktem hysterischen Lachen.

»Das sieht aus wie ein riesiger Barbie-Pimmel«, verkündete Owen.