5.

Finn versucht, cool zu bleiben:

Lederjacke (AllSaints)

Enge Jeans (Nudie)

T-Shirt (Cult)

Converse-Schuhe (Büro)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 470 £

»Juhuu!«

Juhuu, da kommt Annie! Hallo!« Finn sprang auf Annie zu, die wie angewurzelt stand, und küsste sie überschwenglich auf beide Wangen. Er war etwas über vierzig und gab sein Bestes, um jünger und cooler zu wirken. Beides waren offenbar lebenswichtige Eigenschaften in der Welt des Fernsehens. Er trug enge Jeans mit roten Converse-Schuhen und eine abgewetzte Lederjacke, und sein an den Schläfen ergrauendes Haar war jugendlich nach Cäsar-Art geschnitten. Im Finn-Jargon war alles »groovy«, »ausschlaggebend«, »juhuu« oder »sooo angesagt«.

»Willkommen, tritt ein, hallo, Bob … Zeit, dass ihr euch alle kennenlernt!« Finn nahm Annie am Arm und führte sie, obwohl der Raum so kompakt war, herum, um sie dem erstaunlich kleinen Team von Mitarbeitern vorzustellen, das die Show zusammenschustern sollte. Finn war Produzent und Direktor, wie er eilig klarstellte. Dann gab es da noch Nikki, seine Assistentin und rechte Hand. Zum Glück war Nikki auch gut in der Maske. Bob war für »Beleuchtung, Kamera und Action« verantwortlich.

»Einen Tontechniker gibt es wohl nicht?«, fragte Bob ein wenig unverblümt.

»Ähm … ich hoffe, du schaffst das«, gab Finn kleinlaut zu. »Das Budget schrumpft immer mehr zusammen … Annie, Svetlana kennst du natürlich.«

Svetlana erhob sich und unterzog Annie dem ukrainischen Ritual der vielfachen Wangenküsschen, dann steuerte Finn mit ihr auf das angsteinflößende Mädchen in Hosen zu. »Darf ich dich mit Miss Marlise bekannt machen?«

Annie vermutete, dass das »Miss« auf die strenge lehrerinnenhafte Fassade zurückzuführen war, die sie sich für ihr Fernseh-Ich zugelegt hatte. Sie sah nicht viel älter als 25 aus, doch mit ihrem kurzen ebenholzschwarzen Bob, dem blassen Teint, dem roten Lippenstift und der strengen Kleidung wirkte sie im Grunde wie eine Domina, die gern die Peitsche schwang.

Marlise streckte eine Hand aus und lächelte sparsam. »Schön, dich kennenzulernen«, sagte sie knapp und schneidig.

»Hi.« Annie schüttelte ihr lächelnd die Hand. »Ich habe schon viel Gutes über dich gehört.« Was nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. Im Auto hatte Bob vielmehr die Augen verdreht, als die Sprache auf Miss Marlise kam, und verkündet: »So viel ich weiß, bedeutet sie Ärger.« Doch hier, am Tag eins ihrer Fernsehkarriere, wollte Annie eitel Sonnenschein verbreiten.

»Tut mir leid wegen der Hosen«, fügte sie hinzu, »niemand hat mir gesagt …«

Marlises verkrampftes Lächeln blieb, und sie nickte knapp.

»Gut!« Finn schlug einen großen schwarzen Aktenordner auf. »Wir haben viel zu besprechen. Ich erkläre euch das Format jeder halbstündigen Sendung, dann legen wir den Drehplan fest. Darsteller bitte links von mir, Mädchen«, wies er an, »Personal rechts!«

Ein Stühlescharren und Gewimmel setzte ein, dann begann er eilig, ihnen das Format der Show zu erläutern.

»Miss Marlise ist unsere Vorstellerin, unsere Showmasterin sozusagen«, setzte Finn an. »Sie ist vielleicht jung und hinreißend, aber trotzdem schon Veteranin. Sie hat bereits zwei Solo-Shows präsentiert und hatte freilich auch ihren ersten Fernsehauftritt in Der Lehrling.«

Miss Marlise schenkte den Anwesenden ein eingeübtes Lächeln.

»Sie wird uns durch das Heim der Opfer führen, uns ein bisschen aus deren Leben berichten, uns einen verlockenden Blick in die Schlafzimmer und Garderobenschränke gewähren, und dann schließlich lernen wir unser Opfer kennen, und der Spaß kann beginnen.«

»Opfer?« Annie pflegte ihre Zielpersonen in den Umkleidekabinen als Klientinnen zu bezeichnen. Das Wort »Opfer« gefiel ihr nicht recht. Hatte Finn es als Spaß gemeint?

»Betrachtet Marlise als Lehrerin in Sachen Leben. Sie ist da, um diesen Frauen zu sagen, wie sie wieder auf die Beine und auf einen grünen Zweig kommen. Sie sind am Ende, stecken im alten Trott fest, und wir sind da, damit es ihnen bessergeht«, fuhr Finn fort.

»Muss unsere phantastische Svetlana vorgestellt werden? Ich glaube nicht!«, schwärmte Finn. »Sie war in den Schlagzeilen, im OK!-Magazin, sie ist die gasverschlingende Scheidungswitwe mit der höchsten Abfindung aller Zeiten!«

»Nein, nein, Heather McCartney hat eine höhere«, scherzte Svetlana.

»Svetlana hatte drei erstaunlich reiche Ehemänner und heiratet bald den vierten. Nur zu, Mädchen! Sie ist ganz offensichtlich unser Date-Doctor. Sie verrät uns allen ihre Geheimnisse, wie man einen echten Treffer landet und ausschlachtet.«

Svetlana ließ ihr bezauberndes Lächeln auf die Anwesenden los.

»Annie Valentine kommt von The Store zu uns …«

Als Finn nun Annie in den Vordergrund stellte, spürte sie, wie ihr die Glut in die Wangen stieg. Dass jemand Reden über sie hielt, war sie nicht unbedingt gewohnt.

»Also, was Annie nicht über Shopping und eine hinreißend modische Erscheinung weiß, lohnt sich nicht zu wissen. Tut mir leid, dass du wegen der Hosen nicht informiert warst, meine Liebe!«, fügte er hinzu. »Aber wir wollen, dass Marlise in ihren Lederjeans Anweisungen brüllt, und hatten uns für dich einen weicheren, eher schicken Look vorgestellt.«

»Kein Problem«, erklärte Annie sich rasch einverstanden und wünschte sich, Finn hätte für diese Rüge einen intimeren Moment gewählt. Nikki wie auch Marlise sahen sie anscheinend böse an. Sie fragte sich, ob sie sie für hübsch und schick genug für diesen Job hielten. Nikki mit ihren tizianroten Ringellocken und ihrem modisch-schicken Outfit war zu cool, um wahr zu sein. Sah sie Annie an und dachte bei sich: »Ha! Ich könnte deinen Job so viel besser machen!«?

Annie wischte diesen Gedanken beiseite und hielt sich an ihrem tröstlichen Stückchen Miu-Miu-Handgepäck fest.

»So. Miss Marlise und ich hatten schon ein paar Proben zu einem ihrer Intros, und um euch einen kleinen Vorgeschmack zu geben … Leg los, Mädchen!«

Miss Marlise schritt langsam und bedächtig zur Mitte des Raums. Sie stellte sich in Positur, die Füße fest auf dem Boden, die Hände in den Hüften und leicht vorgebeugt, als wollte sie ein Geheimnis verraten.

»Ich befinde mich in einer ruhigen Straße in Hackney, im Norden von London«, begann Marlise. »Sehen Sie sich dieses scheußliche kleine Haus in meinem Rücken an. Netzgardinen und Puppen vor den Fenstern. Sogar ein, zwei Gartenzwerge auf dem Rasen.« Sie legte eine theatralische Pause ein. »Jetzt sind wir im Schlafzimmer. Hier hat sich seit Monaten nichts Romantisches mehr abgespielt, spüren Sie das? Blümchentapete, Blümchen-Bettwäsche, zwei Kuscheltiere und überall betuliche kleine Zierdeckchen.

Diese Kleider gefallen mir auch nicht.« Marlise gab vor, eine Schranktür zu öffnen und mit spitzen Fingern etwas herauszunehmen. »Sehen Sie sich das an! Einfach grauenhaft! Wir sind uns wohl alle einig, dass die Person, die hier lebt, Hilfe braucht.«

Jetzt wurde Marlise lebhaft: Sie wedelte mit einer Hand und drehte sich in der Hüfte. »Hilfe ist bereits auf dem Weg. Christine Thayer, heute ist dein absoluter Glückstag, denn du begegnest – den Wonder Women!«

»Juhuu!«, schrie Finn, und alle applaudierten begeistert.

Annie klatschte ebenfalls, obwohl sie ein bisschen betroffen war. Wollte Miss Marlise wirklich so gemein auftreten?

»Genial, Marlise, wirklich ausgezeichnet! Böses Mädchen!«, setzte Finn hinzu. »Wartet nur ab, Kinder, bis ihr ein paar von den Mastschweinen und hoffnungslosen Fällen gesehen habt, die wir für euch ausgesucht haben! Junge, Junge, ihr steht vor einer echten Herausforderung!«

Mastschweine und hoffnungslose Fälle? Annie sah verstohlen zu Svetlana hinüber, um ihre Reaktion einzuschätzen. Das unergründliche ukrainische Gesicht blieb ausdruckslos, und Svetlana mied Annies Blick.

Annie war leicht schockiert. Jahrelange Erfahrung mit dem Einkleiden von Frauen hatte sie gelehrt, dass Menschen in einen Trott geraten, dass sie aus komplizierten Gründen nicht das Beste aus ihrem Äußeren machen und mit behutsamer Fürsorge ins Leben zurückgelockt werden mussten. Manchmal kam sie sich vor wie eine Art Kleidungspsychologin, die Körper- und Persönlichkeitsprobleme Schicht um Schicht freilegt, bis sie zu den Wurzeln vordringt und den Frauen helfen kann, ihre Garderobe und ihr Selbstbewusstsein langsam neu aufzubauen.

Aber das hier war das Fernsehen, erinnerte sie sich. Jede Frau sollte in einer halbstündigen Episode abgehandelt werden, also was konnte sie da ehrlich erwarten? Lange, liebevolle Plauderstündchen, um die Frauen über Wochen hinweg langsam voranzubringen?

Jetzt erläuterte Finn, wie er sich jede einzelne Sendung vorstellte: Unsichere, schmuddelige Frauen von wer weiß wo sollten – Simsalabim! – im Handumdrehen verwandelt werden.

»Wir muntern sie auf, wir werfen sie in Schale, und dann – so stellen wir uns das vor – nehmen wir sie zu einer Party mit, wo sie Männer kennenlernen«, verkündete er.

Du liebe Zeit! Er wollte kein Umstyling, er wollte eine gute Fee, die ihren Zauberstab schwang. Annie trank einen großen Schluck von dem schwarzen Kaffee, den man ihr in die Hand gedrückt hatte. Komm schon! Sie fing sich wieder. Sie war dieser Sache gewachsen, oder? Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, wären zahllose andere Einkaufsexpertinnen zur Stelle, die nur zu gern für sie einspringen würden, womöglich sogar ohne Honorar. Die vermutlich sogar Finn bezahlen würden, damit er sie nahm. So war es beim Fernsehen! Hunderte, Tausende von Menschen würden Annie bei der Arbeit sehen … Das musste doch Unglaubliches nach sich ziehen. Sie musste ihre Chance ergreifen und das Beste daraus machen. Und sie glaubte fest daran, dass es keiner einzigen schlechtgekleideten Frau auf der Welt nach einer Sitzung mit ihr nicht wenigstens etwas besserginge.

Aber dennoch … sie auszuführen, um Männer zu treffen? Und wenn die Frauen keine Männer kennenlernen wollten? Wenn es auf diesen Partys keine vernünftigen Männer gab? Wenn die Betreffenden den Männern nicht gefielen? Wie Annie sich aus ihren Tagen als alleinerziehende Mutter zweier Kinder erinnerte, kam die Partnersuche einem Spaziergang über ein Minenfeld gleich.

»Wie ihr alle wisst, ist das Budget niedrig«, sagte Finn jetzt. Mit einem Blick in Annies Richtung fügte er hinzu: »Für Outfits und Frisuren … bewegt es sich um zweihundert, vielleicht zweihundertundfünfzig Pfund.« Als Annie die Brauen hochzog, schob er hastig nach: »Ich hoffe, ihr könnt die Frauen überreden, uns ein bisschen entgegenzukommen und ein paar Sachen aus eigener Tasche zu bezahlen.«

Zweihundertundfünfzig Pfund! In ihrem Beruf, täglich umgeben von Designer-Labels, war Annie zu der Überzeugung gekommen, dass 250 £ beinahe für ein hübsches Paar Schuhe reichten!

Svetlana blickte in ihre Richtung, und nun malte sich auch auf ihrem Gesicht der Schock ab.

Unbeirrt fuhr Finn fort: »Die Frauen, die ihr umstylen sollt … Sicher könnt ihr kaum erwarten zu erfahren, wer diese reizenden Mädchen sind und wo wir sie gefunden haben. Nun, wir haben einen Wettbewerb im Radio veranstaltet und die Leute aufgefordert, sich zu melden oder eine Freundin vorzuschlagen. Und wir haben ein paar Mordsdinger parat, das könnt ihr mir glauben!«

Er zog einen braunen Umschlag aus seinem Aktenordner und entnahm ihm ein paar große Glanzfotos.

»Diese reizenden Damen leben im ganzen Land verstreut. Ein bisschen Reisetätigkeit wird nötig, um sie in ihrer natürlichen Umgebung anzutreffen. Vielleicht richten wir einen Wonder-Women-Bus ein, bringen ein bisschen Aufregung ins Spiel.«

Wieder verzog Annie das Gesicht. »Um sie in ihrer natürlichen Umgebung anzutreffen«? Finn verglich die Frauen mit wild lebenden Tieren!

Er hob die Fotos in die Höhe, damit alle sie sehen konnten. Es handelte sich um Ganzaufnahmen, und sie waren nicht gerade schmeichelhaft. Annie registrierte schlechte Haarschnitte, schwarze Hosen, ausgebeulte Hemdchen und fleischige Oberarme. Uärgs, riesige Ohrgehänge, schlechtgetöntes Haar, Sandalen mit Strumpfhosen. Die allerschlimmsten Verbrechen gegen die Mode schienen auf die Kappe dieser Gruppe zu gehen. Dennoch machte Annie sich unwillkürlich im Geiste Notizen: Für diese Figur muss es etwas länger sein, für jene eine leuchtendere Farbe, hier ein Kleid auf Taille, weil diese Arme eigentlich schön sind …

Plötzlich fing sie an, sich so gut zu fühlen wie den ganzen Tag noch nicht, denn sie wusste, dass sie prima zurechtkommen würde. Zwar ging es um Fernsehen, nicht um das wirkliche Leben, und sie musste ihre Arbeit in ungefähr einem Zehntel der gewohnten Zeit und mit einem Bruchteil des üblichen Budgets erledigen, aber immerhin würde sie das tun, was sie liebte. Und daraus würde etwas Großartiges entstehen. Sie wusste es!

In diesem Augenblick wandte Miss Marlise sich ihr zu und fragte mit tiefer klarer Stimme, laut genug, dass alle im Raum sie hören konnten: »Aber du bist keine Moderatorin, Annie, oder? Du bist doch die Garderobiere. Solltest du nicht drüben beim Personal stehen?«